Deutschland bei der Schacholympiade: Solist mit Leichtigkeit, Orchester ohne Rhythmus

Der Weg zu Gold führte für beide Gewinner über die deutschen Teams. Nach ihrem 2,5:1,5 über Deutschland in der achten Runde hatten die Usbeken erstmals im Turnierverlauf die Podiumsplätze erklommen, während die Deutschen mit dieser zweiten Niederlage des Turniers schon fast aus dem Rennen um die Medaillen ausgeschieden waren. Die Ukrainerinnen legten mit ihrem hart erkämpften 2,5:1,5 über Deutschland in der zehnten Runde den Grundstein für den großen Coup in Runde elf.

Die Statistiken vergangener Schacholympiaden zeigen, dass in aller Regel 18 Punkte aus 11 Begegnungen nötig sind, um am Ende auf dem Treppchen zu stehen. Die junge Mannschaft aus Usbekistan sowie die lange führenden Armenier erzielten sogar 19. Nach Feinwertung waren die Usbeken deutlich vorne.

Beim Fußball zählt bei Punktgleichheit das Toverhältnis. Warum beim Schach nicht die Brettpunkte? Das würde jeder auf Anhieb verstehen. So, wie es ist, können nur Spezialisten erklären, warum am Ende Usbekistan vor den punktgleichen Armeniern Gold gewann.

Wie die Usbeken im offenen Turnier blieben die Ukrainerinnen bei den Frauen ohne Niederlage. Ihnen reichten 18 Punkte zu Gold, punktgleich mit den Georgierinnen, denen der schlechtere Tiebreak die Silbermedaillen bescherte.

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Ergebnisse, Randgeschichten, Hintergründe: Alles zur Schacholympiade von der ersten bis zur letzten Runde im Olympia-Ticker.

Die Inder, nicht nur Spielerinnen und Spieler, durften sich schon in den ersten Tagen des Wettbewerbs als Gewinner fühlen. Organisation, Gastfreundschaft und Enthusiasmus der Gastgeber wurden fast einhellig gepriesen.

https://youtu.be/4r6t1MoSN74
Der indische Kindergarten mit Aufsichtsperson Adhiban (2.v.l.) holte drei Einzelmedaillen und als Team Bronze.

Sportlich reichte es für zwei Bronzemedaillen. Die Talentansammlung „Indien 2“ schob sich mit einem 3:1 über Deutschland in der letzten Runde auf den dritten Platz – keine Überraschung. Viele Beobachter hatten damit gerechnet, dass Gukesh, Sarin, Pragg & Co. vor der nominell ersten Mannschaft Indiens landen würden.

Harika Dronashvalli nach der ersten Bronzemedaille für die indischen Frauen. | via FIDE

Speziell die starke Frauenmannschaft Indiens mit der im achten Monat schwangeren Harika Dronavalli dürfte sich mehr als Bronze ausgerechnet haben. Bis zur letzten Runde hatten die Inderinnen stets vorne gelegen oder sich die Führung zumindest geteilt. Und auch die jungen Inder können feststellen, dass mehr drin war. Hätte nicht Gukesh, der mit fabelhaften 8/8 gestartet war, in Runde 10 tief im Endspiel eine gewonnen geglaubte und eigentlich nicht zu verlierende Partie gegen Nodirbek Abdusattorov eingestellt, die 44. Schacholympiade wäre anders ausgegangen.

Vielleicht der dramatischste Moment einer an Dramen nicht armen Schacholympiade: Gukesh stellt die Partie gegen Abdusattorov ein.

Drei Einzelmedaillen für Indien 2 zeigen, wie stark das Team war: Nach seinem Schlussundenremis gegen Vincent Keymer schlug Gukesh am ersten Brett bei 9/11 auf, Performance 2867, Einzel-Gold für den 16-Jährigen. Auch Nihal Sarin (Gold, Brett 2) und Praggnanandhaa (Bronze, Brett 3) gewannen Einzelpreise. Raunak Sadhwani verpasste als viertbester Spieler an Brett fünf knapp das Podium.

Viele grüne Zahlen: die Live-Weltrangliste der Junioren nach der Schacholympiade. Hinter Firouzja hat sich Gukesh ein wenig abgesetzt, Erigaisi ist jetzt erstmals über 2700. Vincent Keymer hat bei der Schacholympiade seinen (auch) krankheitsbedingten Biel-Rückschlag mehr als kompensiert.

