Pipi, Pampers und die Pro Chess League: Cheating-Drama unter Großmeistern

Stell dir vor, du hättest bei einem sportlichen Wettkampf betrogen, dank dieses Betrugs gewonnen und ein Preisgeld eingestrichen, das deutlich über dem durchschnittlichen Jahreseinkommen in deinem Heimatland liegt. Nach dem Wettkampf stellt einer deiner Gegenspieler, ein Weltklassesportler, deine Integrität öffentlich in Frage. Zugeben willst du deine Verfehlung nicht.

Wie würdest du reagieren?

So?

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So hätte es Petrosians Kommunikationsberater formuliert. (via r/anarchychess)

Oder so?

So formulierte es Petrosian selbst, ein Beitrag, der in den Sozialen Medien als neuestes Schach-Drama rasant durch die Decke ging.

Tigran Petrosian, nicht der Weltmeister 1963-69, sondern der armenische Großmeister von heute, hat sich für die zweite Variante entschieden. “Du hast noch Pipi in die Pampers gemacht, als ich schon Leute geschlagen habe, die viel stärker sind als du!”, schrieb Petrosian an den einstigen WM-Kandidaten Wesley So.

Nach dem Finale der Pro Chess League hatte So öffentlich festgestellt, dass die Armenier, speziell einer von ihnen, deutlich über ihrem regulären Level gespielt hätten und dass es Zweifel über die Rechtmäßigkeit des Siegs ausgeräumt hätte, wären die Spieler von einem Schiedsrichter beaufsichtigt worden (“proctoring”).

Niemand bestreitet, dass Tigran Petrosian (r.) ein starker Großmeister ist. 2008 und 2012 war er Teil des armenischen Teams, das die Schacholympiade gewann.

In diesem Finale schlugen die nominell klar schlechteren Armenier die “Archbishops” aus Saint Louis, deren Aufstellung etwa der der US-Nationalmannschaft entspricht. Ein Sieg, der für die vier Armenier 20.000 Dollar wert war. Während seiner Partien war Petrosian dadurch aufgefallen, dass er zwischen den Zügen immer wieder nach unten schaute, ganz so, als liege vor ihm ein Gerät, von dem sich etwas ablesen lässt.

Auf dem Brett und auf der Uhr unter Druck: Fabiano Caruana hat gegen Tigran Petrosian alle Hände voll zu tun, um zumindest in der Partie zu bleiben. Lange hielt der Weltranglistenzweite diesem Druck nicht stand. Hikaru Nakamura beleuchtet die Angelegenheit auf seinem Youtube-Kanal, hier sein neuestes Video zur Sache.

In der Kommentarspalte unter dem Bericht über den Finalsieg meldete sich recht bald Wesley So – ungeachtet des Passus in den Turnierregeln, dass Cheating-Verdachtsfälle intern zu klären sind. Die obige rüde Riposte des Armeniers kommentierte So kurz und knapp:

Ein Match, zu dem es nun wahrscheinlich nicht kommen wird. Vier Tage nach dem Finale zog chess.com der Angelegenheit den Stecker. Der Beitrag über den Sieg der Armenier inklusive Kommentare ist gelöscht, stattdessen gibt es einen neuen:

Cheating auch auf Meisterebene ist beim Online-Schach zumindest nicht ungewöhnlich. Noch im Mai hatte chess.com gemeldet, bislang die Accounts von 300 Titelträgern geschlossen zu haben, darunter die von mehreren Großmeistern. Bislang wurden solche Fälle stillschweigend abmoderiert.

Wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte unseres Spiels bezichtigt jetzt eine Schachseite einen Schachmeister unter dessen Klarnamen öffentlich des Betrugs. Das Fair-Play-Team der Seite habe festgestellt, dass Petrosian seine 3,5 Punkte aus 4 Partien gegen die US-Amerikaner auf unfaire Weise erspielt habe. Auch im Halbfinale sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen.

Der armenische Großmeister ist nun lebenslang auf chess.com und für die Pro Chess League gesperrt. Das armenische Team ist bis auf weiteres von der Pro Chess League ausgeschlossen. Das Preisgeld für Platz zwei bis vier teilen sich die beiden Halbfinalisten aus China und Kanada. Die Armenier gehen leer aus.

Siegreiche Armenier, über jeden Zweifel erhaben: Eigentlich soll das Finale der Pro Chess League live gespielt werden. Nur kam eine Pandemie dazwischen, so dass Halbfinale und Finale online gespielt wurden. Warum die Spieler angesichts eines veritablen Preisfonds nicht verpflichtet waren, eine zweite Kamera zu installieren, kann nur chess.com beantworten. | Foto: PCL

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Schachtürke
Schachtürke
3 Jahre zuvor

