“Schmutzig und respektlos”: Kramnik teilt gegen Keymer aus

Beschämend”, “schmutzig”, “moralisch verwerflich”, “respektlos”, “undenkbar”, und diese Reihe ließe sich noch fortsetzen. Vladimir Kramnik hat beim Schach verloren. Eigentlich weiß jedes Kind, dass wer beim Schach verliert, sich an die eigene Nase fassen sollte. Kramnik weiß das nicht.

Jetzt teilt er öffentlich gegen denjenigen aus, der ihn besiegt hat: Vincent Keymer. Der 17-Jährige hat den Exweltmeister über die Zeit gezogen. Kramnik empfindet diese Art des Gewinnens als Ausdruck moralischer und kultureller Verkommenheit.

Wie es passierte im Video: Kramnik war zu langsam, findet aber, dass Keymer von sich aus hätte aufgeben sollen. Als 17-Jähriger einen Exweltmeister über die Zeit ziehen? Das findet Kramnik mindestens ungehörig.

Die Regeln einer Zehn-Minuten-Partie gehen so: Jeder Spieler hat zehn Minuten Bedenkzeit. Wer die Bedenkzeit überschreitet, der verliert auf Zeit. Vladimir Kramnik als Gigant des Schachs und einstigem Weltmeister sind solche einfachen Regeln natürlich bekannt. Allerdings kommt er deswegen noch lange nicht zu dem einfachen Schluss, dass die Zeit Teil des Spiels ist und der überlegene Umgang damit eine Qualität, die Partien entscheiden kann.

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Stattdessen sieht Kramnik höhere Werte, die nach seiner Einschätzung greifen, sobald ein Exweltmeister und älterer Spieler am Brett sitzt. So jemanden über die Zeit ziehen? “Beschämend”. “Schmutzig.”

Direkt nach der Partie, der letzten im samstäglichen GM-Schnellturnier auf chess.com, schrieb Kramnik dieses in sein Profil:

Bild
“Dekadent”. “Schande”. “Moralisch verwerflich”. Ist klar, Vladimir.

,Anstatt den Blödsinn zu löschen, nachdem der Ärger abgekühlt war, legte Kramnik einige Stunden später nach. Jetzt füllt ein ganzes Essay mit viel zu großen, moralisierenden Worten sein Profil. Ein Auszug (übersetzt, teils sinngemäß):

…Ich war unangenehm überrascht von der allgemeinen Einstellung, in toter Remis- oder Verluststellung auf Zeit zu spielen. Ich verstehe, dass die Regeln dies zulassen, aber meiner altmodischen Meinung nach gibt es moralische Werte, die noch wichtiger sein sollten als offizielle Werte: Respekt gegenüber Schach, gegenüber dem Gegner und Würde sind noch wertvoller. Ich fühle mich einfach unwohl bei der Erkenntnis, dass sich die Welt des Schachs erheblich verändert hat, dass ein beschämendes und schmutziges Spiel zu einer “neuen Normalität” werden sollte. Zweifellos wird mit solch einer “einfachen” Einstellung auch Betrug moralisch akzeptiert werden, nur eine Frage der Zeit...

Vladimir Kramnik

Kramnik kommt auch Stunden später nicht darauf, dass er mit solchen Ausführungen das repräsentiert, was er anderen vorwirft: Respektlosigkeit gegenüber dem Spiel, das gespielt wurde (Zehn-Minuten-Schach), und den Gegnern, die darin besser sind als er.

Zur Unreflektiertheit seiner Einlassungen kommt die Frechheit, Keymer und andere Gegenspieler, Repräsentanten der “neuen Normalität”, als potenzielle Betrüger zu brandmarken. Das ist offensichtlich absurd, außerdem beschämend, inakzeptabel, schmutzig und respektlos. Wer sich ein wenig mit Vincent Keymers Werdegang beschäftigt, der weiß, dass gerade ihm das Thema Betrug im Schach besonders am Herzen liegt. Keymer hat sich dazu mehrfach eingelassen.

In der “Kader-Show” des DSB sollte sich jeder Spieler ein Thema aussuchen, das ihm besonders am Herzen liegt. Vincent Keymer wählte “Cheating”.

