Weltschach-Chef stellt Schiedsrichterin ins Abseits

Woman – Life – Freedom, Frau – Leben – Freiheit, ein Slogan, der nicht erst seit den Protesten der Bevölkerung im Iran um die Welt geht. Shohreh Bayat trug als Schiedsrichterin bei der Schach960-WM ein T-Shirt mit diesem markanten Dreiklang, später trug sie beim selben Turnier die ukrainischen Farben. Für ihr Eintreten von Menschenrechten und ihre Solidarität mit der Ukraine wird sie seitdem vom Schach-Weltverband FIDE, dessen Präsident Arkady Dvorkovich allen voran, bestraft. Das berichtet jetzt die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Als WM-Schiedsrichterin Shohreh Bayat sich während der 960-WM mit ihren protestierenden Landsleuten im Iran solidarisierte, fanden die WM-Ausrichter in Island das gut, einige Funktionäre auch. Von FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich bekam sie eine Aufforderung, das Shirt zu wechseln. | Foto: David Llada/FIDE

Nicht lange her, da war Shohreh Bayat eines der Aushängeschilder des Schach-Weltverbands. Als iranische Hauptschiedsrichterin der Frauen-WM 2020 in China und Russland war sie auf einem Foto zu sehen gewesen, das sie ohne Kopftuch zeigt. Im Iran löste dieser vermeintliche Affront so heftige Reaktionen aus, dass Bayat nicht zurückkehren mochte. Aus Furcht vor Repressionen in der Heimat beantragte sie politisches Asyl in Großbritannien, wo sie seitdem lebt.

Wie sich die Dinge seit 2020 verschoben haben, lässt sich an einer zentralen Figur des Weltschachs festmachen. Nigel Short half Bayat einst, eine neue Heimat zu finden, und er brachte den fortwährenden Boykott iranischer Spieler gegen Israelis vor die FIDE-Gremien. Seinerzeit drohte dem Iran nach Shorts Initiative sogar ein Ausschluss. Schließlich beschloss die FIDE eine von Dvorkovich abgeschwächte Version des Short-Entwurfs, nach der dem Iran „Konsequenzen“ drohen, sollte der Boykott weitergehen. Gut zwei Jahre ist das jetzt her.

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Dass der Boykott weitergeht, hat bei der Schnellschach- und Blitz-WM 2022 jeder gesehen. Weder dazu hat der einstige Mahner Nigel Short sich geäußert noch zum Umstand, dass Shohreh Bayat seit der 960-WM weder beim Blitz und Rapid noch sonstwo von der FIDE als Schiedsrichterin eingesetzt wird. Short, als „Direktor für Entwicklung“ jetzt FIDE-Angestellter, hat sich in dieser Sache selbst einen Maulkorb verpasst. Er ist jetzt nicht mehr der unabhängige Lautsprecher, sondern Teil des FIDE-Systems von Abhängig- und Gefälligkeiten, das immer dann zu auffällig lautem Schweigen neigt, wenn offene Rede angebracht wäre.

Immerhin: Zu einem verklausulierten Tweet mit dem Antlitz der jetzt nach Spanien ausgewanderten Iranerin Sara Khadem rang er sich durch.

Aber dass der Iran bei der Boykott-WM den Hauptschiedsrichter stellen durfte, nachdem die FIDE die Blitz- und Rapid-WM in ein Land gegeben hatte, das noch vor einem Jahr einen Aufstand mit Hilfe russischer Truppen blutig niederschlug, war Short keine Erwähnung wert, auch nicht die zuletzt verstärkte iranische Präsenz in FIDE-Kommissionen. Auch nicht, dass die Mehrheit der ukrainischen Profis bei der hochdotierten WM einen potenziell veritablen Zahltag verpasste, weil sie nicht in Kasachstan und gegen die dort dutzendweise präsenten Russen spielen wollten.

FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich absolviert seit seiner triumphalen Wiederwahl eine Gratwanderung. Während er daheim in Russland als “westlich orientiert” immer wieder zur Zielscheibe von Kritikern wird, steuert er den Weltverband so russisch orientiert wie möglich durch alle Spannungsfelder. In der FIDE regt sich keine Kritik, Dvorkovich kann sich auf einen ihm ergebenen Apparat und politisch indifferente nationale Verbände stützen. | Foto: Stev Bonhage/FIDE

Seit 1936 ist die in diesen Monaten immer wieder vorgebrachte Phrase „Sport und Politik sollten getrennt sein“ herzlich weltfremd. Anlässlich der 960-Weltmeisterschaft in Island hat sich jetzt der einstige stellvertretende Ministerpräsident Russlands und Organisator der Fußball-WM 2018 Arkady Dvorkovich bei denen eingereiht, die sich dieser Plattitüde bedienen. Sie solle „Schach und Politik nicht vermischen“ teilte Dvorkovich per WhatsApp Shohreh Bayat mit. Laut FAZ wies er den Hauptschiedsrichter an, er solle verfügen, dass Schiedsrichterin Bayat nicht mehr „Woman – Life – Freedom“ trägt, während Nakamura, Carlsen & Co. um die WM-Krone ringen.

Shohreh Bayat beharrte darauf, ihr schriftlich das Tragen des Shirts zu verbieten. Ein solches Schreiben kam nie. Sie wechselte trotzdem im Lauf des Turniers das Outfit: blaue Bluse, gelber Rock, eine Solidaritätsadresse an die um ihre Freiheit kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainer.

Während die Menschen im Iran laut Shohreh Bayat an der Seite der Menschen in der Ukraine stehen, liefert das Regime im Iran als einer der wenigen Verbündeten Russlands Drohnen nach Moskau, um sie auf die Ukraine zu schießen.

Die FIDE hat Shohreh Bayat seitdem nicht mehr als Schiedsrichterin eingesetzt. Als jetzt die FIDE-Kommissionen neu zusammengestellt wurden, flog sie aus der Schiedsrichterkommission. Stattdessen sei ihr ein Platz in der Frauenkommission angeboten worden, erzählte Bayat der FAZ. Sekretärin dieser Kommission ist Shadi Paridar vom dem Regime unterstellten iranischen Verband, eine Frau, von der es viele Fotos gibt, keines ohne Kopftuch. Bayat lehnte ab.

Dafür, dass sie nun außen vor ist, gibt Bayat der FAZ diese Begründung: Nach seiner geglückten Wiederwahl im August richte sich Präsident Dvorkovich wieder nach russischen Interessen, und Iran sei einer der wenigen Verbündeten Russlands. Dass das Iran-Thema bei der FIDE noch auf die Tagesordnung kommt, dass gar die angedrohten Sanktionen ausgesprochen werden, glaubt Bayat nicht. Der Iran-Fall wäre beim FIDE-Rat angesiedelt, und der tage erst wieder im April. „Bis dahin ist alles vergessen.“

Die FIDE verlassen? Oder zumindest eine Meinung äußern? Vom größten westlichen Schachverband mit diesem Präsidium und diesem Kongress ist beides nicht zu erwarten.

Unterdessen drohen dem Iran weitere Schachmeister verloren zu gehen. Nach der Nummer eins der Frauen Sara Khadem soll auch die (nach Alireza Firouzjas Abgang) Nummer eins der Männer Parham Maghsoodloo auf der Suche nach einem neuen Verband sein – ebenso wie Großmeister Ehsan Ghaem Ma­ghami, der laut FAZ bereits eine amerikanische Greencard besitzt. Würde Maghsoodloo gehen, wäre des BundesligaMannschaftskollege vom FC Bayern Amin Tabatabaei die neue iranische Nummer eins. Tabatabaei „wird wohl bleiben. Seine Familie gilt als regimetreu“, schreibt die FAZ.

Wird er der Nächste? Nach Einschätzung der FAZ steht Parham Maghsoodloo (links) davor, den Iran zu verlassen. | Foto: David Llada/FIDE
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Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

“Gens una sumus” sozusagen, dies zu : ‘Nigel Short half Bayat einst, eine neue Heimat zu finden, und er brachte den fortwährenden Boykott iranischer Spieler gegen Israelis vor die FIDE-Gremien. Seinerzeit drohte dem Iran nach Shorts Initiative sogar ein Ausschluss.’ [Artikeltext] Auch die Fälle Dorsa Derakhshani und Sarasadat Khademalsharieh bleiben zu beachten. Angeraten werden darf vielleicht ebenfalls Schach oder Sport generell (vgl. mit bestimmten und noch halbwegs aktuellen “Aktionen” in Katar) nicht unnötig zu politisieren, die integrative Kraft von “Schach & Sport” entfaltet sich vielleicht am besten, wenn nicht allzu sehr politisch “herumgenickelt” wird. Mit freundlichen Grüßen + vielen Dank… Weiterlesen »

