Oma, hilf: Sprechstunde bei Caissa

Oma hat nie versucht, der Leidenschaft ihres ältesten Enkels für das königliche Spiel nachzuspüren, zu ergründen, warum der Junge fast jedes Wochenende in den Ozean aus 64 Feldern abtaucht. Weil Oma nie fragte, habe ich ihr wenig vom Schach erzählt. Interessiert sie eh nicht, dachte ich.

Oma ist dieses Jahr gestorben. Nach ihrem Ableben haben wir herausgefunden, mit welcher Akribie sich die alte Dame als Chronistin betätigte. Ihre schweren Eichenschränke beherbergten Kisten und Ordner, gefüllt mit Zeitungsartikeln, Fotos, Zeugnissen und dergleichen. Oma hat Buch geführt über die Leben ihrer Liebsten.

Erschütternde Dokumente der Feigheit

Für ihren ältesten Enkel hatte sie einen Schach-Ordner angelegt. Darin abgeheftet: erschütternde Dokumente der Feigheit.

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Zum Beispiel die Geschichte vom Jungen, der einst Herren-Bezirksmeister wurde und die goldene Gelegenheit serviert bekam, mit den besten Spielern des Verbands um die Qualifikation für die NRW-Meisterschaft zu ringen. Die Verbandsmeisterschaft Ostwestfalen-Lippe: ein Rundenturnier, eine Woche Hotel gratis, jeden Tag die Chance, im Wettkampf mit erfahrenen Recken zu wachsen. Ein Geschenk.

Was habe ich daraus gemacht? Die goldene Gelegenheit verhöhnt. Ein Kurzremis nach dem anderen, keines länger als 20 Züge. „…landete im Mittelfeld…“, schrieb die Lokalzeitung ganz neutral, anstatt die Attitüde des jungen Mannes öffentlich anzuprangern: Wer solche Chancen, besser zu werden, liegen lässt, der hat keine Zukunft. Hätte das in der Zeitung gestanden, vielleicht hätte ich den Schuss noch rechtzeitig gehört. Von alleine kam ich nicht darauf.

Immer alles auskämpfen!

Wenig später, Schloss-Open in Werther, letzte Runde, erstes Brett. Ich mit Weiß gegen den Tabellenführer, dem ein Remis zum Turniersieg reichen würde. Um selbst das Turnier zu gewinnen, würde ich ihn besiegen müssen. Kein Kinderspiel gegen einen FM mit 2.350 Elo, aber nicht unmöglich. Der kocht auch nur mit Wasser.

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Oma hat nie gefragt, wie es beim Schach läuft. Aber sie hat alles abgeheftet. Jetzt ist Oma tot, und ihr Schach-Ordner bringt manche Erinnerung, manches Versäumnis ans Tageslicht. Und eine Gewissheit: Oma war stolz.

Nach fünf Zügen kam das Remisangebot hereingeflattert. Ein No-Brainer. Ihm reicht ein Remis, also würde ich eh eines bekommen. Ergo: ablehnen, weiterspielen und probieren, ob mehr drin ist.

Was mache ich stattdessen? Gebe brav Pfötchen.

„…das erwartete Kurzremis…“, schrieb die Lokalzeitung tags darauf. In der Zwischenzeit war sogar den Sportredakteuren vom Haller Kreisblatt aufgegangen, dass diesem jungen Mann das Gewinner-Gen fehlt.

Oje, Rechenschaft bei Caissa

Damals war ich sogar stolz darauf. Mittelfeld bei der Verbandsmeisterschaft gegen nominell viel bessere Spieler, geteilter Zweiter beim Schloss-Open.

Heute, als alter Sack, sehe ich in erster Linie die Versäumnisse. Und ich ahne, dass ich dereinst Caissa gegenüberstehen und Rechenschaft werde ablegen müssen. „Begnadet bist Du nicht, aber ein wenig Talent habe ich Dir schon mitgegeben“, wird sie sagen – und fragen: „Was hast Du daraus gemacht?“

Tja. Geteilter Zweiter bei der Deutschen Schulschachmeisterschaft, geteilter Zweiter beim Schloss-Open. Ende der Liste.

Und dann werde ich in der Hölle schmoren.

Außer, und das ist jetzt meine letzte Hoffnung, Oma hat vor meiner Ankunft bei Caissa vorgesprochen. Für sie waren die abgehefteten Schachpapiere eben nicht erschütternde Dokumente der Feigheit, sondern veritable Errungenschaften ihres Enkels, der in diesem geheimnisvollen Spiel aus Sicht einer liebenden Großmutter eben doch manchen Erfolg vorzuweisen hatte.

„Jetzt hör mir mal zu, Caissa“, wird sie sagen und ihre Worten mit einem kräftigen Pochen des Krückstocks gegen die Himmelspforte untermalen. „Wenn sogar das Haller Kreisblatt berichtet hat, dann kann doch nicht alles schlecht gewesen sein?!“

Oma war stolz auf mich – eine Errungenschaft, die Caissa als Erfolg werten sollte.

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