Kramnik ist mit den oben zitierten Ausführungen noch lange nicht fertig. Seine Essay setzt sich in diesem Stil fort, es geht um Moral und Kultur, Fairplay und die verkommene neue Generation. Nicht erstaunlich wäre, würde er sich in der nächsten Ausgabe der “Schach” mit einem noch ausufernderen Gastbeitrag bei den Autoren einreihen, die sich in hochtrabenden Worten darüber auslassen, wie schrecklich das heute alles ist und wie viel besser es früher war.

Zeit, noch mehr große Worte aneinanderzureihen, hätte Kramnik heute. Beim Zehn-Minuten-Schach auf chess.com ist er ausgeschieden. Seine Niederlage gegen Keymer in der letzten Runde ließ ihn auf Platz zwölf zurückfallen.

Keymer ist weiter. Die besten acht spielen heute ab 18 Uhr. ein Knockout-Finale um den Turniersieg.

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Kommentator
Kommentator
2 Jahre zuvor

Ist der Kramnik zufällig verwandt mit dem Vladimir Kramnik, der vor 20 Jahren Peter Leko im Remisendspiel (schmutzig und respektlos?) über die Zeit gezogen hat?
https://www.chessgames.com/perl/chessgame?gid=1266469

AngryApe
AngryApe
2 Jahre zuvor

Hach ich mag eigentlich den Vladimir. Und ich denke man kann kontrovers darüber diskutieren inwieweit der Sieg von Vincent noch mit der Kunst des Schachs zu tun hat. Mit 4 Sekunden auf der Uhr einfach pre-moves aneinanderzureihen, gekrönt von dem Turmopfer….

Ich verstehe Kramniks Frust. Auch dass er an dem Format nicht mehr teilnehmen möchte. Aber ich bin bei dir. Die Spieler und damit indirekt auch Vincent anzugehen, ist nicht in Ordnung. Schade. Das darf meiner Meinung nach weder eine “famous f***ing legend“ (um mal auf einen ähnlichen Fall zu verweisen) noch Kramnik.

Hans
Hans
2 Jahre zuvor

@CaptainF “Es ist schlichtweg ein Zug, um mit selbst 1 Sekunde auf der Uhr, den Gegner ein unerwartetes Schach zu geben, um damit dessen sicherlich anders geplanten Pre-Move zuvorzukommen und Kramnik der letzte(n) Sekunde(n) zu berauben. Man muss es einfach sagen: das hat nichts mehr mit Sportlichkeit zu tun. Das ist Kinderkram.” Genau das sieht eine Generation, die mit ultraschnellem Online-Schach groß wird, wahrscheinlich ganz anders. Premove-Tricks (also z.B im rechten Moment einen absurden Zug spielen, weil man annimmt, dass der Premove des Gegners darauf nicht vorbereitet ist) gehören bei diesem Format zum 1×1-Handwerkszeug, das man kennen sollte. Genauso wie… Weiterlesen »

CaptainF
CaptainF
2 Jahre zuvor

Es sollte beim Bericht nicht nur einfach auf die ausfallenden Worte eingegangen werden, und lediglich als Link das Youtube Video angegeben werden, sondern auch auf welche Art Vincent Keymer hier agiert hat. Jeder kann dies werten wie er will. Es entspricht den Regeln des Turniers, an denen die beiden Kontrahenten teilgenommen haben. Schnelles Pre-Move gehört dabei dazu. Ganz anders sieht es mit Vincent Keymers letzten Zug aus. Es wäre beschämend, diesen Zug als “Turmopfer” zu bezeichnen, wie es AngryApe getan hat. Es ist schlichtweg ein Zug, um mit selbst 1 Sekunde auf der Uhr, den Gegner ein unerwartetes Schach zu… Weiterlesen »

Ilja Rosmann
Ilja Rosmann
2 Jahre zuvor

Kramnik hat im Telefongespräch mit Levitovchess erläutert, was er meinte: früher gab es eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass man so etwas (einen deutlich besseren bzw. “verdienten” Spieler in einer absolut aussichloser Stellung über die Zeit heben) einfach nicht macht, und schon gar nicht bei einem Spass-Turnier, bei dem es nur um 1.000 EUR geht. Seine Verbitterkeit war übrigens auch gegen Andrejkin gerichtet. Jedem Kollegen seiner Generation wäre es peinlich gewesen, so eine Show abzuziehen. Ihm ist schon bewusst, dass die Zeit im Schach dazu gehört und dass die heutige Generation auf solche Sentimentalitäten keine Rücksicht nimmt. Formal hat Vincent nichts… Weiterlesen »

Neandertaler
Neandertaler
2 Jahre zuvor

Ich finde, Kramnik vergreift sich im Ton und wird auch spätestens mit dem Verweis auf Betrug grob unsachlich.

