Magnus Carlsen geht als die Nummer eins der Welt in den WM-Kampf gegen Fabiano Caruana – mit einem hauchdünnen Vorsprung. Nachdem sich der Amerikaner bei der Schacholympiade noch näher an den Norweger herangeschoben hatte, stand für Magnus Carlsen jetzt beim Europacup der Vereine in Griechenland in jeder Partie sein Nummer-eins-Spot zur Debatte.
Beinahe hätte er ihn verloren. Gegen den deutschen Nachwuchs-GM Alexander Donchenko konnte sich Carlsen noch recht bequem ins Remis retten, bevor Donchenkos Angriff durchschlug. Aber danach wandelte er sowohl gegen den seit fast 100 Partien unbesiegten Ding Liren (“die chinesische Mauer”) sowie gegen Peter Svidler am Abgrund. Carlsen rettete auch diese beiden Partien, bleibt die Nummer eins der Welt, aber das mit mageren zwei Elo-Punkten Vorsprung vor seinem Herausforderer.
Mit dem Ende des Europacups haben jetzt die beiden Kontrahenten ihr praktisches Aufwärmprogramm vor dem Match beendet. Nun folgt noch eine Phase intensiver theoretischer und mentaler Vorbereitung, bevor ab dem 9. November in London der höchste Titel im Schach ausgespielt wird.
Seit Monaten den Atem des Herausforderers im Nacken
Fabiano Caruana blickt auf ein glänzendes Jahr 2018 zurück. Seine anhaltende Erfolgsserie seit dem Kandidatenturnier im März in Berlin hat dazu geführt, dass Magnus Carlsen schon seit Monaten den Atem seines Herausforderers im Nacken spürt. Schon vor ihrer Begegnung in der siebten Runde des Sinquefield-Cups im September war Fabiano Caruana in der Live-Weltrangliste so nahe an den seit 2011 oben thronenden Carlsen herangerückt, dass ihm ein Sieg den Platz an der Spitze bescheren würde.
Es war also ordentlich Druck im Kessel vor dem letzten Vergleich von C&C vor ihrem Match in London. „Ich war nervös. Heute stand einiges auf dem Spiel“, räumte Carlsen nach der Partie ein; eine Partie, die zeigte, dass der Weltmeister unter Druck Bestleistung abzurufen vermag – zumindest für 26 Züge.
Nun muss er daran arbeiten, die Spannung hochzuhalten, bis der Gegner sich geschlagen gibt. In St. Louis gelang ihm das auf spektakuläre Weise nicht. Mit dem Sieg vor Augen begab sich Carlsen vor die Live-Kameras in der Geständnisbox und bedeutete seinen Kritikern, die Klappe zu halten, eine im professionellen Sport geläufige Geste, die es in der Geschichte des Schachs noch nie gegeben hatte. Auf dem Brett, auf dem es bis dahin prächtig gelaufen war, geriet Carlsen danach ins Trudeln, verpasste den Fast-Gewinnzug 27.f5-f6, und Caruana zog den Kopf aus der Schlinge.
10:5 bei 18 Remis steht es zwischen den beiden (Turnierpartien). Aus der Bilanz zwischen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana können wir für den Weltmeisterschaftskampf im November zweierlei ableiten: Magnus Carlsen ist der Favorit, und es wird ein umkämpftes Duell mit einer hohen Zahl an entschiedenen Partien. Schachfans dürfen sich auf das aufregendste WM-Match seit langem freuen – und auf das hochklassigste.
Während Carlsen auf höchstem Niveau stabil ist, aber nicht mehr so dominant wie noch vor wenigen Jahren, zeigt die Formkurve seines Kontrahenten steil nach oben, beflügelt vom Gewinn des Kandidatenturniers in Berlin. Mancher verbale Schlagabtausch abseits des Brettes zeigt, dass Carlsen diesen Gegner als ernsthaften Konkurrenten wahrnimmt. Diese für Bestleistung notwendige Attitüde zu finden, war ihm gegen Sergej Karjakin 2016 schwergefallen, und danach fiel ihm das Match gegen einen vermeintlichen Außenseiter überraschend schwer. Jetzt stachelt ihn der Umstand an, dass ein Rivale auf ihn wartet, der einen Lauf fortsetzen will und konsequent nach Chancen suchen wird, ihn zu besiegen.
Weil Carlsen im Schnell- und Blitzschach fast unbesiegbar ist, wird Caruana das Match viel aggressiver angehen müssen als vor zwei Jahren Sergej Karjakin. Und das liegt ihm ohnehin. Caruana ist ein Spieler, der Chancen sucht. Den Ball flach zu halten, würde seinem Stil widersprechen.
