“Dass mein Gegner in Berlin sitzt, hatte ich bald vergessen”

Den „wertvollsten Sekundanten der Welt“ nannte ihn einst die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Von den drei Großmeistern, die an der Millennium-Hybrid-Liga teilgenommen haben, ist Rustam Kasimdzhanov der mit Abstand bekannteste. Und, obwohl er kaum noch spielt, der beste. Mit knapp 2670 Elo steht der Schachspieler Kasimdzhanov unverändert in den Top 100 der Welt.

Aber vor allem arbeitet der einstige FIDE-Weltmeister dieser Tage als Trainer: als einer der gefragtesten, wenn nicht der gefragteste. Für den Niedersächsischen Schachverband war es ein Coup, als es Ende 2019 gelang, den im Rheinland lebenden Usbeken als Coach für den niedersächsischen Leistungskader zu verpflichten:

Im entscheidenden Match des ersten „Millennium Hybrid Masters“ gegen den Bundesligisten und späteren Vizemeister SF Berlin setzten die Niedersachsen ihren Trainer als Spieler ein. Und so kam es zur bis heute ersten auf elektronischen Turnierbrettern gespielten Hybrid-Partie zwischen Großmeistern: Rustam Kasimdzhanov in Niedersachsen spielte gegen Marco Baldauf in Berlin. Im Interview berichtet Rustam Kasimdzhanov darüber, wie er die Partie erlebt hat und wie er die Zukunft der neuen Spielform sieht.

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Rustams Festung: Die kommentierte Partie zwischen den Großmeistern Rustam Kasimdzhanov und Marco Baldauf. Im Bild: die Schluss-Stellung, in der Weiß die Gewinnversuche aufgab.

Rustam, lass uns über deine Hybrid-Partie gegen Marco Baldauf sprechen. War das wirklich eine Festung am Ende?

Ich war nicht ganz sicher, dass ich es remis halte, aber das lag vor allem an meiner knappen Zeit. Was die Stellung betrifft, hatte ich das Gefühl, dass Weiß nicht gewinnen kann, wenn ich richtig spiele.

Wie hast du die Partie erlebt?

Die begann mit Ungewissheit. Ich wusste ja gar nicht, was auf mich zukommt. Auch dass ich mit Schwarz so einen starken Gegner bekomme, hatte ich nicht erwartet. Insofern war das am Anfang sehr neu für mich. Aber zu meiner Überraschung fühlte es sich bald wie eine ganz normale Turnierpartie in einem Mannschaftskampf an…

…die nicht ideal für dich begann.

Ich hatte Eröffnungsschwierigkeiten und musste erstmal sehen, dass ich nicht sofort verliere. Die damit verbundenen Emotionen waren dieselben wie in jeder anderen Partie, in der mir die Eröffnung misslingt.

Obwohl dir niemand gegenübersaß.

Ob dir nun jemand gegenübersitzt oder nicht, eines haben alle Schachpartien gemeinsam: Du willst nicht verlieren. Als es anfangs schlecht lief, hat mich vor allem der Kampf gegen die drohende Niederlage beschäftigt. Dass mein Gegner in Berlin sitzt, hatte ich bald vergessen.

„Fühlte sich wie eine ganz normale Turnierpartie an“: Rustam Kasimdzhanov während seiner Hybrid-Liga-Partie gegen Marco Baldauf.

Einander sehen konntet ihr durchaus.

Ja, es gab Kameras und Monitore. Ich konnte Marco sehen, und ich wusste, dass ich gesehen werde. Aber das spielte keine große Rolle – genau wie der Umstand, dass ich seine Züge ausführen musste. Daran hatte ich mich auf Anhieb gewöhnt. Sein Zug blinkt auf dem Brett, ich führe ihn aus, und dann muss ich meinen Antwortzug finden. Und wenn er am Zug ist, kann ich aufstehen, auf die anderen Bretter schauen oder mir etwas zu trinken holen. Wie gesagt, dem Gefühl nach eine ganz normale Turnierpartie in einer Liga. Meine Mitspieler haben das genauso empfunden.

Während der Pandemie lag der Spielbetrieb brach, jetzt kommen auf allen Ebenen die Ligen nur mühsam wieder in Schwung, die Spieler bleiben weg. Traditionelles Ligaschach kämpft speziell auf dem Amateurlevel mit einem Akzeptanzproblem. Nach deiner Erfahrung: Kann hybrides Schach eine Ergänzung oder Alternative zu traditionellen Wettbewerben am Brett sein?  

