Kasimdzhanov über Carlsens Titelmüdigkeit: “Der Weltmeister sollte spielen, bis ihn jemand schlägt.”

Knapp drei Wochen noch, dann beginnt das Kandidatenturnier, bei dem acht Elitegroßmeister den kommenden WM-Herausforderer ermitteln werden. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wird Großmeister Rustam Kasimdzhanov dem Wettbewerb als Unbeteiligter zuschauen. Weder wird er (wie 2014/16/18/20) einen der Kandidaten zum Sieg zu coachen versuchen, noch wird er (wie 2008/10/12) als Sekundant des Weltmeisters Schwächen des kommenden Herausforderers aufzuspüren versuchen.

Mit der Zuschauerrolle sei er glücklich, sagt der Vater zweier Kinder – und fügt lachend hinzu: „Die WM-Kandidaten können einmal ohne mich zurechtkommen.“

Der erste Teil des Interviews mit Rustam Kasimdzhanov.

Wir haben im zweiten Teil des Interviews mit Rustam Kasimdzhanov über seine Arbeit als Trainer gesprochen, über das Ende seiner Spielerkarriere – und natürlich über den bevorstehenden Wettbewerb der Kandidaten, der im Schatten von Magnus Carlsens Ankündigung steht, seinen Titel wahrscheinlich nicht zu verteidigen. „Damit beeinflusst er den Verlauf, das durfte er nicht machen“, sagt Kasimdzhanov.

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Nur Zuschauer und glücklich damit: Rustam Kasimdzhanov, einer der begehrtesten Schachtrainer der Welt. | Foto: Lennart Ootes/Grand Chess Tour

Rustam, vor einigen Monaten hast du deine Zusammenarbeit mit Fabiano Caruana beendet. Was machst du jetzt?

Über zu wenig Arbeit kann ich mich nicht beklagen. Ich gebe viel Training, teilweise online, teilweise von Angesicht zu Angesicht. Mit dem niederländischen Nachwuchs habe ich zuletzt gearbeitet, traditionell mache ich viel mit der usbekischen Mannschaft. Auch mit der deutschen Mannschaft habe ich in diesem Jahr schon trainiert. Dazu kommt, dass die Bundesliga gerade häufig spielt, um die Saison 2022 bis zum Sommer durchzuziehen. Wir haben gerade alle zwei Wochen zwei Matches.

Hat Matthias Blübaum auch dank deines Trainings die Europameisterschaft gewonnen?

Den Titel zu holen, war in allererster Linie eine starke Leistung von Matthias. Aber wir hatten uns kurz zuvor mit der deutschen Mannschaft in einem Sportzentrum getroffen und viel am Schach gearbeitet, wenngleich nicht ausschließlich. Zum Ausgleich haben wir auch Fußball und Basketball gespielt. Das war sehr schön.

“Starke Leistung von Matthias”: Am Ende war es eine Zitterpartie (siehe Video), aber Matthias Blübaums Nerven hielten, und dann war er Europameister. In den Wochen zuvor hatte der deutsche Kader mit Rustam Kasimdzhanov trainiert.

Wie siehst die Chancen der deutschen Mannschaft bei der bevorstehenden Schacholympiade?

Jede starke Mannschaft hat Chancen auf eine Medaille, wenn es gut läuft, auch die deutsche. 2014 zum Beispiel war Usbekistan kurz davor, eine Medaille zu gewinnen, es kam alles auf das Match in der letzten Runde gegen Indien an. Das haben wir dann leider verloren, und die Inder standen auf dem Treppchen. 2011 ist Deutschland Europameister geworden. Chancen gibt es immer. Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft stark genug ist, oben mitzuspielen, aber ohne etwas Glück in den letzten Runden wird es nicht gehen.

Wie sieht es in Usbekistan aus?