Die zuletzt vielbeachtete Live-Ratingliste der Junioren weist vor allem, aber nicht nur für die Inder Elozuwächse auf. Gukesh liegt jetzt klar auf dem zweiten Platz hinter Alireza Firouzja. Vier Inder sind unter den besten Zehn platziert, darunter Arjun Erigaisi, der als einziger Youngster bei „Indien 1“ spielte – und das überzeugend: 8,5/11, ungeschlagen, Performance 2767. Vincent Keymer hat in Chennai mit einer 2766-Performance am ersten Brett seinen Biel-Rückschlag mehr als kompensiert. Live steht der 17-Jährige nach der Olympiade bei 2680,4, knapp unter seinem bisherigen Hoch von 2686.

Schach ist auch Mannschaftssport. Speziell am armenischen Beispiel zeigen die Olympiaden immer wieder, dass ein funktionierendes, enthusiastisches Team mehr ist als die Summe seiner Teile. Diesmal mussten die Armenier sogar ohne ihren langjährigen Anführer Levon Aronian auskommen. Das mag sie erst recht angespornt haben.

https://youtu.be/82RilzWGkhs
Als Armenien gegen Indien 2 spielte, waren die Kameraleute weit mehr an Gukesh interessiert als an Gabriel Sargissian.

Gabriel Sargissian hat nach schwierigem Start das erste Brett Armeniens bestens bewacht. 4,5/5 erzielte der 38-Jährige in den wichtigen Schlussrunden, darunter Siege über die allesamt höher bewerteten Fabiano Caruana, Pentala Harikrishna, Shakhriyar Mamedyarov und Alexei Shirov.

Als Silbermedaillengewinner komplettieren die Armenier das Trio an der Tabellenspitze, das ausschließlich aus Mannschaften besteht, die nominell nicht einmal unter den zehn Erstgesetzten zu finden waren. Für den großen Favoriten USA hat es nur zu Platz fünf gereicht. Die amerikanische Ansammlung von Top-Ten-Spielern vermochte als Mannschaft bei weitem nicht die Leistung zu erbringen, die allein nach Elozahlen der Spieler zu erwarten gewesen wäre. Jetzt wird schon geunkt, wen Rex Sinquefield noch einkaufen könnte, um Team USA für den nächsten Versuch 2024 in Ungarn zu verstärken.

Überraschung des Turniers: Moldawien. An 48 gesetzt, nur ein Großmeister im Team – und am Ende auf Rang 6 knapp hinter den USA. Auch Litauen, an 35 gesetzt, performte weit über Erwartung: 16 Punkte, Platz 10.

Kaltstart in Indien? Die zu tief eingestellte Klimaanlage in beiden Spielsälen gehörte zu den ganz wenigen Kritikpunkten, die gelegentlich aufkamen. Entscheidende Auswirkungen auf den sportlichen Ausgang der Spiele hatten die 18 Grad an den Brettern (draußen: knapp 40) offenbar nicht.

Auch wenn am Ende drei hinter Deutschland gesetzte Mannschaften die Medaillen geholt haben: Unter 186 Teams am Ende nicht unter den ersten 3 zu landen, war das wahrscheinlichere Ergebnis. Für die Dramaturgie, auch aus Sicht des Berichterstatters, wäre ideal gewesen, hätten beide Teams ihre Medaillenchance bis zur letzten Runde intakt gehalten.

Theoretisch war in der elften Runde für die Männer ein Podiumsplatz möglich, ein eigener hoher Sieg über Indien 2 und eine Reihe maßgeschneiderter Ergebnisse an anderen Tischen vorausgesetzt – extrem unwahrscheinlich. Praktisch betrachtet: In der Form von Chennai waren die deutschen Herren schlicht nicht gut genug, um an ein 3,5:0,5 über die jungen Inder auch nur zu denken.

Auf Augenhöhe mit den Muzychuk-Schwestern: Elisabeth Pähtz und Josefine Heinemann. | Foto: Maria Emelianova/chess.com

Tatsächlich waren die Frauen näher dran, auch wenn deren Medaillentraum schon in Runde 10 geplatzt war. Aber wie! Im Direktvergleich begegneten Yuri Yakovichs Schützlinge den späteren Goldmedaillengewinnerinnen auf Augenhöhe. Elisabeth Pähtz zeigte, dass sie gegen die internationale Elite erfolgreich Beton anmischen kann, auch wenn sie nicht in Topform ist. Josefine Heinemann bestätigte, dass neben Pähtz am ehesten sie diejenige ist, die in einzelnen Partien auf internationalem Spitzenlevel spielen und punkten kann.

Heinemanns Schwarzremis gegen Anna Muzychuk mag die beste individuelle Leistung der Deutschen bei der Schacholympiade gewesen sein, bestimmt die zäheste. Ausgangs der Eröffnung war die deutsche Nummer zwei verkehrtherum in eine Einbahnstraße abgebogen. Nach 20 Zügen sah sie sich einem ukrainischen Läuferpaar und einer 200-Elo-Übermacht ausgesetzt, und das ohne Gegenspiel und Ziele.