Die Frage würde ich im großen Kontext sehen, nicht nur aufs Schach und unsere Ligen bezogen. Für den Markt, für die Wirtschaft stellt sich die Frage, was jetzt passiert. Gehen wir alle wieder ins Büro, leben wir unser Leben so weiter, wie wir das bis Anfang 2020 getan haben? Im Lauf der Pandemie kam die Vorstellung auf, dass wir weite Teile unseres Lebens auch online führen können. Jetzt deutet vieles darauf hin, dass diese Vorstellung nicht ganz richtig war. Die Menschen sind Zoom-Begegnungen und der Arbeit im Home-Office überdrüssig. Große Firmen mit Online-Schwerpunkt, Netflix zum Beispiel, bekommen das gerade zu spüren. Beim Schach bin ich mir nicht sicher. Onlineschach hat sich etabliert, es wird bleiben, aber ich habe das Gefühl, dass wir jetzt eine Wende hin zu mehr Turnieren am Brett sehen. Menschen sind soziale Wesen, wir wollen einander begegnen.

Das ist ja eine Idee von hybridem Schach. Wir spielen im Kreise unserer Freunde am Brett, nur die Gegner sitzen woanders.

Nach meiner Erfahrung in der Millennium-Liga ist hybrides Schach näher am Schach am Brett als am Onlineschach. Ich habe am Turnierbrett meine Partie gespielt, bin im Turniersaal herumgelaufen: Mit Onlineschach hatte das wenig zu tun. Am ehesten sehe ich hybride Mannschaftskämpfe als eine günstige Möglichkeit, eine Profiliga aufzuziehen. Nach meinem Gefühl geben die Spitzenvereine das meiste Geld für Reisen und Spesen aus, deutlich mehr als für Honorare. Aber aktuell haben die meisten weniger Geld als noch vor zwei oder drei Jahren. Eine Alternative, die Reise- und Übernachtungskosten spart, käme gerade recht. Hybrid-Schach könnte auch eine Möglichkeit sein, Leistungskadern wie unserem niedersächsischen ernsthafte Spielpraxis am Brett zu geben, ohne dass die Spieler dafür groß reisen müssen. Die Technik muss allerdings noch ausreifen, aber ich nehme an, dass das automatisch passiert.

Hattest du technische Probleme?

Eigentlich hat es prima funktioniert. In meiner Partie hatten wir einen Verbindungsabbruch, das kann dir online auch passieren. Unsere Schiedsrichter haben das schnell und unaufgeregt geregelt, dann ging es weiter. Ich bin kein Techniker, insofern hat mich die Kompetenz der Leute, die es organisieren und als Schiedsrichter begleiten, sehr beeindruckt.

https://youtu.be/FlgQvENes1Q
Ein Kasim-Glanzsieg in der Bundesliga. Jetzt regt der einstige FIDE-Weltmeister eine hybride Profiliga an. Warum auch nicht? Die Umwelt würde sich freuen, die Etats der Vereine wären entlastet.

(Wird fortgesetzt. Demnächst: Rustam Kasimdzhanov über das Ende seiner Karriere als Spieler, seine Arbeit als Trainer unter anderem mit der deutschen Nationalmannschaft, über das bevorstehende WM-Kandidatenturnier und die Titelmüdigkeit Magnus Carlsens.)

(Titelfoto: Theo Heinze)

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Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

“Das ist ja eine Idee von hybridem Schach. Wir spielen im Kreise unserer Freunde am Brett, nur die Gegner sitzen woanders.” Das impliziert, dass die Gegner keine Freunde sind, und auch keine “sozialen Kontakte”?! Im Hybridschach mag das sogar stimmen – Gegner quer durch die Republik, die man nicht persönlich kennt. Auch da fehlt manchen hinterher vielleicht gemeinsame Analyse, Unterhaltung statt Chat, gemeinsames Bierchen statt Zuprosten am Monitor. Und man will vielleicht nicht nur denen begegnen, denen man ständig begegnet. Es mag stimmen, dass beim “traditionellen Ligaschach” Spieler wegbleiben. Das hat dann verglichen mit Hybridschach womöglich zwei Gründe: Es sind… Weiterlesen »

Last edited 1 Jahr zuvor by Thomas Richter
Uwe Böhm
Uwe Böhm
1 Jahr zuvor

In der Bundesliga würden die Raumkosten niedriger ausfallen.

An den Reisekosten ändert sich nichts, da sich die Spieler einer Mannschaft an ein- und demselben Ort treffen müssen.

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