Wagner, Beethoven und Zürich 1953

Gastautor und Bondscoach Jochen Jansen am Spielfeldrand (beim Faustball, nicht Schach).

Als Bondscoach Jochen Jansen jetzt in der Schweiz die niederländische Faustball-Nationalmannschaft durch die Weltmeisterschaft führte (für den Titel hat es nicht ganz gereicht), nahm er sich einen Tag Auszeit, um sich seinem Hobby Schach zu widmen.

Wenn er schon in der Schweiz ist, wollte er dem legendären Kandidatenturnier von 1953 nachspüren, eine schachliche Spurensuche, deren ersten Teil wir unlängst veröffentlicht haben, niedergeschrieben von Jansen höchstselbst, dem neuesten Gastautoren dieser Seite. Heute Teil zwei, und der beginnt mit einer Fahrt über den Rhein. Und mit Wagner. Und Siegfried:

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“Siegfrieds Rheinfahrt”

Von Jochen Jansen (Text und Fotos)

Am Vormittag des 18. August packte ich bei gepflegten 30° im Schatten mein heißgeliebtes Turnierbuch in den Rucksack und machte mich auf zur S12, um “uff Neuhausen” an den Rheinfall zu fahren. Kopfhörer auf, und Spotify empfiehlt Wagner: Siegfrieds Rheinfahrt. Das passt.

Wagner ist kaum verklungen, da erreicht der Zug bereits Schloss Laufen am Rheinfall, von wo er mit spektakulärem Blick auf den Rheinfall den Rhein überquert. Unmittelbar danach fuhr der Zug in den Bahnhof von Neuhausen ein: Die Spurensuche konnte beginnen!

Der Zug überquert den Rhein.

Erste Station meiner Spurensuche war die katholische Kirche nebst Pfarrgemeindehaus. Ein Vergleich mit dem Foto aus dem Turniersaal in Euwes Buch macht schnell klar, dass dies nicht das gesuchte Gebäude sein kann. Also weiter zur reformierten Kirche. Spotify, spiele Beethovens Sechste, erster Satz: “Erwachen heiterer Empfindung bei der Ankunft”.

Das Buch zum Turnier von Max Euwe.

Die reformierte Kirche von Neuhausen war schnell gefunden und ebenso schnell erreicht. Das Gemeindehaus war nicht ganz so leicht zu entdecken: Rechts hinter der Kirche entdeckte ich ein zur Kirche gehörendes Haus mit Nebengebäuden, das vom Baustil her zumindest nicht sofort als möglicher Turnierort auszuschließen war. Dennoch: Wo da ein Turniersaal Platz hätte, wollte sich mir nicht erschließen. Links der Kirche war ein Platz, auf dem an diesem Tage aus Anlass des “Rheinfall Laufs” zahlreiche Buden und Stände aufgebaut waren. Dazu noch kamen noch jede Menge Sportler und Besucher.

Das Buch zum Turnier von David Bronstein.

Ich sah einen älteren Herrn, der ob seiner Kleidung offenbar zu den Organisatoren oder Helfern der Sportveranstaltung zu gehören schien, und weswegen ich annahm, dass er hier aus Neuhausen stamme: Richtig! Ich fragte ihn nach dem Kirchengemeindehaus und dem Schachturnier: Ja: Hier ist noch ein Gebäude, und dies sei ganz bestimmt das Kirchengemeindehaus, wurde mir erklärt, und ja, von diesem Schachturnier habe er irgendwann mal irgendwas gehört, aber ob das hier gewesen sei, das wisse er nicht. Das Gebäude habe aber einen Saal, der sich für derartige Veranstaltung nutzen ließe.

Das Kirchengemeindehaus 2019.

Ich ging in freudiger Erwartung zum als solchem identifizierten Kirchengemeindehaus, das nun Chilegemeindehaus heißt, und das neben besagten Saal noch ein Jugendzentrum beherbergt, und fand es leider verschlossen vor!

Auf der Rückseite konnte ich große und hohe Fenster erkennen, die denen auf dem Foto in Euwes Buch zumindest nicht unähnlich waren. Man darf getrost unterstellen, dass in einem reichen Land wie der Schweiz zumindest die Fenster seit 1953 mal renoviert und modernisiert wurden. Dass diese also heute nicht mehr genau so wie auf dem Foto von 1953 aussehen muss also nicht unbedingt etwas bedeuten.

Der Blick durch die verschlossene Eingangstüre ließ im Inneren aber bereits in der Eingangshalle die typischen Rundbögen über Türen und Fenstern erkennen, wie sie auch auf dem Foto in Euwes Buch zu sehen sind. Ich bin mir nun ziemlich sicher, dass ich hier richtig bin! Dummerweise ist geschlossen. Auch auf mein Klingeln öffnet niemand – schade!

Blick durch die verschlossene Eingangstür. Die Rundbögen sind auch in Euwes Buch zu sehen. Ergo: Hier wurde 1953 Schach gespielt.

Etwas enttäuscht machte ich noch ein Foto vom Buch mit Gebäude im Hintergrund, ehe ich dann nach Zürich weiter reisen wollte.

Doch da: Ein Lichtblick (im Wortsinne)! Ich sah, dass im Inneren ein Licht angegangen war und eilte zurück zum Eingang. Tatsächlich: Ich sah einen Herrn im Inneren und klopfte gegen die Tür.

