Könnten wir Schachmeister nach ihrem Ableben befragen, ob sie mit ihrem Vermächtnis zufrieden sind, dann würde der eine oder andere sich wünschen, Teile der Schachgeschichte neu schreiben zu können. Unser Freund Frank James Marshall zum Beispiel wäre so gar nicht einverstanden, dass sein Experiment 1.d4 d5 2.c4 Sf6 heute den Namen “Marshall-Verteidigung” trägt. Marshall höchstselbst hat diesen einmaligen Versuch nicht wiederholt, eben weil diese Eröffnung nichts taugt. Trotzdem trägt sie jetzt seinen Namen.
Nicolas Rossolimo wäre auch unglücklich. Die bislang in zwei von drei WM-Partien gespielte Rossolimo-Variante der Sizilianischen Verteidigung ist zwar gesund, aber was Carlsen und Caruana spielen, das spiegelt so gar nicht die Attitüde des Namensgebers. Der russisch-griechisch-französisch-amerikanische Großmeister war einer der wenigen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbliebenen Romantiker des Schachs. Ihm ging Schönheit vor Ergebnis (trotzdem war er unter den besten 20 der Welt), aber ausgerechnet die nach ihm benannte Eröffnung führt eher zu positionellem Lavieren und einem komplexen strategischen Kampf, nicht zu einem Hauen und Stechen, wie es Rossolimo liebte.
Als jetzt in London schon wieder der Rossolimo auf dem Brett stand, sollte auf dieser Seite noch während der dritten Partie ein Rossolimo-Porträt entstehen. Der Lebensweg dieses Mannes, von den Wirren der russischen Revolution ins besetzte Paris, von dort über den großen Teich, dann zurück, dann wieder zurück, lohnt es, nachgezeichnet zu werden. Und der Beginn unserer Recherche verlief vielversprechend.
Schon die englische Wikipedia bietet eine Menge Information und dazu eine Kombination, deren Höhepunkt 23.Dg6 an Frank Marshalls berühmtesten Zug 23…Dg3!! erinnert. Leider stellte sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass Weiß auch auf andere Weise gewinnt, zum Beispiel mit dem profanen 23.Dxe6.
Erstaunlicherweise kommt die sonst im Vergleich oft dürftige deutsche Wikipedia im Fall von Nicolas Rossolimo mindestens ebenso ausführlich daher, was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass Rossolimo im Lauf seines Lebens manchen Draht nach Deutschland oder zu Deutschen geknüpft hat. Beim (wahrscheinlich?) ersten großem Schachturnier in Deutschland nach dem Krieg 1949 in Heidelberg wurde Rossolimo Zweiter hinter Wolfgang Unzicker und vor Lothar Schmid, den er mit einer spektakulären Kombination erlegte.
Leider traf uns nach ein paar Minuten Recherche ein Nackenschlag, der den Plan “Rossolimo-Porträt” abrupt beendete: Vlastimil Hort hat sich der Angelegenheit vor ein paar Monaten auf der Chessbase-Seite schon angenommen. Großmeister Hort hat den späten Rossolimo sogar in dessen Schachstudio in New York besucht und vermag seine Erzählung mit manch persönlichem Eindruck anzureichern. Dagegen können wir mit unseren aus dem Internet zusammengeklaubten und neu sortierten Episoden nicht anstinken.
Darum schreiben wir heute nichts über Nicolas Rossolimo. Aber bevor wir nun das gute halbe Dutzend Tabs mit Rossolimo-Geschichten schließen, wollen wir den Lesern zumindest nahelegen, anhand der ergiebigsten selbst in die Recherche einzusteigen. Womöglich hat der eine oder andere Freude daran, Rossolimos Lebensweg zu studieren. Oder seine wechselhafte Beziehung zu George Frohlinde aus Wismar nachzuvollziehen, einem Deutschen, der vom Freund zum Feind Rossolimos wurde. Auch ein Blick auf die Vita seines Sohnes Alexander Rossolimo lohnt sich:
- Nicolas Rossolimo in der englischen Wikipedia
- Nicolas Rossolimo in der deutschen Wikipedia
- Vlastimil Hort über Nicolas Rossolimo
- Alexander Rossolimo
- Rossolimos brillante Siege (wenig bekanntes, aber lesenswertes Schachblog)
- George Frohlinde im New York Magazine
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Antwort 102
Ein Turmendspiel drei gegen vier Bauern sollte generell remis zu halten sein, so lange nicht außergewöhnliche Umstände dagegen sprechen, zum Beispiel ein ins Abseits geratener König des Verteidigers.
Aber tatsächlich ist dieses Endspiel
leichter zu halten, als wenn die Bauernfront des Verteidigers intakt wäre. Weil der Kampf auf limitiertem Raum tobt, spielen die ruinierte Struktur, potenzielle Bauernschwächen und Einbruchsfelder für den Schwarzen keine übermäßig große Rolle. Wichtiger ist der Faktor, dass Schwarz fast keine Chance haben wird, sich einen Freibauern zu bilden, und das macht dem Weißen die Verteidigung noch einmal einfacher.
[…] Hier geht’s zur Antwort. […]