Wir erleben goldene Zeiten, was unsere Jugend betrifft. Ganz vorn steht natürlich Nodirbek Abdusattorov, der die Schnellschach-WM gewonnen hat, eine außerordentliche Leistung. Nodirbek hat in einem Turnier Carlsen, Caruana und Aronian geschlagen. Und Nepomniachtchi sogar mehrmals im Laufe des Tiebreaks! Aber Abdusattorov ist nicht alleine, es gibt weitere sehr begabte junge Spieler. In Usbekistan bewegt sich einiges, und ich trage dazu bei, was ich kann.

Nodirbek Abdusattorov (17) bei der Schnellschach-WM Ende 2021, die er überraschend gewann. | Foto: Rafal Oleksiewicz/FIDE

Was macht der Schachspieler Rustam Kasimdzhanov?

Seit einiger Zeit spiele ich keine Turniere mehr. Offen gesagt, als Schachspieler habe ich keine Ambitionen mehr. Ich wache nicht morgens auf und denke, ach, dieses oder jenes Turnier möchte ich unbedingt noch gewinnen. Von solchem Druck bin ich jetzt frei, ich vermisse das auch gar nicht. Mein Leben ist deutlich ruhiger und geregelter, wenn ich als Trainer arbeite und nicht als Spieler…

…in der Bundesliga hast du für Baden-Baden bislang jede Runde gespielt?!

Ja, das ist etwas Geregeltes ohne allzu großen Aufwand, und ich bin immer noch stark genug, Bundesliga zu spielen. Aber darüber hinaus spiele ich kein Turnierschach mehr.

“Bin immer noch stark genug Bundesliga zu spielen.”

Dann war Dortmund 2020 dein letztes Rundenturnier? Und der Wasser-Einbruch der Auslöser?

Dortmund war das Turnier, nach dem ich dachte, dass ich mir Profischach als Spieler nicht mehr antun möchte. Aber das ist in keiner Weise mit einem Vorwurf an die Organisatoren verbunden, die haben ja gar nichts falsch gemacht, sondern einfach Pech gehabt. Es war dumm gelaufen – und für mich ein Zeichen, dass ich lieber Trainer sein möchte.

Bald beginnt das Kandidatenturnier – ohne den Elitetrainer Rustam Kasimdzhanov.

Die WM-Kandidaten können einmal ohne mich zurechtkommen (lacht). Ich bin glücklich damit, das Kandidatenturnier als Zuschauer zu verfolgen. Für mich wäre der einzige Weg zurück in die Elite, wenn einer meiner jungen Spieler es bis ganz nach oben schafft, Abdusattorov zum Beispiel. Dann wäre ich wahrscheinlich an seiner Seite.

Wer ist Favorit, das Kandidatenturnier zu gewinnen?

Fabiano Caruana. Offenbar bin ich nicht der Einzige, der das so sieht. Bei den Buchmachern liegt Fabiano auch vorne. Viel wird davon abhängen, in welcher Verfassung Ding Liren ist. Wenn Ding gut spielt, ist er ein Riese. Aber ob er gut spielt? Ding Liren ist nicht der Stabilste.

Beim vergangenen Kandidatenturnier hat er eher nicht gut gespielt.

Unter außergewöhnlichen Umständen! Der erste internationale Spitzensportler in Quarantäne überhaupt war der Schachgroßmeister Ding Liren im Februar 2020 in Russland. Seine Leistung speziell in der ersten Turnierhälfte führe ich darauf zurück, dass er sich von den Umständen nicht freimachen konnte. Ob er jetzt zu seiner Bestform findet, ist schwierig vorherzusagen. Als Fan von Ding Liren würde ich es mir wünschen, es würde mich freuen. Ding Liren auf der Höhe seines Könnens spielt schönes, sauberes Schach, er hat kaum Schwächen. Wunderbar anzusehen. Viel besser kann man Schach nicht spielen.

Und Alireza Firouzja?