Wer dachte, nun würde Heinemann genüsslich niedergeknetet (was das normale Szenario gewesen wäre), wurde einige Stunden später in Zug 76 eines Besseren belehrt. Die WM-Finalistin von 2017 stellte die Gewinnversuche ein und bot remis an. Heinemann hatte gehalten, die ukrainische Doppelspitze war vollends neutralisiert. Mit ein wenig mehr Schlachtenglück an den umkämpften beiden unteren Brettern wäre dieser Kampf anders gelaufen.

https://youtu.be/nS4nKYcw3yA
Schon bei seiner ersten Olympiade als deutsche Nummer eins offenbarte Vincent Keymer, dass für die Nationalmannschaft am ersten Brett künftig nicht nur gilt, möglichst erfolgreich Beton anzurühren.

Oben zu halten und unten zu punkten, war bislang die Strategie der traditionell ausgeglichen besetzten Herren gewesen, um erfolgreich Schacholympiaden zu bestreiten. Das 2022er-Turnier offenbart nun eine neue Option: Oben punkten und damit Wackler an unteren Brettern wettmachen.

Bei seiner ersten Schacholympiade zum ersten Mal am ersten Brett der deutschen Nationalmannschaft hat Vincent Keymer sogleich seine Ausnahmestellung im deutschen Schach demonstriert. 6 Punkte aus 8 Partien, keine Niederlage, Performance 2766 – Weltklasse, mehrere Klassen besser als das, was seine Mitspieler abgeliefert haben. Keymer ist schon jetzt der herausragende Solist. Leider hat bei seiner Premiere das Orchester der Mitspieler keinen Rhythmus gefunden.

Auch mit einem Spitzenspieler der Extraklasse und dahinter vier Großmeistern, die gehobenen internationalen Ansprüchen genügen: Um als Team oben zu landen, müssen die Individuen Topleistungen abrufen. 2022 spielten vier Fünftel der deutschen Nationalmannschaft klar unter Normalform. Dass ganz am Ende eines durchwachsenen Turniers trotzdem noch eine Medaille drin war, zeigt die Möglichkeiten.

Die Olympia-Analyse im Video: Vincent Keymer führte eine ansonsten gleichermaßen unter Form spielende Riege an. Bei den Frauen überragte Jana Schneider am fünften Brett.

Erfrischend in diesem Kontext: die zerknirschten Spielerstimmen. Ob Matthias Blübaum, Rasmus Svane oder Dmitrij Kollars, die Nationalspieler waren unzufrieden mit ihren Leistungen und gingen hart mit sich ins Gericht. Das zeigt: Der Deutschlandvierer war nicht zum Schachurlaub nach Indien geflogen, sondern beseelt vom Ehrgeiz, im Konzert der Schachnationen die erste Geige zu spielen.

Nach rumpeliger erster Hälfte bot das Turnier einen potenziellen Wendepunkt, eine Gelegenheit, von vorne anzufangen. Das deutsche 2,5:1,5 gegen Serbien in der siebten Runde war weit entfernt von einer mit Leichtigkeit vorgetragenen Sinfonie. Eher war es ein intensiver Kampf, viel Biegen, viel Brechen, aber eben ein letztlich erfolgreicher Kampf und ein verdienter Sieg gegen einen starken Gegner. Leider gelang es dem Team nicht, daraus Schwung für die weiteren Aufgaben zu ziehen.

https://youtu.be/FLM4blFwtEY
Auf Erfolgskurs? Ein Indiz, dass hier aus der Fanperspektive berichtet wird. Nach dem hart erkämpften Sieg über Serbien hoffte nicht nur derjenige, der “Erfolgskurs” geschrieben hat, dass Keymer & Co. nun stabiler werden.

In Sachen schachlicher Vorbereitung waren die Deutschen weitgehend auf der Höhe (einzige krasse Ausnahme: Keymers Eröffnungsdesaster gegen Abdusattorov). Für das Team drumherum gilt es nun auszuloten, wie sich die Umstände dahingehend optimieren lassen, dass beim nächsten Mal alle in Topform spielen. Vielleicht ist Mentaltraining keine schlechte Idee? Die Frauen standen vor der Olympiade einem Pilotprojekt des DSB offen gegenüber, die Männer nicht.

Schachspieler neigen dazu, auf der Suche nach besserer Leistung nicht über den Tellerrand ihrer Eröffnungsdateien zu schauen. Aber wenn sie doch zu viert gleichermaßen durchhängen, wenn doch ein unter Form agierender Nationalspieler am Ende des Turniers sogar klagt, er habe in Chennai nicht genug Schlaf bekommen, dann liegt nahe, abseits der 64 Felder nach dem Schlüssel zu einer Topplatzierung zu fahnden.

