Wer ernsthaft das Königsgambit spielt, der hat entweder eine ausgeprägte romantische Ader oder neigt zum Masochismus. Objektiv betrachtet, kämpft Weiß nach 1.e2-e4 e7-e5 2.f2-f4 um Ausgleich. Subjektiv juchzen die Melancholiker, sobald die antike Eröffnung auf einem modernen Brett steht.
Eine Europameisterschaft bietet allemal einen ernsthaften Anlass, ernsthafte Eröffnungen zu spielen. Allein deswegen ist die Eröffnungswahl des jungen russischen IM Saveliy Golubow für seine Zweitrundenpartie gegen Falko Bindrich schwer nachzuvollziehen. Eine Lücke in Bindrichs Repertoire kann er nicht erspäht haben; Bindrich wurde in einer Turnierpartie noch nie mit dem Königsgambit konfrontiert. Überlegene Erfahrung mit den entstehenden, kruden Stellungen kann es auch nicht gewesen sein. Golubow hatte bis zu dieser Partie noch nie Königsgambit gespielt.
Warum auch immer, es geschah 1.e2-e4 e7-e5 2.f2-f4. Bindrich täuschte mit 2…d7-d5 das Falkbeer-Gegengambit an, mochte aber nach 3.e4xd5 nicht mit 3…e5-e4 auf Paul Morphys und Ernst Karl Falkbeers Spuren wandeln.
Moderne Schachmeister ziehen stattdessen 3…e5xf4, was gewöhnlich mit 4.Sg1-f3 beantwortet wird. Damit wäre die Könisgambit-Hauptvariante erreicht, das Königsspringergambit, und es folgt ein Berg Theorie. Die Idee der schwarzen Zugfolge ist, alles zu vermeiden, was mit 2…e5xf4 3.Lf1-c4 zu tun hat.
Golubow griff stattdessen zu einer (zweifelhaften?) Idee, die sein Landsmann Boris Sawtschenko mehrfach versucht hat: 4.Dd1-f3, und von da an war es ein Königsgambit Marke Eigenbau.
Nach 4…Sg8-f6 5.Sb1-c3 Lf8-d6 6.d2-d4 0-0 7.Lc1xf4 Lc8-g4 8.Df3-f2 Tf8-e8+ 9.Sg1-e2 stand Schwarz mehr als angenehm.
Anstatt den Druck aufrecht und Material auf dem Brett zu halten (9…Ld6-b4) entschied sich Bindrich für eine lange, forcierte Abwicklung, um sich sofort den Minusbauern zurückzuholen.
Wahrscheinlich hatte er angenommen, dass er nach 9…Ld6xf4 10.Df3xf4 Lg4xe2 11.Lf1xe2 Sf6xd5 12.Sc3xd5 Dd8xd5 13.Df4-f2 Nb8-c6 14.c2-c3 Dd5-b5…
…den weißen König weiter im Zentrum festnagelt. Außerdem hängt b2, und es droht …Sc6xd4 nebst …Te8xe2+ und …Ta8-e8. Wie soll sich Weiß dagegen verteidigen, könnte man fragen.
Leider hatte der deutsche Großmeister einen taktischen Schuss übersehen, der die Partie wendete.
Was zog Weiß?
Man spielt das Königsgambit natürlich, um solche Stellungen mit halboffener f-Linie zu erhalten. Wenn 2…exf4 Pflicht wäre, würde ich immer Königsgambit spielen.
Hier fällt 1.Dxf7+ Kxf7 2.0-0+ nebst 3.Lxb5 ins Auge, mir ist aber nicht vollends klar, was nach 1…Kh8 passiert.
Ah, okay, auch so kann ich die Fesselung natürlich aufheben. Sehr hübsch!