“Clash of Claims”: Kramnik lamentiert, Martinez bleibt cool

Ist es 14,5:11,5 ausgegangen? Oder 15,5:11,5? Ob die letzte Partie nun zählt oder nicht, Jose Martinez hat Vladimir Kramnik in einem kuriosen Blitzschachmatch im Casino Gran Via in Madrid besiegt – außer nach Lesart des Unterlegenen. Vladimir Kramnik betrachtet den dreitägigen „Clash of Claims“ als „nicht gespielt“ und „ungültig“. Es seien zu viele merkwürdige Dinge passiert, teilte der Exweltmeister via X/Twitter mit, bevor er sich im Hotel dem Studium von Videoclips des Geschehens widmete. Kramnik fühlt sich betrogen und vorgeführt.

Bericht von chess.com zum “Clash of Claims” mit dem Matchverlauf und Highlights aus den Partien.

Während der drei Tage zum Auftakt des Schachfestivals in der spanischen Hauptstadt hat Vladimir Kramnik in erster Linie sich selbst und seine Merkwürdigkeit vorgeführt. Der 48-Jährige verlangte wiederholt Änderungen am Format, verzettelte sich in Debatten mit Schiedsrichtern und Organisatoren. Zwischen den Partien verursachte er Pausen, in denen in der er mit der Taschenrechner-App seines Handys die Übertragungszeiten von Zügen addierte.

Tatsächlich prägten technische Probleme und unzureichende Vorbereitung des Setups das ohnehin improvisierte Format, in dem ursprünglich 36 Partien gespielt werden sollten, zur Hälfte online, zur Hälfte am Brett. Betroffen von den Problemen waren beide Kontrahenten. Wenn jemand Anlass gehabt hätte, sich zu beschweren, dann der unter mexikanischer Flagge spielende Peruaner. Der hatte es auf dem Brett mit dem ehemals besten Schachspieler der Welt zu tun und abseits davon mit jemandem, der das Lamentieren nicht lassen kann.

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Schon am ersten Tag stand das Match vor dem Abbruch. Kramnik hatte darauf bestanden, dass die Spieler jeden Tag ein neues, originalverpacktes Laptop bekommen. Diese Regelung führte zu einer Notwendigkeit, die jeder Mensch mit einem Windows-Computer kennt: das Betriebssystem installieren bzw. updaten. Das Einrichten der Rechner verzögerte den Beginn.

Früh im Match beschwerte sich Kramnik, dass sich seine Uhr seltsam verhält. Zu Recht. Laut chess.com stellte sich heraus, dass das Problem wahrscheinlich darin lag, dass der Laptop noch immer Windows-Updates durchlief, von denen einige fehlgeschlagen waren. Das führte zu Störungen bei der Synchronisierung der Zeit. Und das wiederum führte erst recht dazu, dass Kramnik falsches Spiel witterte.

Martinez machte zwei Zugeständnisse, um das Match am Laufen zu halten. Er stimmte zu, dass die von Windows-Updates beeinträchtigten Online-Partien nicht zählen und bot an, zusätzliche Partien am Brett zu spielen. Tag zwei des Matches begann nicht mit Schach, sondern mit einer vierstündigen Verhandlung, wie es nun weitergehen soll. Nach außen klang durch, dass Kramnik behauptete, chess.com habe das Match manipuliert, um seinem Gegner einen Vorteil zu verschaffen.

Kramnik hadert mit der Technik, Martinez bleibt cool. | Foto: Federico Marin

Ungeachtet aller Ablenkungen und Verzögerungen blieb Martinez cool, ein Triumph auf ganzer Linie, nicht nur sportlich. Der 25-Jährige sei ein „class act“, kommentierte der einstige FIDE-Marketingchef David Lllada. Seine Klasse hatte Martinez schon vorab demonstriert. Er stimmte zu, das Match nicht mit der Titled-Tuesday-Bedenkzeit von 3 Minuten/Partie plus 1 Sekunde Increment zu spielen, sondern ließ sich das von Kramnik präferierte 3+2 ein, ein freiwilliges Handicap für Speedy Martinez, ein Bonus für Kramnik.