Schnellschach-Monster Carlsen
Nicht, dass Carlsen-Karjakin ein Langweiler gewesen wäre. Aber das WM-Match 2016 bezog seine Spannung in erster Linie daraus, dass es dem Außenseiter wider Erwarten gelang, den Weltmeister aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auf dem Brett war vergleichsweise wenig los. Karjakin tat, was er am besten kann: solide stehen, den Laden zusammenhalten, zäh verteidigen. Das tat er so gut, ging Carlsen derart auf die Nerven, dass der Norweger wackelte und wankte, bevor er sich schließlich in den Tiebreak rettete.
Kopieren kann Caruana diese Strategie nicht, dafür müsste er sich in jemand anderen verwandeln. Will Caruana das Match in London gewinnen, muss er einen Tiebreak vermeiden. Im Schnellschach wäre er Carlsen ebenso wenig gewachsen, wie es vor zwei Jahren Karjakin war. Er muss Carlsen über zwölf reguläre Partien besiegen, und das bedeutet, dass er Risiken wird eingehen müssen.
Auch Caruana wird gegen Carlsen in die Waagschale werfen, was er am besten kann. Seine herausragenden Qualitäten sind deutlich anders gelagert als die des Herausforderers von vor zwei Jahren. Auf Basis akribischer Eröffnungsvorbereitung sucht Caruana Ungleichgewichte, Dynamik, Zweischneidiges.
Die Entscheidung forciert der Amerikaner nach Möglichkeit schon im Mittelspiel, anders als Carlsen, der weniger fokussiert darauf ist, frühe Krisen zu provozieren. Der Weltmeister kann sich ja darauf verlassen, dass seine Intuition und Technik ihm Gewinnchancen bescheren, je länger die Partie dauert.
Caruanas gewachsene Stabilität
Chancen zu suchen, ist kein Problem für Caruana, denn das tut er ohnehin. Aber es bleibt die Frage, ob seine gerühmte Eröffnungsvorbereitung auch in diesem Fall greifen wird, oder ob sie verpufft. Konkrete Vorbereitung auf einen Spieler, der Konkretes gerne vermeidet (aber nicht prinzipiell, siehe Giri-Carlsen, Shamkir 2018) – alles andere als eine einfache Aufgabe.
Caruanas über die Jahre gewachsenen Stabilität wird ihm helfen, sollte er früh zurückliegen. Das war schon im Kandidatenturnier zu sehen, als Caruana zwei Runden vor Schluss gegen Karjakin die Partie und die Tabellenführung verlor. Déja-vu? Nein, Caruana kam stark zurück, gewann die finalen beiden Partien und das Turnier mit einem Punkt Vorsprung. Ähnlich berappelte er sich beim Altibox-Turnier: Caruana wollte erst vom Turnier zurückziehen, musste dann doch spielen, verlor gleich zu Beginn die Partie gegen Carlsen – und gewann am Ende vor der versammelten Weltelite.
Immun gegen Rückschläge oder übersteigertes Selbstbewusstsein ist Caruana gleichwohl nicht. Bei der US-Meisterschaft überzog Caruana seine Weißpartie gegen Zviad Izoria auf derart absurde Weise, dass es nur damit zu erklären ist, dass er sich nach seiner jüngsten Erfolgsserie unbesiegbar fühlte. Derart durchgeschüttelt, wartete Caruana am nächsten Tag gegen Sam Shankland mit einer ähnlich absurden „Neuerung“ auf, die ihm einen Minusbauern ohne Kompensation bescherte. Aber dann riss er sich zusammen, hielt die Partie und legte ein weiteres Turnier mit einer 2.800+-Performance hin.
“Eine Ehre, für die USA zu spielen”
Nach dem Kandidatenturnier spielte Caruana fast ohne Pause, und das setzte sich bis knapp vor dem Match in London fort. Bei der Schach-Olympiade besetze er natürlich das erste Brett für den Goldmedaillenkandidaten und Silbermedaillengewinner USA, Ehrensache. „Ich habe nie ernsthaft erwogen, wegen des WM-Matches die Olympiade abzusagen. Es ist eine Ehre für mich, für die USA zu spielen“, erklärte Caruana in St. Louis.
Carlsen sieht das pragmatischer. Auch mit ihm wäre Norwegen kein Medaillenkandidat, also sagte er Olympia ab. Zwar absolviert auch er bei der Mannschafts-EM in Griechenland ein Aufwärmprogramm knapp vor dem WM-Match, aber kein so knüppelhartes wie Olympia am Spitzenbrett einer Mannschaft, die fast ausschließlich gegen andere Spitzenmannschaften spielen wird – zumindest war es so geplant. Carlsen hatte nicht geahnt, dass er in jeder Partie beim Europacup um den ersten Platz in der Weltrangliste würde kämpfen müssen. Eine lockere Vorbereitung sieht anders aus.
