Den spanischen Priester Ruy López haben wir im ersten Teil dieses Turnierberichts kennengelernt, die Personifizierung der spanischen Schach-Herrschaft. 1560 und 1573 hatte der Priester bei Besuchen in Rom die besten Spieler Italiens besiegt. Nun sollten eben diese besten Spieler Italiens 1575 nach Madrid reisen, um Revanche zu nehmen und den Spaniern ihre Stellung als führende Schachnation abzuluchsen.
Wir setzen heute die Reihe der Porträts der Turnierteilnehmer fort. Herzlichen Dank an den Perlen-Leser Markus Doeve, der in seinem Kommentar zum ersten Teil einen nützlichen Hinweis gab, wonach über den zweiten spanischen Teilnehmer des Superturniers Madrid 1575 entgegen meiner Annahme doch einige Informationen zu finden sind.
Alfons Seran (1535-?)
Über Alfons Seran (spanische Schreibweise: Alfonso Cerón) sind heute die wenigsten Daten aller Turnierteilnehmer bekannt. Wie bei Ruy López, dem anderen spanischen Teilnehmer, handelte es sich bei ihm um einen Priester. Geboren wurde er in Granada. Außerdem verfasste auch er im Laufe seines Lebens ein Schachbuch, von dem heute allerdings kein Exemplar mehr vorhanden ist. Es trug den Titel „De latrunculorum ludo o Del juego del Ajedrez“ (nach Nicols Antonio, “Bibliotheca Hispana Nova” Band I, Madrid 1783, S. 17. Erstausgabe, Rom 1673 I, 13), auf Deutsch etwa “Über das Schachspiel”.
Erhaltene Schachpartien konnte ich von ihm nicht finden. Er wurde beim Madrider Turnier „nur“ Vierter. Da er neben Ruy López de Segura als einer von zwei Spielern für sein Königreich nominiert wurde, spricht dies indes für sein großes schachliches Können.
Paolo Boi (1528-1598)
Der Freund der Päpste
Der aus Sizilien stammende schillernde Turnierteilnehmer und Spross einer angesehenen und reichen Familie interessierte sich schon als Kind für Schach. Er wurde früh Siziliens bester Spieler, indem er seine drei stärksten Gegner gleichzeitig und Blindschach spielend besiegte. Er war nicht nur Schachspieler, auch Dichter, Matrose und Soldat.
Befreundet war Paolo Boi unter anderem mit Caterina de’ Medici (ab 1547 Königin von Frankreich) und Papst Pius V. und vielen Adligen. Der Herzog von Urbino beispielsweise sponserte ihn durch eine jährliche Apanage in Höhe von 300 Scudo, wodurch er quer durch Europa reisend sein Leben mit seiner Lieblingsbeschäftigung verbringen konnte. Er soll insgesamt sogar an die 30.000 Scudi pro Jahr verdient haben.
Boi richtete eine Schachakademie im Palast des Fürsten Fabrizio Gesualdo von Venosa ein, wo er zum ersten Mal auf Leonardo da Cutri traf, zu dem er zeitlebens in freundschaftlicher Rivalität stand. 1549 besiegte er Papst Paul III. in einem Schachspiel. Dieser bot ihm an, ihn zum Kardinal zu ernennen, was er allerdings ablehnte.
Viele Jahre kämpfte Boi mit seinem vierzehn Jahre jüngeren Landsmann Giovanni Leonardo Di Bona Da Cutri um die Vormachtstellung in seinem Land. Einige Quellen berichten, er sei einmal am Golf von Lyon von algerischen Piraten entführt und als Sklave verkauft worden. Sein türkischer Käufer und Herr sei jedoch glücklicherweise ein Freund des Schachspiels gewesen und habe ihn wieder freigelassen und sogar mit einem Taschengeld ausgestattet.
Vom eigenen Diener vergiftet?
Sein italienischer Wikipedia-Eintrag besagt außerdem, er habe sich als Soldat in Ungarn den Osmanen gestellt, sei gefangen genommen worden, kam aber wieder frei (wenn ich es richtig verstanden habe. Im Original lautet der diesbezügliche Text „Uomo inquieto e grande viaggiatore, si confrontò a scacchi pure con i Turchi Ottomani in Ungheria, dove – pare prigioniero – riuscì a guadagnarsi la libertà“.)
Der Rang des besten Schachspielers der Welt ging an Paolo Boi über, als Leonardo 1587 starb. 1598 verlor Boi dann gegen Alessandro Salvio (auch ein großer Name im Schach), nur drei Tage vor seinem Tod in Neapel im Alter von 70 Jahren. Er starb an Magenkrebs, manche Quellen behaupten, er sei von seinem eigenen Diener vergiftet worden. Im Internet fand ich einen Spaßvogel, der ihm die Erfindung der Skandinavische Eröffnung zuschreibt, aufgrund des ECO-Codes „B01“, der optisch seinem Nachnamen ähnelt.
Giulio Cesare Polerio (1548-1612)
Der erste Sekundant
Ein leuchtender Name, der wie kein anderer für das „Goldene Zeitalter“ des italienischen Schachs steht. Giulio Cesare Polerio war nicht nur ein starker Spieler, sondern sozusagen ein Rustam Kazimdzhanov oder Peter Heine Nielsen seiner Zeit – er spielte beim Turnier nicht selbst, sondern begleitete seine beiden Landsmänner als Sekundant und Trainingspartner. Polerio galt als hervorragender und hochgeachteter Theoretiker, dessen enormes Wissen in der Vorrunde entscheidend zum 3:2-Sieg von Giovanni Leonardo da Cutri gegen Ruy López beitrug.
