Warten auf die Auftaktrunde

Jan Nepomnjaschtschi und Richard Rapport haben die Eröffnungsfeier des Kandidatenturniers schlafend verbracht. Auf ihren Stühlen in der ersten Reihe sind beide eingenickt. Zwischen ihnen sitzt der aus China angereiste Ding Liren – und sieht aus, als dämmere er gleich weg. 

Ist das aufregend! Jan Nepomnjatschi, Ding Liren und Richard Rapport (vorne, v.l.) bei der Eröffnungsfeier. | vie Stefan Löffler/Twitter

Das Bild der drei müden Krieger lässt den Schreiber dieser Zeilen mit Wehmut an die Ramadacupturniere mit ihren ausgedehnten Eröffnungsfeiern im württembergischen Aalen zurückdenken. Damit begann seinerzeit Jahr für Jahr der Weihnachtsurlaub: erst drei Tage Klötzle schieben, dann Punsch aufsetzen und Baum schmücken.

Wir wollen den drei WM-Kandidaten nicht unterstellen, dass sie während des Eröffnungsprogramms wirklich geschlafen haben. Wahrscheinlich hat der Fotograf einfach nur in einem (un-)günstigen Moment auf den Auslöser gedrückt. Aber wenn: Nepo, Ding und Rapport wären nicht die ersten. Magnus Carlsen ist tatsächlich schon am Brett eingeschlafen. Dazu kommen wir gleich.

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Warten zu müssen, ist das tägliche Brot eines Schachspielers. Warten müssen wir in der Schlange bei der Turnieranmeldung, warten müssen wir auf den Beginn einer Runde, vor der besetzen Toilette, während der Gegner denkt, auf die Siegerehrung oder auf Mitfahrer für die gemeinsame Heimfahrt.

Als Alexander Grischuk beim Kandidatenturnier 2018 auf Toilette musste – und nicht reinkam.

Wie gut wir mit der Warterei und eventuell auftretender Ungeduld umgehen, ist eine spannende Frage. Manch einer mag schon von der Schlange am Eingang aus dem Konzept gebracht sein, andere warten unerschütterlich. Elite-Großmeister sind uns spielgierigem Fußvolk nicht nur in der Brettkunst haushoch überlegen, sie lassen sich in aller Regel auch vom Wartenmüssen weniger stressen. Sie wissen olche Zäsuren sinnvoll zu überbrücken – nicht nur schlafend.

Diese Behauptung wollen wir mit drei Beispielen untermauern:

Beispiel 1:

Der Turniersaal füllt sich hinter ihm mit Publikum. Magnus Carlsen schlummert seelenruhig im Sessel in der ersten Zuschauerreihe. Ein bekanntes Foto von vor der vierten Runde des London Chess Classic 2010. „Beeindruckende Konzentrationsfähigkeit des Wikingers vor dem anstehenden Waffengang gegen den russischen Recken Wladimir Kramnik“, hat Dirk Poldauf in der Ausgabe 01/2012 der Zeitschrift Schach treffend fabuliert.

Magnus Carlsen bereitet sich auf seine Partie gegen Vladimir Kramnik vor. | via Zeitschrift Schach

Beispiel 2:

Bankett zu Ehren des neuen Schachweltmeisters Bobby Fischer in Reykjavik 1972 mit über 1.000 Gästen, die auf dem Schwarzmarkt für die (eigentlich 22 Dollar teuren) Tickets bis zu 100 Dollar gezahlt haben. Von der Bühne erklingt Kammermusik von Jaques Offenbach. Hauptperson Bobby Fischer kramt sein geliebtes Taschenschachspiel heraus und beginnt, die letzte der 21 WM-Partien zu analysieren. Sogleich gesellt sich der zwei Stühle weiter sitzende, von ihm besiegte Boris Spassky hinzu, kurz darauf die Großmeister Efim Geller und Robert Byrne.

Die Fischer-Taschenschach-Episode entnehmen wir dem dem Fischer-Standardwerk “Endspiel” von Frank Brady.