Eine Botschaft für den Weltmeister
Kondition scheint in erster Linie für Caruana kein Faktor zu sein. Nach 14 Runden Kandidatenturnier war er als gerade gekürter Herausforderer direkt weiter nach Karlsruhe zum Grenke Classic gereist. Sogleich verkündete er keck, er wolle nun dem Weltmeister „eine Botschaft“ senden. Wie die aussah, kann sich jeder anhand der Schlusstabelle anschauen. Caruana auf Platz eins, einen Zähler vor Magnus Carlsen.
Aus Deutschland reiste der eine gen Westen zur US-Meisterschaft, der andere gen Osten zum Superturnier im aserbaidschanischen Shamkir. Während Carlsen in Shamkir nicht glänzend, aber routiniert gewann, blieb Caruana bei seiner nationalen Meisterschaft nur Platz zwei.
Die Twitter-Frotzelei des Weltmeisters folgte unmittelbar:
Aber natürlich war auch Carlsen nicht entgangen, dass Caruana in St. Louis wieder ein herausragendes Turnier absolviert hatte, das dritte in Folge. „Plus fünf“ sollte unter normalen Umständen bequem zum Sieg reichen, nur tat es das in diesem Fall nicht, weil Sam Shankland das Turnier seines Lebens spielte. Später begann auch der Sinquefield-Cup im August mit einem verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden während der Auftakt-Pressekonferenz. Am Ende teilten sie sich den ersten Platz mit Lev Aronian.
Caruana spielte zuletzt überragend – außer gegen Carlsen
Um sich beim Match in London optimistisch und entschlossen ans Brett setzen zu können, werden beide aus ihren Ergebnissen zuletzt und aus ihren direkten Begegnungen in erster Linie das Positive herausziehen wollen. Beide werden eine Menge finden. Carlsen wird optimistisch stimmen, dass er Caruana zuletzt im Griff hatte, Caruana, dass er von drei potenziellen Verlustpartien zwei gehalten und abseits davon mindestens auf dem Level von Carlsen gespielt hat – wenn nicht besser.
Geduldig-gnadenloser Vollstrecker
Nach zwei gewonnenen WM-Matches gegen Visvanathan Anand umgab Magnus Carlsen lange der Nimbus eines geduldig-gnadenlosen Vollstreckers, der die Partie nach Hause schieben wird, der seine Gegner schier zwingt zu kollabieren, wenn es ihm nur gelingt, ein wenig Druck aufzubauen und aufrecht zu halten. Diese Qualität schien ihm zuletzt abhandengekommen zu sein, doch im September in St. Louis hat er sie neu entdeckt. Zwar entglitt ihm die Partie gegen Caruana, aber zwei gewonnene Seeschlagen gegen Nakamura und Karjakin sorgten gleichwohl dafür, dass Carlsen am Ende gleichauf mit Caruana und Aronian an der Spitze stand.
Aber Carlsen haderte mit seinem Pragmatismus, der doch eigentlich seinen Stil kennzeichnet. Die Stellung, in der er mit 27.f6! gegen Caruana den Sack fast schon zumachen konnte, ähnelt im übertragenen Sinne der vom Mai nach einem Eigenbau-Sizilianer gegen Wojtaszek, in der Carlsen den Gewinnzug 18.Sd5! zwar sah, aber lieber schnell einen soliden Zug spielte (siehe oben) und den Druck aufrecht hielt, anstatt unter großem Zeitaufwand einen möglichen unmittelbaren Gewinn zu prüfen. Gegen Wojtaszek funktionierte der Ansatz, Konkretes zu vermeiden, gegen Caruana verdarb er die Partie.
Sicher ist, dass ein WM-Match bevorsteht, bei dem wieder die klare Nummer eins und zwei der Welt aufeinandertreffen. Das gab es schon viele Jahre nicht mehr. Noch vor dem Kandidatenturnier in Berlin war die Frage ungeklärt, wer denn nun die Nummer zwei ist und ob es überhaupt eine eindeutige Nummer zwei gibt. Diese Frage hat Caruana im zurückliegenden Halbjahr überzeugend beantwortet.
Jetzt muss er nur noch die Schwierigkeiten in seinen Partien gegen die Nummer eins in den Griff bekommen, die gegen andere Gegner für ihn untypischen taktischen Fehler auch gegen Carlsen abstellen, dann könnte er Ende November selbst die Nummer eins sein.