Mir wurde geöffnet, und ich fragte, ob ich kurz herein kommen könne. Das sei nicht möglich, es sei geschlossen. Ich zeigte dem Herrn das Buch und erklärte ihm mein Anliegen. “Was, das war hier bei uns?”. Sein Interesse war geweckt, und er bat mich hinein und führte mich in den Saal. Dort zeigte ich ihm das Bild vom Turniersaal: “Doch, das könnte hier sein … die großen Fenster sind anders, die sind aber auch modernisiert worden …. aber hier, schauen Sie: Die Tür, der Rundbogen! Das ist hier, tatsächlich genau hier!”. Ich war am Ziel: Ich stand genau am dem Ort, an dem 1953 die Weltelite des Schachs gespielt hat!

Hier noch einmal der Spielsaal ohne den störenden älteren Herrn 😉

Schachelite im Kampf: So sah es 1953 in Turniersaal aus.

“Siegfried Idyll”

Das hatte ja prima geklappt. Nun also erstmal an den Rheinfall: Das war bei mittlerweile über 30° und Massen an Touristen kein reines Vergnügen, aber dennoch unbedingt lohnenswert. Das Ohren betäubende Tosen der Fluten, wie sich das Wasser den Rheinfall herunter stürzt und an den mitten im Strom liegenden Felsen bricht, das ist aller Mühen wert! 

Ich mache ein kleines Päuschen mit Blick auf den Rheinfall und stöbere ein wenig in meinem heißgeliebten Buch: Die Ansicht kommt mir doch bekannt vor. Tatsächlich: Auf einem weiteren Foto entdecke ich genau diese Perspektive. Hier stehen Spieler und Gefolge zum Gruppenbild auf eben jener Buhne, die hier vor mir liegt.

Rheinfall 2019.
Rheinfall 1953. Wer kann die Herren von links nach rechts benennen?

Spotify spielt wieder Wagner, dieses Mal “Siegfried Idyll”: Herrlich!

Hochzufrieden gehe ich zum Bahnhof zurück und fahre “uff Züri”. Die Fahrt durch die beschauliche Schweizer Landschaft war eine willkommene Erholung: Nicht nur, dass die Züge der SBB stets pünktlich und sauber sind, nein, sie haben im Gegensatz zu deutschen ICE auch funktionierende Klimaanlagen. In Zürich angekommen, verlasse ich den Hauptbahnhof am Bahnhofsquai.

Zürich, Bahnhofsquai.

Ich muss nur der Limmat bis an den Zürichsee folgen, und dort liegt dann das Kongresshaus, das auch die “Neue Tonhalle” umfasst. Dieser Teil Zürichs ist derart umwerfend schön, dass man die brüllende Hitze komplett vergisst.

Die Limmat, im Hintergrund der Zürichsee.

Das gilt erst recht für den Zürichsee: Das türkisfarbene Wasser, die Boote darauf, im Hintergrund die Berge. Da vergesse ich nicht nur die Hitze, sondern für einige Zeit auch komplett, weswegen ich eigentlich hier bin. Ich setze mich auf eine Bank und genieße den An- und Augenblick.

Dann entsinne ich mich aber wieder meines eigentlichen Reiseziels: Eigentlich sollte ich mich nur umdrehen müssen, und dann sollte ich das Kongresshaus in all seiner Pracht sehen können. Ich trinke noch einen Schluck Wasser, packe mein Buch aus, drehe mich um, und:

“Götterdämmerung”

Eine Katastrophe: Das Kongresshaus wird renoviert und ist vollständig verhüllt und eingerüstet!

Ich blicke auf die Längsseite des Komplexes in der Claridenstrasse: Noch schlimmer, Baumaschinen und Container!

Kongresshaus, Seefront.

Also gehe ich durch die Beethovenstraße Richtung Eingang der Tonhalle. Hier hat vor kurzem ja noch die von mir hochverehrte niederländische Violinistin Janine Jansen (ja, wir heißen beide “J.Jansen”; nein, nicht verwandt, und leider auch nicht verheiratet:-) als Artist in Residence gespielt. Doch auch hier bietet sich derselbe Anblick: Alles verhüllt und eingerüstet.

Kongresshaus, Eingang Tonhalle.

An ein Hineinkommen ist nicht einmal zu denken! Spotify, spiele Siegfrieds Trauermarsch aus Wagners Götterdämmerung 🙁

Ein wenig enttäuscht mache ich mich auf den Heimweg: Schade, dass ich nur am Ort der Endrunde des legendären Kandidatenturniers von 1953 war und nicht im Spielsaal (Kammermusiksaal) selbst war (so wie in Neuhausen). Die wunderschöne Altstadt Zürichs, die ich jetzt auf dem Weg zum Bahnhof durchstreife, lässt aber bald jede Enttäuschung verfliegen.

In der S12 Richtung Winterthur weicht schließlich auch das letzte bisschen Enttäuschung einem Hochgefühl. Was für eine Woche: Teilnahme an einer Weltmeisterschaft, eine Partie Schach über den Wolken, und schließlich war ich mit meinem Lieblingsschachbuch an all den Orten seiner Entstehung!

Ein ganz besonderes Erlebnis, das sich so in dieser Form wohl nicht allzu bald wiederholen dürfte!

Smyslov vor Bronstein und Reshevsky: Zürich 1953.
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