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Reyk
Reyk
1 Jahr zuvor

“Beim Fußball zählt bei Punktgleichheit das Toverhältnis. Warum beim Schach nicht die Brettpunkte? Das würde jeder auf Anhieb verstehen. So, wie es ist, können nur Spezialisten erklären, warum am Ende Usbekistan vor den punktgleichen Armeniern Gold gewann.” Weil bei einem Einzelturnier im Schweizer System auch niemand auf die Idee kommen würde, die Stärke der Gegner bei der Wertung außen vor zu lassen? Die Forderung nach Brettpunkten ist ausgesprochen ‘schlicht’ und führt zu unfairen Ausgängen. So wie es ist, gehen Stärke der Gegner (im Einzelturnier besser unter dem Schlagwort “Buchholz” bekannt) und Brettpunkte ein. Der bestmögliche Kompromiss. Ich nehme sehr viel… Weiterlesen »

Martin
Martin
1 Jahr zuvor

Als Psychologe würde ich einwenden, dass die Forderung nach “Mentaltrainern” immer so etwas ähnliches ist wie der Glaube an Geisterbeschwörer oder Wunderheiler. Die Mannschaft mit einem fähigen Trainerteam gut vorzubereiten und dem Turnier sowie der Vorbereitung darauf Priorität einzuräumen gegenüber anderen Aktivitäten, nutzt sicher mehr. Die Probleme, die es gab, waren allesamt schachlicher Natur, man denke an den oft enormen Bedenkzeitverbrauch, das Laufen in gegnerische Vorbereitung oder an Kollars’ Zug d4. Aber das waren 4 Spieler Jahrgang 1997 oder jünger, es gibt weitere Spieler in dem Alter und auf dem Niveau, also eine gute erfahrung und weiter gehts. Das Endergebnis… Weiterlesen »

Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

“Der Weg zu Gold führte für beide Gewinner über die deutschen Teams” ist eine nette Story, aber Usbekistan war – nach der “ungeliebten” aber notwendigen Feinwertung – durchaus schon zuvor auf dem Podium: zwar nach Runde 4 (2-2 gegen die USA, erster Hinweis was sie drauf hatten) Platz 9 (noch 5 Mannschaften mit 8-0 Mannschaftspunkten, drei fielen später zurück), aber: nach Runde 5 Platz 3 nach Runde 6 Platz 4 (nach Wertung knapp hinter Indien 2) nach Runde 7 Platz 2 nach Runde 8 dann Platz 3 (Indien 2 – USA 3-1 war wertungstechnisch besser als Usbekistan – Deutschland 2,5-1,5)… Weiterlesen »

Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

Zum Abschneiden der deutschen Herren und zur Olympiade insgesamt: Wie ich bereits etwa bei Halbzeit schrieb: Teams, an die hohe Erwartungen gestellt wurden, konnten diese dann nicht erfüllen. Das gilt auch für die USA und für “Medaillenkandidat” Norwegen, der am Ende Platz 59 belegte (ein Carlsen in Elo-Normalform, nicht mehr und nicht weniger, und vier sub-2700 Spieler alle im zweistelligen Elominus). Usbekistan und Indien 2 konnten dagegen recht unbeschwert aufspielen, da kaum jemand erwartete oder “einforderte”, dass sie bereits bei dieser Olympiade ganz vorne mitmischten. Das galt erst recht für Armenien ohne Aronian. Überraschend allenfalls, dass diese drei Teams das… Weiterlesen »

Kommentator
Kommentator
1 Jahr zuvor

“Beim Fußball zählt bei Punktgleichheit das Torverhältnis.” Manchmal zählt auch der direkte Vergleich, bei manchen Wettbewerben gilt noch die Auswärtstorregel, bei manchen nicht mehr – kann da nun wirklich jeder auf Anhieb verstehen, wann welche Regel gilt?

Jochen
Jochen
1 Jahr zuvor

Das Beispiel Moldawien könnte zeigen: Der Bayern München Effekt zieht im Schach nicht so. Es gilt nicht: “Viel Geld schießt viele Tore”. Ein Land dessen Einwohnerzahl zwischen der von Hamburg und Berlin liegt. Ein Land, welches finanziell zu den Ärmsten Europas zählt. Doch: Sie haben eine gewaltige Schachbegeisterung. Den Kindern und Jugendlichen wird dort nicht Freizeit auf dem Tablett als Buffet serviert. Wenn sich Deutschland ein Beispiel an Moldawien nähme, könnte die DSB Geschäftsstelle mit einem Zehntel der Beschäftigten auskommen.