Schwierig einzuschätzen. Trotz seiner 2800 sehe ich ihn noch nicht als Teil der Elite. Ihm fehlen die Erfolge, die Erfahrung, da hat er aus meiner Sicht einiges zu beweisen. Wenn du einmal 2800 Elo erreichst, heißt das noch nicht, dass du auf Jahre hinaus ein Topspieler sein wirst. Wir haben das bei Hikaru Nakamura gesehen, bei Anish Giri, bei Wesley So. Diese Spieler hatten 2800, aber haben es nicht geschafft, sich auf dem 2800-Level zu etablieren. Den Hype um Alireza Firouzja halte ich für übertrieben, auch Magnus Carlsens Aussage, Alireza Firouzja sei ein Genie. Ich habe mir seine Partien angeschaut und nicht viel Geniales gefunden. Vielleicht hat Magnus trotzdem Recht, aber dann brauche ich eine neue Brille.

Die WM-Kandidaten 2022. | via FIDE

Magnus Carlsen hat neulich bekräftigt, dass er seinen Titel wahrscheinlich nicht verteidigen wird.

Mit so einer Aussage beeinflusst er den Verlauf des Kandidatenturniers. Zumindest müsste er abwarten, bis das Turnier vorbei ist, bevor er so etwas sagt. Aber vorher? Das durfte er nicht machen. Allerdings ist Carlsen nicht der erste Schachweltmeister, der sich ungehörig weit aus dem Fenster lehnt. Die Schachgeschichte kennt einige Weltmeister, die mit ihren Kommentaren oder Handlungen den Lauf der Dinge beeinflusst haben. Fischer zum Beispiel war es egal, wie sich das Schach entwickelt, er kreiste um sich. Kasparow, ein ähnlicher Fall. Und jetzt Carlsen.

Wie in den 1970er und 1990ern wackelt jetzt die Tradition des Übergangs von einem zum anderen Weltmeister.

Ein sauberer Kampf und ein sauberer Übergang von einem zum anderen Weltmeister ist für den Sport und seine Fans wichtig. Der neue Weltmeister soll den alten Weltmeister schlagen. So sollte es sein, aber so ist es nicht. Die Schachgeschichte kennt einige Brüche, weil die Weltmeister die Tradition nicht ehren. Ich finde das schade. Aus meiner Sicht sollte der Weltmeister spielen, bis ihn jemand schlägt. Das ist die Aufgabe des Weltmeisters: eines Tages ein Match verlieren und einem Nachfolger die Krone übergeben.

Das WM-Match gegen Ian Nepomniachtchi (r.) könnte Magnus Carlsens letztes gewesen sein. Der Norweger ist titelmüde und des WM-Modus‘ überdrüssig. | Foto: Lennart Ootes/FIDE

(Titelfoto: Lennart Ootes/FIDE)

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Thorsten
Thorsten
1 Jahr zuvor

Interessant. Leider hat Rustam nichts zu seiner Zusammenarbeit mit Arjun Erigaisi gesagt bzw. Du hast ihn nicht gefragt. Vermutlich war die Zusammenarbeit ebenfalls nur punktuell, interessant ist aber, ob und wie das fortgeführt wird. Vermutlich will er jetzt erstmal ein paar Freiheiten geniessen und sich nicht wieder an “einen” Spieler binden. Magnus wird es offenkundig nicht. Denn nach der Fide-Wahl ist bald ein Chefcoach-Job vakant…

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[…] die feststellen, der Franzose sei noch lange nicht in der 2800-Liga etabliert (siehe dazu auch das Perlen-Interview mit Rustam Kasimdzhanov). Auf dem Saint-Louis-Kanal rätseln heute die Großmeister Alejandro […]

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[…] von 2004-2005 und spielt derzeit bei der OSG Baden-Baden in der deutschen Schach-Bundesliga – hier gibt es ein Interview mit ihm. Anand war FIDE-Weltmeister von 2000-2002 und bestieg 2007 auch den Thron der wiedervereinigten […]