Das „gescheiterte Experiment“ (Kramnik) war in mehrfacher Hinsicht ein gelungenes. Zuvorderst hat es gezeigt, dass ein auf die schnellen Disziplinen spezialisierter 2600-Großmeister im Blitz auf Augenhöhe mit einem Giganten wie Kramnik sein kann. Online, wo Virtuosität im Umgang mit der Maus als Faktor dazukommt, kann ein Top-200-Spieler wie Martinez sogar überlegen sein. Die Ergebnisse der Matchpartien am Brett (7,5:6,5 für Kramnik) und online (8:4 für Martinez) spiegeln, dass es sich um zwei unterschiedliche Disziplinen handelt. Mutmaßlich wäre das Ergebnis der Online-Partien deutlicher ausgefallen, hätten die beiden 3+1 gespielt.

Auch nicht mit seniorengerechter Blitzbedenkzeit konnte Kramnik nachweisen, was er seit Monaten suggeriert, nämlich, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn Leute wie Martinez im Online-Blitz in der Weltklasse mitspielen und noch dazu einen Vladimir Kramnik besiegen. Eine Entschuldigung oder zumindest differenzierte Betrachtung seiner „Analysen“ und „Statistiken“ kam Kramnik nicht über die Lippen, aber immerhin das Eingeständnis, Martinez sei ein guter Spieler. Gleichwohl, in erster Linie fühlt sich Kramnik betrogen – wieder einmal. Nicht von Martinez, sondern vom System chess.com.

Nachts im Hotel machte sich Vladimir Kramnik an die “Analyse”. Unter anderem präsentierte er diesen Clip und behauptet, weniger Increment als sein Gegner bekommen zu haben.

Für einen in die Jahre gekommenen Exweltmeister ist es bestimmt nicht leicht, wiederholt gegen junge Leute zu verlieren, deren Klasse er nicht allzu hoch einschätzt. Für solche Nackenschläge sucht Kramnik Gründe, die mit schachlicher Klasse nichts zu tun haben. Und scheitert fortwährend an seiner Selbstüberschätzung, gepaart mit dem Unwillen zu reflektieren und Leuten zuzuhören, die sich auskennen.

Das Wort eines ehemaligen Weltmeisters hat Gewicht, es könnte wertvoll für die gemeinsame Sache sein und Kramnik ein Leuchtturm. Dass Cheating eine Bedrohung ist und die unter Spitzenspielern verbreitete Cheatingparanoia ein Problem, gehört adressiert. Dass mit chess.com der einzige relevante kommerzielle Player im Schach alles dominiert, tut dem Sport und dem Spiel nicht gut. Auch darüber sollte geredet werden.

Die Art und Weise, wie der überall Mis- und Desinformation witternde Kramnik solche Themen adressiert, schadet der Sache und nicht zuletzt ihm selbst. Längst wird Kramnik in weiten Teilen der Szene vor allem als durchgeknallter Boomer wahrgenommen. Eine Autorität, die dem Schach helfen könnte, ist er längst nicht mehr. Ein Leuchtturm ist der 1,96-Meter-Mann ausschließlich in Sachen Körpergröße.

Kommentatoren und Publikum beim Wettkampf in Spanien mit einem spanischsprachigenen Außenseiter, der seine Ehre verteidigen wollte, waren tatsächlich nicht unparteiisch. Woran das wohl gelegen hat? Kramnik fand es jedenfalls mal wieder “disquasting”. Dazu der übliche Kanon großer Wörter: Würde, Ethik, Lügen etc. etc.

