Yu Yangyi und die Kreisliga Göttingen

Normalerweise schauen andere Leute Yu Yangyi zu, wenn er Schach spielt. Neulich beim Grand Prix in Berlin war das zum Beispiel der Fall, als Yu Yangyi im Kampf um ein Ticket fürs Kandidatenturnier 2022 Anish Giri hinter sich ließ und knapp den Einzug ins Halbfinale verpasste. Als aktuelle Nummer 28 der Welt und einstiger Top-Ten-Spieler gehört der 2710 Elopunkte schwere Chinese zum erlesenen Kreis der Supergroßmeister und Spitzenkönner.

Als Yu Yangyi den WM-Kandidaten Jan-Krzysztof Duda vorführte.

In Göttingen tauschte Yu Yangyi jetzt mit Camille Bartholdi die Rollen. Der 14-Jährige, noch ohne DWZ, spielte für die vierte Mannschaft seines ESV Rot-Weiß in der Kreisliga Südniedersachsen, und der chinesische Großmeister schaute ihm als Kiebitz über die Schulterund den anderen im Bürgerhaus Grone versammelten Denksportlern. Neben der vierten spielte an diesem Sonntag auch die erste Göttinger Mannschaft, die in der Verbandsliga Ost um den Aufstieg kämpft.

Zuschauer sind beim Schach am Brett ohnehin rar. Umso größer war für Gastgeber wie Gäste die Überraschung, als die einstige Nummer zehn der Welt beim Schach im Bürgerhaus Grone hereinschneite.

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Die Umstände, unter denen der 27-Jährige als Zuschauer in die niedersächsische Schachprovinz geraten war, mögen als Beleg dafür dienen, wie klein die Welt ist.

Nachdem Yu in Berlin das Halbfinale verpasst hatte, wollte er nach Shanghai zurückfliegen. Aber die Behörden hatten nach einem schlimmen Corona-Ausbruch einen harten Lockdown über die Küstenmetropole verhängt. Flüge nach Shanghai waren gestrichen, Yu saß in Deutschland fest.

Göttingens Ingram Braun mit Yu Yangyi, den ein Lockdown in Shanghai nach Südniedersachsen verschlagen hatte. Gesprächsthema, natürlich: Corona. Der Chinese berichtete, er habe sich während des Grand Prix in Berlin täglich testen lassen müssen, weil chinesische Impfstoffe in Deutschland nicht anerkannt sind. Braun hat dem überraschenden Besuch einen Bericht auf der Vereinshomepage gewidmet.

Die Wartezeit auf einen Flug wollte der 27-Jährige nutzen, um eine Bekannte an der Mathe-Fakultät der Universität Göttingen zu besuchen. Diese Bekannte wiederum ist mit der Mutter von Camille Bartholdi befreundet, eine Mathe-Professorin in Göttingen, deren Sohn sich dem ESV Rot-Weiß angeschlossen hat. Und so kam es, dass Großmeister Yu Yangyi in Niedersachsen Schach-Kreisliga schaute.

Allerdings: Yu Yangyi ist Schachspieler, und einem solchen juckt es in den Fingern, wenn er Bretter und Uhren sieht. Letztlich schaffte es der Chinese nicht, sich auf die Zuschauerrolle zu beschränken. Praktischerweise konnten ihm die Göttinger ihren besten Mann als Sparringspartner anbieten.

Johannes Karthäuser kreuzt die Klingen mit Yu Yangyi. | Fotos: ESV Rot-Weiß Göttingen

Johannes Karthäusers vermeintliches Pech, am ersten Brett in der Verbandsliga Ost ohne Gegner dazustehen, entpuppte sich als glückliche Gelegenheit für ein Kräftemessen des Verbandsliga-Spitzenspielers mit einem Spitzengroßmeister. Leider ist der Verlauf der Partie nicht erhalten.

Sicher ist: Camille Bartholdi hat gewonnen, die vierte Mannschaft des ESV Rot-Weiß Göttingen auch.

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Picard
Picard
2 Jahre zuvor

Cool! Sehr schöne Geschichte – und ich bin zugegebenermassen etws neidisch auf Johannes Karthäuser. Aber es sei ihm unbedingt gegönnt! 😉