Am Scheideweg

Einen Tag nach der Entscheidung, die Schacholympiade 2022 nicht in Moskau auszurichten, hat sich die All India Chess Federation (AICF) um die Ausrichtung in Indien beworben. Die Verantwortlichen sind laut einem Bericht von ChessBase India optimistisch, die Kosten von knapp 10 Millionen Dollar schultern zu können. Zwei noch nicht benannte Städte hätten bereits Interesse bekundet, Gastgeber zu sein.

Ob Indien den Zuschlag bekommt, liegt jetzt an der FIDE. Pikant an dieser neuen Konstellation ist das enge Verhältnis zwischen Indien und Putin-Russland, dessen Schachverband die FIDE die Schacholympiade entzogen hat: Indien ist zweitgrößter Waffenimporteur der Welt, Russland ist Indiens wichtigster Lieferant. Am Freitag im UN-Sicherheitsrat war Indien (neben China und den Vereinigten Arabischen Emiraten) eines von drei Ländern, die sich bei einer Abstimmung über eine Resolution gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine enthalten haben.

„Es war schon immer mein Traum, dass das größte Spektakel der Schachwelt nach Indien kommt“, sagte AICF-Geschäftsführer Bharat Singh Chauhan auf Anfrage von ChessBase India. Die AICF sei zuversichtlich, so eine Veranstaltung organisieren zu können: „Indische Großstädte sind gut ausgestattet. Wir bräuchten ungefähr 1500 bis 2000 Hotelzimmer, um all die Menschen aus verschiedenen Ländern unterzubringen.“ Außerdem sei Indien ein schachliebendes Land mit einem großen Interesse am Schachsport.

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AICF-Geschäftsführer Bharat Singh Chauhan mit Arkady Dvorkovich beim Delhi Open 2019. | via ChessBase India

Neben der Schacholympiade sollen zwei weitere in Russland geplante Veranstaltungen verlegt werden: die erste Schacholympiade für Menschen mit Behinderungen, geplant in Khanty-Mansiysk, und der 93. FIDE-Kongress, bei dem in diesem Jahr ein FIDE-Präsident gewählt werden muss. Die Amtszeit des im September 2018 in Batumi (Georgien) gewählten Arkady Dvorkovich endet nach vier Jahren.

Trotz der recht schnellen Entscheidung, die Leuchtturmveranstaltung des Weltschachs aus Moskau abzuziehen, stehen die FIDE und ihr Präsident nach nichtssagenden Verlautbarungen zur Sache unverändert in der Kritik, Dvorkovich sieht sich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert – eine Folge davon, dass der Weltverband zwar die Schacholympiade Moskau abgesagt, dazu aber keine Begründung veröffentlicht hat. Die Geschehnisse in der Ukraine finden in FIDE-Mitteilungen weiterhin nicht statt.

Wie umstritten die Absage an Moskau intern gewesen sein muss, hat jetzt Vizepräsident Nigel Short durchblicken lassen:

Von “null Unterstützung” zu “Absage” binnen zwei Tagen.

Weiterhin gilt, dass unklar ist, wie Arkady Dvorkovich zum Einmarsch in die Ukraine steht, den sein einstiger Chef Vladimir Putin befohlen hat. Sein Schweigen hat Dvorkovich zwar gebrochen, als ihn jetzt die russische Nachrichtenagentur TASS bat, die Entscheidung zu erläutern, aber er blieb so vage wie möglich. „Den Teilnehmern wäre es nicht möglich gewesen, nach Moskau zu reisen“, war im Wesentlichen die Aussage Dvorkovichs, der außerdem deutlich machte, die Entscheidung sei nicht allein seine, sondern eine gemeinschaftliche gewesen.

Die innere Zerrissenheit der FIDE-Führungsriege über dem Krieg machte FIDE-Geschäftsführerin Dana Reizniece-Ozola auf Facebook deutlich. Anders als ihr Präsident war sie alles andere als vage. Die Lettin nannte die Ereignisse in der Ukraine einen „brutalen Überfall“. Das ukrainische Volk sei Opfer eines „bösartigen Machtspiels“.

Ob sich wirklich in kontinentalen und nationalen Verbänden eine Opposition findet, die im Sinne des ukrainischen Appells an die Schachgemeinschaft vor dem FIDE-Kongress einen neuen Präsidentschaftskandidaten mit einem neuen Kurs in Stellung bringt, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist die Kritik am russischen Einfluss innerhalb der FIDE laut und vernehmbar, aber sie stammt ausschließlich von Spielern, Trainern und Beobachtern. Innerhalb des Apparats wird der von chess24 diagnostizierte „Druck auf die FIDE“ wahrscheinlich kaum wahrgenommen. Es meldet sich ja niemand mit Gewicht zu Wort.

Stattdessen zwei notorische Lautsprecher des internationalen Schachs: Aus der Funktionärsgilde öffentlich die Stimme erhoben haben bislang nur der Bulgare Silvio Danailov, einstiger Topalov-Manager, und der Türke Ali Nihat Yazici, einstiger Präsident des türkischen Verbands, Funktionäre von gestern, die vor zwölf Jahren um die Präsidentschaft der europäischen Verbands ECU konkurriert haben. Diese beiden hatten schon im erbitterten FIDE-Wahlkampf 2018 auf Seiten des Amtsinhabers Georgios Makropoulos einen derart schäbigen Anti-Dvorkovich-Ton angeschlagen, dass in erster Linie Zweifel an ihrer eigenen Zivilisiertheit aufkamen. Jetzt sind Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Meinungsäußerungen angebracht. Mehr als um die Sache mag es ihnen darum gehen, alte Rechnungen zu begleichen.