Peter Kalkowski
Peter Kalkowski
1 Jahr zuvor

Die FIDE ist ein Organ einer Nation die nicht nur Frauen und Männer vergewaltigt und ermordet, sondern auch Kinder und deren Omas und Opas. Die einzige Konsequenz der West- Spitzenverbände kann doch nur Boykott mittels Austritt aus der FIDE sein, ein Zeichen. Dass wäre ein ehrliches und mutiges Zeichen und nicht diese “Gens una sumus” Lüge. Nicht einmal der Spielbetrieb von der stärksten Liga der Welt und der Spielbetrieb unserer Breitensportler wäre betroffen wenn sich Schach-West-Europa organisiert (hm…da sitzt ja auch eine zwielichte Person am Ruder). Bleiben die Verbände unter dem Mantel der FIDE könnte die Masse der Breitensportler reagieren… Weiterlesen »

Uwe Böhm
Uwe Böhm
1 Jahr zuvor

Sport ist schon immer politisch instrumentalisiert worden. Viel schlimmer als die Eingriffe von außen sind aber noch die Eingriffe von innen. Wenn ein FIDE-Präsident eine Schiedsrichterin wegen des Tragens eines T-Shirts absetzt, dann ist auch das eine politische Entscheidung, und zwar eine nicht akzeptable. Da darf man schon erwarten, dass sich der Deutsche Schachbund klar positioniert. Einen Weltschachbund, der noch nicht einmal zu den eigenen Grundsätzen steht, braucht kein Mensch.

Gerhard
Gerhard
1 Jahr zuvor

Politische Parolen auf Kleidungsstücken und dergleichen haben mMn im Sport nichts verloren. Auch wenn sie einer tatsächlich (oder vermeintlich) guten Sache dienen. Daher empfinde ich die Entscheidung gegen die Schiedsrichterin als richtig. Ebenso wie die Entscheidung der Fifa gegen das Tragen der „One- Love-Binde“ meines Erachtens richtig war! Man sollte Sport und Politik trennen so gut es geht, wobei ich weiss, dass das nicht immer perfekt gelingen kann. Aber man sollte sich für die Öffentlichkeit sichtbar darum bemühen! Was meines Erachtens gar nicht geht, ist wenn israelische Sportler durch Spieler bestimmter Verbände boykottiert werden. Hier sollte die Fide, wie auch… Weiterlesen »

Joschi
Joschi
1 Jahr zuvor

Ich muss gestehen, ich bin kein Fan von politischen Statements bei Sportereignissen. Ich sehe auch nicht, wie es der Unkraine hilft, wenn jemand ein blaues shirt und einen gelben Rock trägt. Natürlich bin ich für Frieden, gegen Agression, Diskriminierung, Unterdrückung. Aber das plakative Solidaritätzeigen missfällt mir. Was anderes ist, wenn man direkt beteiligt ist. Das fehlende Kopftuch ist ein Statement, das über das Tragen irgendeines Shirts weit hinausgeht. Ich wäre etwas vorsichtig mit dem Verurteilen von Short. Er kann in der FIDE mehr bewirken, wenn er jetzt nicht vollmundig markante Sprüche veröffentlicht. Jetzt groß in den sozialen Medien aufzutreten und… Weiterlesen »

Last edited 1 Jahr zuvor by Joschi
Druggy
Druggy
1 Jahr zuvor

Leider lassen sich Sport und Politik nicht trennen. Egal ob Sportereignisse zur Aufbesserung des Images eines Landes eingesetzt werden oder man politischen Druck ausübt um Sportereignisse ins eigene Land zu holen. Meiner Meinung nach sollten sich Verbände, wie der DSB, aber auch die ECU, stärker für Gleichberechtigung und gegen russische Interessen, auch öffentlich einsetzten. Wie man aber bei der Wahl zum FIDE-Präsidenten gesehen hat, haben zu viele (Verbände) kein Rückgrat.

Walter Rädler
Walter Rädler
1 Jahr zuvor
cyronix
cyronix
1 Jahr zuvor

Die Schiedsrichterin hat sich schon etwas stark in den Vordergrund gerückt, Politsches Statement Hin oder Her …