Während des Turniers spielte Polerio zahlreiche freie Partien mit spanischen Meistern und erwarb sich deren Anerkennung. Der spanische König Philipp II., der – soweit es seine Staatsgeschäfte zuließen – bei allen Partien zuschaute, entlohnte ihn für seine Tätigkeit mit 1.000 Scudi. Nach dem Turnier beschloss Polerio, in Madrid zu bleiben; es wurden dort neben zahlreichen weiteren Aufzeichnungen sieben ihm zugeschriebene Manuskripte aus dem Zeitraum 1580-1600 gefunden, sein Hauptwerk, eine Keimzelle der Schachtheorie. Darin enthalten: Notizen über einen internationalen Austausch zwischen Schachmeistern zu Eröffnungsideen, Turnierberichte und analysierte Partien. Polerios Aufzeichnungen verdanken wir, dass wir heute Zeuge dieser spannenden Periode des Schachs sein können.
Nach seiner Rückkehr soll Polerio zum stärksten Spieler Italiens aufgestiegen sein. Gleichwohl ist er eher als Theoretiker denn als Spieler in Erinnerung. Schachspielern ist sein Name durch das (heute eher als Muzio-Gambit bekannte) Polerio-Gambit ein Begriff, ein Abspiel des Königsgambits, das für den Stil der damaligen Zeit steht: Material egal, Hauptsache schnell zum gegnerischen König durchdringen. Ein 1594 von ihm verfasstes Manuskript gilt als erste schriftlich hinterlassene Analyse der sizilianischen Verteidigung. Den Namen “Sizilianisch” benutzte Polerio allerdings noch nicht.
Giovanni Leonardo da Cutri (1542-1597)
Der Kleine, der Ruy López schlug
Giovanni Leonardo da Cutri, 1542 in Kalabrien geboren, hatte sich nach seinem Jurastudium in Rom ganz dem Schachspiel gewidmet. Spanien und Italien galten damals als die beiden konkurrierenden Zentren des Weltschachs. In Italien war insbesondere Rom eine Hochburg. Offizielle Weltmeisterschaften gab es noch lange nicht, aber Giovanni, der aufgrund seines schmächtigen Wuchses den Spitznamen “Il Puttino” (der Kleine) trug, wusste bereits in jungen Jahren aufzutrumpfen.
An dieser Stelle will ich das nicht wirklich geheime Geheimnis einschieben, wie ich auf die Idee zu diesem Artikel gekommen bin: Ich wollte zunächst eigentlich über Ruy López erzählen, dessen Name zwar eine der beliebtesten und meistuntersuchten Eröffnungen ziert, der der heutigen Generation von Schachspielern dennoch kaum bekannt ist. Bei der Recherche fand ich allerdings die Biographie von Giovanni Leonardo da Cutri mindestens ebenso interessant und wollte fast „meutern“, also zu einem Artikel über ihn überlaufen, um in der Piratensprache zu bleiben. Schließlich stieß ich auf den Kulminationspunkt beider Schachlaufbahnen, Madrid 1575, wo wir uns bald wieder einklinken.
Schon wieder Piraten!
Seine weiter oben erwähnte Niederlage gegen Ruy López 1560 warf Giovanni nicht aus der Bahn, sondern spornte seinen Ehrgeiz an. Er ging nach Neapel, wo er, von seinem Onkel unterstützt, zwei Jahre lang intensiv an seinem Schach arbeitete. Bei seiner Rückkehr nach Rom war er stark genug, dass Paolo Boi, der andere italienische Champion, seine Herausforderung zu einem Duell annahm. Es gibt keine Dokumente über den genauen Ausgang – Giovanni Leonardo da Cutri soll laut italienischen Quellen sehr gut gespielt haben, wurde aber wie zuvor schon von Ruy López von seinem Gegner ehrenhaft besiegt. Denkste! Laut seinem deutschen Wikipedia-Eintrag gewann er im Widerspruch dazu nämlich gegen den italienischen Meister. Wie auch immer es wirklich ausging – diese beiden Spieler bewegten sich über Jahrzehnte auf einem ähnlich hohen Niveau.
Nach diesem Wettkampf kehrte Giovanni in sein Elternhaus zurück, wo schon wieder vermaledeite Seeräuber ins Spiel kommen – sarazenische Piraten hatten nämlich seinen Bruder gefangen genommen. Um ihn zu retten, forderte Leonardo den Oberpiraten im Schach heraus. Sein Vorschlag wurde akzeptiert, vermutlich wusste der Freibeuter nicht, von welch starkem Gegner er gefordert wurde. Er besiegte den Bösewicht und kam mit seinem Bruder und 200 Dukaten, was eine beträchtliche Geldmenge war, ins Elternhaus zurück. Später begann er – wie vor ihm schon Paolo Boi – Schach spielend durch Europa zu reisen (Genua, Marseille, Barcelona …), wo wir ihm nun wieder im Jahr 1575 beim Turnier in Madrid begegnen: …
(wird fortgesetzt)
Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de
Der Mann auf dem Bild ist nicht Polerio, sondern Pietro Carrera. Gruß