Beispiel 3:

Die Siegerehrung bei der Schnellschach-WM 2016 in Doha läuft, Alexander Grischuk und Magnus Carlsen haben ihre Silber- bzw. Bronzemedaille umgehängt bekommen. Auf dem Podest stehend, warten sie auf den Gewinner Wassili Iwantschuk. Aber der ist ein gutes Stück entfernt von der Bühne leidenschaftlich in eine Partie Dame gegen seinen aus Georgien stammenden Schachgroßmeisterkollegen Baadur Jobava versunken, anstatt sich zur Preisverleihung zu begeben. Der Ukrainer wird per Lautsprecher ausgerufen. Erst kurz danach und auf Zuruf eines Dame-Kiebitzes spurtet der 47-jährige zum Podest, um die Siegerehrung über sich ergehen zu lassen, während er im Kopf (und vom Zeigefinger der rechten Hand gestenreich unterstützt) die nächsten Züge seiner kurz danach siegreich beendeten Damepartie analysiert.

Wassili Iwantschuk wird Schnellschach-Weltmeister, ist aber abgelenkt.

Wie oben angedeutet, ist es nicht jedem Schach-Normalo gegeben, das Wartenmüssen derart sinnvoll und entspannt zu zelebrieren. Womit wir wieder bei den schon erwähnten Ramadacupturnieren wären. Weit weniger gern als an die schönen Turniere in vorweihnachtlicher Atmosphäre denkt der Schreiber dieser Zeilen nämlich an die seinerzeitigen höchst zeitintensiven Eröffnungsveranstaltungen dieser Turniere zurück. Das Beobachten des Redenschwingens der Offiziellen und vor allem der währenddessen ungeduldig wartenden Spieler stand Inspirations-Pate für das nachfolgende Gedicht:

Auftaktrunde

Ein Spieler sitzt im Schachsaal still
Und wartet, weil er spielen will,
Auf die Open-Auftaktrunde;
Wartet eine Viertelstunde,
Bis ein Anzugmensch erscheint,
Vorn, von dem der Spieler meint:

Dieser muss der Schiri sein,
Läutet gleich die Runde ein!
Der Spieler grinst, er freut sich schon,
Da greift der vorn zum Mikrofon,
Stellt sich als Hotelchef vor,
Schwadroniert und dankt fürs Ohr.

Nach jenem kommt der Präsident
Vom Schachverband, der Zahlen nennt,
Diesem folgt der Bürgermeister,
„Schach – das Spiel der großen Geister!”
Weiß der und noch andre Binsen;
Spieler gähnen, manche grinsen,

Alle harren auf den Start.
Dann wird noch wer angekarrt:
Der Touristikchef des Kreises
Sagt was Langes und sehr Leises;
Ungeduldig wirkt die Halle,
Mit den Hufen scharren alle,

Einer zieht schon sein e4.
Da springt noch wer durch die Tür:
Der Landrat grüßt beglückt und spricht,
Noch immer läuft die Schachuhr nicht
Und unser Spieler, der genannt,
Ist längst erbost und angespannt,

Kann das alles kaum ertragen,
Hörte gern den Schiri sagen
Alle Bretter seien frei.
Eine Stunde zieht vorbei,
Unser Spieler ist am Ende,
Reibt sich schwitzend beide Hände,

Ist empört, nein glüht vor Wut!
Schimpft im Innern auf die Brut,
Die es wagt, so lang zu quatschen!
Schließlich – alle Spieler klatschen
Und beginnen froh ihr Spiel.
Nur dem einen wurd’s zu viel:

Kurz vorm Ende aller Reden
Ging er, fluchend still auf jeden,
Raus und zog verärgert fort,
Ließ sein ganzes Startgeld dort,
Griff im Gasthaus sein Gepäck
Und fuhr Richtung Heimat weg.

Touristikchef, Verbandpräsident, Landrat, Hotelchef, Organisationschef, Bürgermeister: Vor Beginn der Auftaktrunde der Ramada-Cup-Turniere versammelte hinter dem Mikrofon stets eine ganze Reihe von Anzugmenschen, um den Spielern Vorträge zu halten, die sie nicht hören wollten. Die Erinnerung daran inspirierte unseren Autor zu obenstehendem Gedicht. | via Schachbund

Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de

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