Substanzielles produziert er nicht, stattdessen Memes. Kramniks wiederholtes „disquasting“, wenn er „disgusting“ sagen will (und das will er oft), wird bleiben, seine Tiraden nicht, seine Statistiken schon gar nicht. Wer sich nicht einmal bemüht, einfache Wörter richtig zu schreiben, kann kaum den Anspruch erheben, wissenschaftlich vorzugehen. Arjun Erigaisi, neue Nummer vier der Welt, hat jetzt in einem Interview ausgesprochen, was viele vermuten: „Kramnik wird verrückt.“

An Kramniks monatelangem Fokus auf die wenig aussagekräftige Genauigkeitsstatistik bei chess.com ließ sich schon ablesen, dass er nicht durchdrungen hat, womit er sich tagein, tagaus beschäftigt. Seit einigen Wochen zitiert er diese Zahlen nicht mehr, ohne je erklärt zu haben, warum die „Accuracy“ plötzlich keine Rolle mehr spielt, nachdem sie lange das Mittel der Wahl gewesen war, den bösen Riesen chess.com und die sich unter dessen Deckmantel tummelnden Betrüger (nach Kramniks Einschätzung) zu entlarven.

Nicht einmal Online-Schach generell hat Kramnik durchdrungen. Wer Moral und Ethik heranzieht, nachdem ihn jemand über die Zeit gehoben hat, der hat nicht verstanden, wie das Spiel gespielt wird. Wegbegleiter wie Ian Nepomniachtchi, die Kramnik noch bestärken, oder Peter Svidler, der wahrscheinlich aus Respekt klare Worte scheut, tun ihm keinen Gefallen.

Als vor zwei Jahren unter anderem Vincent Keymer ihn über die Zeit zog, wurde Vladimir Kramnik in Sachen Onlineschach erstmals auffällig. Fortan füllten ausufernde Aufsätze sein Profil, bis ihm chess.com den Stecker zog.

Kramnik sollte selbst am besten wissen, wie es sich anfühlt, Opfer haltloser Anschuldigungen zu sein. Während des WM-Kampfes 2006 gegen Veselin Topalov kam es „Toiletgate“, Team Topalov beschuldigte Kramnik, heimlich auf der Toilette zu betrügen. Was Kramnik während seiner auffällig häufigen Toilettenbesuche genau gemacht hat, weiß nur er selbst. An Cheating glaubt niemand.

Der dritte Teil des dreiteiligen Kramnik-Porträts dieser Seite beginnt mit dem Toiletgate-WM-Kampf 2006. Längst hat sich offenbart, dass ein vierter Teil wird geschrieben werden müssen. Der wird die Selbstdemontage eines Giganten behandeln. Ein Happy End ist Kramnik zu wünschen, aber nicht in Sicht.

Das Match ist vorbei, das Schachfestival in Madrid geht jetzt erst los – mit einem Konzept, das Schule machen könnte. Die Organisatoren sind nicht auf Elorekorde aus, sondern haben in erster Linie versucht, Normturniere mit prominenten Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammenzustellen. Levy „GothamChess“ Rozman etwa ist unter den Spielern, auch der argentinische Wunderknabe Faustino Oro auf seiner Jagd nach der dritten IM-Norm.

Nachtrag, 12. Juni: Neue Entwicklungen nach dem Clash of Claims in diesem Thread.

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joschi
joschi
13 Tage zuvor

Dass mit chess.com der einzige relevante kommerzielle Player im Schach alles dominiert, tut dem Sport und dem Spiel nicht gut. Auch darüber sollte geredet werden. Na dann tu es doch! Es gibt Vieles, was ich an chess.com nicht mag. Zum Beispiel unsinnige Formate oder mäßig begabte geschwätzige Moderatoren, vor allem aber, das bei einer Übertragung plötzlich auf Nakamuras Kanal und seine Pappnasen gewechselt wird. Aber was Sport und Spiel durch das Einstellen von chess24 verloren hat, ist mir nicht klar. chess.com tut was es will und produziert weitgehend am europäischen Markt vorbei, aber es bereichert dennoch. Mir fällt keine ernsthafte… Weiterlesen »

Carl Magenstab
Carl Magenstab
10 Tage zuvor

Der Schmerz der großen Champions. Sie spüren, dass sie doch nicht ohne ihren Sport leben können, müssen aber erkennen, dass dieser ohne sie leben kann.

Olaf
Olaf
12 Tage zuvor

“Laut chess.com stellte sich heraus, dass das Problem wahrscheinlich darin lag, dass der Laptop noch immer Windows-Updates durchlief, von denen einige fehlgeschlagen waren.”

Hehe, lustig. Windows!