Dass ich Keymers Sieg als wenig sportlich und den Schach dienlich empfinde, kann ich aber auch nicht leugnen.

Peter Schneider
Peter Schneider
2 Jahre zuvor

Beide Spieler haben sich an die Regeln gehalten. Einer hat auf Zeit gewonnen. Das kommt täglich zehntausende Male vor.

Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Daß Kramnik es dennoch tut, und sich damit als äußerst schlechter Verlierer erweist, beschädigt seinen Ruhm ein wenig.

Wenigstens zieht er die richtigen Konsequenzen: wenn einem die Regeln nicht gefallen, dann spielt man halt nicht mehr mit.

Last edited 2 Jahre zuvor by Peter Schneider
Nico
Nico
2 Jahre zuvor

Und um genau dieser fragwürdigen Praxis entgegenzuwirken, sollten Blitzturniere nur mit Zeitinkrement gespielt werden. Dann passiert auch kein solches unwürdiges Über-die-Zeit-Geschiebe!

Chris
Chris
2 Jahre zuvor

Ich kann hier Kramnik verstehen, wobei so eine Diskussion nach einer Niederlage und indem Ton nicht gut rüberkommt.

Ich bin auch der Meinung, dass es dies durchaus auch schon früher gab – das die Uhr gemolken wurde für einen Sieg und nicht die neue Generation verkommen ist … Aber es gibt heute und auch früher Leute die hier nicht versucht hätten auf Zeit zu spielen.

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[…] “Schmutzig und respektlos”: Kramnik teilt gegen Keymer ausAls vor zwei Jahren unter anderem Vincent Keymer ihn über die Zeit zog, wurde Vladimir Kramnik in Sachen Onlineschach erstmals auffällig. Fortan füllten ausufernde Aufsätze sein Profil, bis ihm chess.com den Stecker zog. […]

Karsten Schulz
Karsten Schulz
1 Jahr zuvor

Im Alter macht es keinen Sinn Blitz oder Schnellschach zu spielen.
Man zieht auf Grund der Jahrzehnte langen Erfahrung langsamer, da man alles was man kennt zu rate zieht. Deswegen ab 50 nix mehr schnellschach!

Gilbert
Gilbert
2 Jahre zuvor

Er spielt ein Rapid Game, er verliert auf Zeit, so what !? ‘Nough said.
Gekränkter Ex-Weltmeister Stolz, wer nicht verlieren kann soll’s halt einfach lassen. Er war früher als er jung war mal ganz cool, aber später haben mich seine After Game Analysen / Interviews genervt, er stand IMMER besser o. fast auf Gewinn, auch wenn er später verloren hat.

cyronix
cyronix
2 Jahre zuvor

10 Minuten Schach ohne Inkrement ist m. E. eher Blitz als Schnellschach zuzordnen. Da braucht man auch nichts zu erwarten, da sind halt unkreative Spieler, die nur solide und langweilig spielen können klar im Vorteil – die klauben dann typischerweise ihre Punkte zusammen, indem sie ihre Partien mit Minusdame auf Zeit gewinnen, und denken dann von sich, dass sie die besseren Schachspieler sind.

Roland Schmitt
Roland Schmitt
2 Jahre zuvor

Kramniks Statement als “Blödsinn” hinzustellen, ist natürlich unsachlich und einfach nur niveaulos. Sicher, die Bitterkeit seiner Niederlage lässt sich leicht herauslesen. Doch er beschreibt hier “nur” eine Zäsur, wenn man so will eine “Zeitenwende” auch im Schach. Damit liegt er nicht so ganz falsch.