Mit etwas technischem Know-How wäre ein permanentes Nach-unten-Schauen gar nicht nötig. Eine zweite Person könnte die Züge zB auf einem anderen Rechner eingeben und die Bewertungsanzeige per Bildschirmübertragung in einem kleinen Fenster mit dem Spielenden teilen. Gegen wirklich versierte Betrüger würden auch mehrere Kameras wenig helfen (Züge bzw. Engine-Bewertungen könnten ja auch akkustisch mitgeteilt werden). Letztlich wird es nicht anders als im Radsport ein technisches Wettrüsten zwischen Betrügern und Veranstaltern geben. Die etwas naive Haltung, die man GMs bei Online-Events bislang entgegenbrachte, wird mit diesem Fall (unabhängig davon, was wirklich passiert ist) jedenfalls vermutlich der Vergangenheit angehören. Wo (viel) Geld… Weiterlesen »

Dirk Sander
Dirk Sander
3 Jahre zuvor

Habe das ganze Hin und Her über die Frage, wer hier wen zuerst beschuldigt hat etc. zuletzt nicht mehr weiter verfolgt, aber eines ist (für mich) klar: Wer sich zu solch einem Kommentar wie der Sportsfreund Petrosyan hinreisen lässt, der gibt nicht nur tiefen Einblick in seine Geisteshaltung, sondern ist auch in der Schachszene verzichtbar, gern auch auf Lebenszeit. Ich liebe Schach nicht zuletzt wegen der Spielerpersönlichkeiten und habe großen Respekt vor dem, was sie erreicht haben. Wenn die Äußerungen tatsächlich so gefallen sind und er sich nicht einmal dafür entschuldigt hat, kann ich nur sagen: Vor Herrn P. habe… Weiterlesen »

Thorsten Cmiel
Thorsten Cmiel
3 Jahre zuvor

Inzwischen gab es eine Pressekonferenz der Armenier. https://www.reddit.com/r/chess/comments/j3xawd/armenian_eagles_press_conference_translated/?utm_source=share&utm_medium=web2x&context=3 Das geht so nicht. Übrigens zu Nakamura. Ihn als Experten für Betrug anzusehen und unkritisch zu zitieren, geht nicht. Er ist Amerikaner und steht bei Chess.com unter Vertrag. Die Regeln bei Chess.com sehen vor, dass Spieler öffentliche Anschuldigungen nicht machen dürfen. Genau damit hat es aber angefangen. Wesley So muss ebenfalls bestraft werden. Ich würde wetten das passiert nicht. Chess.com ist ein privates Unternehmen und nicht die Fide. Die Armenier machen noch ein größeres Faß auf. Eventuell kann Tigran gar nicht klagen, wegen formalen Aspekten. Das wird also auch keinen Beweis bringen.… Weiterlesen »

Gilbert
Gilbert
3 Jahre zuvor

Spiele seit Ende der 90er Online Schach und JA es gibt Cheater,
das ist ein ernsthaftes Problem.
Was mich nervt:
Wesley So hat definitv als erster gegen die Regeln von chess.com
verstossen, indem er Petrosjan öffentlich des Betrugs bezichtigt hat,
Petrosian hat darauf (leider) genauso regelwidrig reagiert.
Das ist Rufmord, wird aber gar nicht thematisiert.
Irgendwie erinnert mich das an die Fussball WM Finale 2016, als
Zidane von Materazzi provoziert wurde !?
Chess.com müsste Beweise vorlegen und So müsste auch bestraft werden.
Schliesslich gab es in der Vergangenheit auch schon ungerechtfertigte
Cheating Vorwürfe, siehe Mamedyarov

Fernando Offermann
Fernando Offermann
3 Jahre zuvor

Hikaru Nakamura hatte sich in einer seiner Shows dazu geäußert, leider habe ich den Link nicht, aber ich schaue mal, ob sich etwas finden lässt.

Update: https://www.youtube.com/watch?v=Kngk9IRm9ds

Last edited 3 Jahre zuvor by Fernando Offermann
MaB
MaB
3 Jahre zuvor

Hat jemand einen Link zu den Partien Petrosians / der Armenier / der gesamten PCL, damit man die unter die Lupe nehmen kann?
(Unter https://www.prochessleague.com/2020-games.html sind nur eine Handvoll Partien zu finden.)

trackback

[…] dem Handy aufs stille Örtchen zurückgezogen hat. Das reichte. Wenn wir annehmen, dass stimmt, was Tigran Petrosian vorgeworfen wird, dann können wir diagnostizieren, dass er es so ähnlich gemacht hat.  Manche […]

Thorsten Cmiel
Thorsten Cmiel
3 Jahre zuvor

Vielleicht wird dieser Fall vor Gericht landen. Man vernichtet einen Großmeister mit unspezifischen Betrugsvorwürfen. Es ist quatsch zu behaupten, jemand, der stärker als normalerweise spielt, müsse betrogen haben. Dann müsste man gar nicht spielen. Jeder legt seine Elozahl auf den Tisch wie eine Colt und die Sache ist durch. Genau das gleiche Niveau hatten die Beschuldigungen gegen die Spielerin bei einer Europameisterschaft vor einigen Jahren. Chess.com wird gezwungen sein, zu erläutern, was man Petrosian vorwirft. Es ist auch egal, welche Art die Antwort von Petrosian hatte. Es sagt nichts über den Fall aus. Tigran war sicher angefasst. Der Angriff von… Weiterlesen »