EM-Splitter: Der abenteuerlustige Philosophieprofessor

Schacheröffnungen sind in drei Kategorien unterteilt. “Offene Spiele“, “Halboffene Spiele” und “geschlossene Spiele“. Beginnt die Partie mit 1.e2-e4 e7-e5, steht ein offenes Spiel auf dem Brett. Antwortet Schwarz nach 1.e2-e4 etwas anderes, ist es halboffen. Die geschlossenen Spiele beginnen mit 1.d2-d4.

Anfänger beginnen mit den offenen Spielen. Nach 1.e2-e4 e7-e5 kommen die Figuren geschwind ins Spiel, Linien öffnen sich zügig, und statt eines schwerblütigen strategischen Kampfes entsteht sogleich ein munteres Rumgehacke, das bestens geeignet ist zu erforschen, was die Figuren alles machen können.

Manchmal muss sich auch auch ein Anfänger mit halboffenen Spielen auseinandersetzen, weil nirgendwo geschrieben steht, dass der Schwarze 1.e2-e4 mit 1…e7-e5 zu beantworten hat. Gelegentlich ziehen die Schwarzen etwas anderes, und dann müssen wir eben mit einer halboffenen Stellung zurechtkommen.

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Ist aber kein Problem. Wir kennen ja die vier Gebote der Eröffnung, und die gelten immer. Wer sie befolgt, macht automatisch gute Züge.

Eine typische halboffene Bauernstruktur sieht so aus:

carokann4.jpg

Sie kann aus mehreren Eröffnungen entstehen, zum Beispiel der Caro-Kann-Verteidigung, der Aljechin-Verteidigung oder der Skandinavischen Verteidigung. Neulich bei unserem Ausflug ins Skandinavische haben wir diese Struktur schon kennengelernt.

Für den Moment erfreut sich Weiß in eines kleinen Raumvorteils, aber Schwarz steht solide und hat keinerlei Schwächen. Mittelfristig wird Schwarz entweder …c6-c5 oder …e6-e5 durchsetzen wollen, um sich komplett zu befreien. Wenn es gut läuft, bekommt der Schwarze dann vollständig ausgeglichenes Spiel.

Wenn es schlecht läuft, verprügelt ihn der Weiße, bevor er sich befreien kann. So lange der schwarze König noch im Zentrum steht, bietet sich dem Weißen das eine oder andere taktische Motiv, das der Schwarze sorgfältig umschiffen muss. Sonst endet die Partie wie diese:

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Die Dame nach e2 zu entwickeln, war keine tolle Idee von Weiß, er blockiert ja seinen f1-Läufer. Aber der Zug stellt eine Falle auf, in die Schwarz mit …Sg8-f6?? prompt hineintappt. Se4-d6 matt!

Oder es passiert dieses:

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Weiß kann 1.Sg5-e6 ziehen, weil nach 1…f7xe6?? 2.Ld3g6# matt wäre. Eine Katastrophe ist das für Schwarz noch nicht, aber er muss jetzt früh sein Läuferpaar aufgeben, und auf f8 wird er mit einer Figur zurückschlagen, die dort nicht hingehört. Schön ist das auch nicht.

Oder dieses:

Deep Blue – Gary Kasparow, Mai 1997

carokann3.jpg

Was Kasparov in der letzten Wettkampfpartie gegen die IBM-Maschine zu 7…h7-h6? verführte (statt 7…Lf8-d6), darüber rätseln Experten bis heute. Schon 1997 war bekannt, dass Weiß nach 8.Sg5xe6 f7xe6 9.Ld3-g6+ für die geopferte Figur starken, womöglich entscheidenden Angriff bekommt. Elf Züge später streckte Kasparov die Waffen, und zum ersten Mal hatte ein Mensch ein Match gegen eine Maschine verloren.

Ein veritabler Internationaler Meister wie Jan Sprenger mit gut 2.500 Elo kennt diese und andere Beispiele natürlich. Außerdem beseelt den Philosophieprofessor am Brett eine kaum zu bändigende Abenteuerlust. In seinen Partien ist immer eine Menge los.

Als Sprenger jetzt bei der EM mit Weiß dem aufstrebenden niederländischen Großmeister Benjamin Bok gegenübersaß, stand es nach sieben Zügen so:

carokann5.jpg

Wie Schwarz hier leicht gutes Spiel bekommt, ist seit langer Zeit bekannt. Er kann den zentralen Gegenschlag …e7-e5 direkt durchsetzen: 7…e7-e5 8.d4xe5 Dd8-a5+ nebst …Da5xe5. Aber dann werden meistens in der Folge auf der offenen e-Linie die Damen getauscht, und es entsteht ein Endspiel, das der Weiße kaum verlieren und der Schwarze kaum gewinnen kann.

Um seine Gewinnchancen intakt und Material auf dem Brett zu halten, entschied sich GM Bok, auf unmittelbare Befreiung mittels 7…e7-e5 zu verzichten. Ein Spiel mit dem Feuer?

Nach neun Zügen stand es so:

carokann6.jpg

Eine typische halboffene Stellung, in der der schwarze König sich noch nicht per Rochade in Sicherheit gebracht hat. Die weißen Leichtfiguren beäugen im Verein den schwarzen e6-Schutzbauern.

Einige starke Großmeister haben diese Position schon mit Weiß auf dem Brett gehabt. Jeder prüfte Einschläge auf e6, und jeder entschied sich dagegen. Diese Version des Opfers auf e6 ist längst nicht so günstig wie jene von Deep Blue gegen Kasparov.

Weinprobe, Istrien 2017
IM Jan Sprenger

Sprenger überlegte viereinhalb Minuten, dann spielte er 10.Lc4xe6!?. Rumms!

Weiß bekommt zwei Bauern für die geopferte Figur und Initiative gegen den nun im Zentrum festgenagelten schwarzen König. Ob das reicht?

Unsere Einschätzung: so gerade eben.

Die Folgen von 10.Lc4xe6!? in allen Konsequenzen zu analysieren, ist kaum möglich. Allemal hat Weiß Kompensation für das geopferte Material, aber hat er genug davon? Sicher ist, dass Weiß nun präzise zu Werke gehen muss, um zu verhindern, dass seine Initiative versandet und er am Ende mit einer Minusfigur dasteht.

Genau das passierte dem kühnen germanischen Recken. Einige Züge später gingen ihm die Ideen aus, den Schwarzen weiter zu beschäftigten. Schwarz befreite sich nach und nach und stand am Ende mit einem Materialplus da. Für die EM-Tabelle hilft das nicht, aber wir verleihen Jan Sprenger mit Freude einen Extrapunkt für seinen Mut.

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