Abseits dieser beiden einzelnen Stimmen ist kein Verband weltweit dem dringenden Appell des ukrainischen Verbands und seiner Kaderspieler:innen gefolgt, in Sachen russischer Einmarsch und russische FIDE-Dominanz klar Stellung zu beziehen. Sogar zur Selbstverständlichkeit, die Invasion offen zu verurteilen, haben sich einzig der europäische, der deutsche und der US-Verband durchgerungen.

Zur FIDE und ihrer fehlenden Positionsbestimmung halten sich alle Verbände und ihre Vertreter bedeckt, ebenso in Sachen eines möglichen generellen Ausschluss‘ russischer Sportler aus internationalen Wettbewerben, wie ihn jetzt der Verein deutscher Athleten gefordert hat – im Gegensatz zum Deutschen Olympischen Sportbund, dem der Schachbund angeschlossen ist. Oder im Gegensatz zum Judo-Weltverband, der Vladimir Putin jetzt die Ehrenpräsidentschaft entzogen hat.

Die FIDE-Chefetage erörtert am heutigen Sonntag in einer Dringlichkeitssitzung die Lage. Zu erwarten ist, dass es kontrovers zugeht. Geschäftsführerin Reizniece-Ozola etwa fordert, die FIDE-Büros in Russland zu schließen und die Beziehungen des Weltverbands zu allen russischen Sponsoren auf den Prüfstand zu stellen (…“sich von russischen Sponsoren zu trennen“, haben gar deutsche Medien gemeldet, aber das deckt sich nicht mit Reizniece-Ozolas Einlassung, siehe oben). Generalsekretär Emil Sutovsky ist derweil bemüht, den Einfluss russischer Sponsoren auf die FIDE zu relativieren:

Wird die FIDE weiter Geld von russischen Sponsoren annehmen? Falls nicht, würde ihr, wie von den Ukrainern angekündigt, nach dem moralischen der finanzielle Bankrott drohen? Und nicht zuletzt, sondern zuvorderst: Wo und an wessen Seite steht Arkady Dvorkovich? Wird er 2022 erneut als FIDE Präsident kandidieren?

Vielleicht gibt es in der kommenden Woche Antworten. Der Journalist Stefan Löffler ahnt eine Tendenz voraus: “Ärmer, aber gelöst vom russischen Imperium.”

Der unmittelbare Turnierbetrieb geht derweil weiter. Anfang der Woche beginn in Belgrad die zweite Grand-Prix-Etappe – dem Anschein nach mit allen fünf Russen, die dafür vorgesehen sind. Daran anschließen wird sich die dritte und finale Grand-Prix-Etappe in Berlin, auch dort sollen fünf Russen spielen: Vitiugov, Dubov, Andreikin, Oparin, Predke.

Bild
Fünf Russen: Das voraussichtliche Feld der zweiten Grand-Prix-Etappe.

Selbst wenn die Visum-Erteilung für Russen nicht ausgesetzt wird: Wie sollen sie nach Berlin kommen? Die meisten europäischen Staaten, darunter Deutschland, haben ihren Luftraum für russische Maschinen gesperrt.

In der Ukraine haben sich unterdessen eine Reihe prominenter Sportler dem bewaffneten Widerstand gegen die russischen Streitkräfte angeschlossen, darunter der Kapitän der ukrainischen Schach-Nationalmannschaft, die im vergangenen Jahr die Europameisterschaft gewonnen hat:

Als Kapitän war Oleksandr Sulypa Teil der ukrainischen Mannschaft, die 2021 den Mannschaftseuropameistertitel gewonnen hat. Jetzt ist er Teil der bewaffneten Kräfte, die ihr Land verteidigen. | via chess-news.ru

“Ich verteidige mein Land vor Feinden und so genannten Friedenstruppen”, sagt Oleksandr Sulypa laut chess-news.ru: “Die Wahrheit wird siegen!”

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Gerhard Schreiber
Gerhard Schreiber
2 Jahre zuvor

Grundsätzlich finde ich es richtig, wenn sich der Sport als völkerverbindendes Element komplett aus der Politik herausholt. Leider scheint dies erneut nicht zu gelingen. Daher sollte sich die Fide bei dem jetzigen Angriff Russlands ebenso verhalten, wie damals beim Angriff der USA auf den Irak im Jahre 2003. Der Irakkrieg hat Hunderttausende Opfer gefordert, darunter viele Frauen und Kinder. Aufgrund der Verwendung von Munition aus abgericheren Uran kommen auch heute noch grauenhsft missgebildete Kinder zur Welt und auch die Zahl der Todgeburten ist in den mit Uranmunition kontaminierten Gebieten noch stark erhöht.

Ingo Althöfer
Ingo Althöfer
2 Jahre zuvor

Danke für den vielseitigen Informations-Cocktail!

Julius
Julius
2 Jahre zuvor

Was waren eigentlich die Konsequenzen nach dem Irak Krieg ?

Silvio
Silvio
2 Jahre zuvor

Danke für die wieder sehr detaillierten Informationen der Perlen zum Geschehen in der FIDE. Allerdings halte ich das Geschehen innerhalb des Verbandes eher für ein Insider-Thema der Schachspieler weltweit – gleich wie es mit dem Präsidenten und seiner engagierten, klar positionierten Geschäftsführerin aus Lettland weitergeht. Und die Schacholympiade ist noch relativ weit weg. Hingegen würde der Ausschluss der fünf Russen jetzt aus dem Grand Prix Turnier in Belgrad wirklich öffentlichkeitswirksam nicht nur in Russland wahrgenommen werden (vgl. auch die Meldungen um Karjakin und sein unsägliches Verhalten). Der Ausschluss der fünf ist m.E. das einzig konsequente Zeichen, dass auch das internationale… Weiterlesen »