Heute vor 30 Jahren: als Ossi Weiner es mit Garri Kasparow zu tun bekam

Heute gilt der Sieg von Deep Blue über Garri Kasparow im Mai 1997 als Zäsur; die erste (und letzte) Niederlage des Schachweltmeisters gegen eine Maschine unter Turnierbedingungen. Für die breite Öffentlichkeit markiert das Match den Zeitpunkt, ab dem die Maschinen besser Schach spielten als die Menschen. Tatsächlich ist es Teil einer Entwicklung, die Jahre anhielt – über 1997 hinaus. Schach unter Turnierbedingungen auf dem 2800-Elo-Level zu spielen, war 1997 nur unter Mobilisierung fantastischer Ressourcen möglich gewesen. Es bedurfte eines Konzerns, der jahrelang auf Schach spezialisierte Großrechner entwickelt und dafür Teams von Hardwareexperten, Programmierern und Schachgroßmeistern beschäftigt.

Die 1989 begonnene Arbeit an “Deep Thought”, später “Deep Blue”, kulminierte 1997 im Matchsieg über Garry Kasparow. Hier posiert das Deep-Blue-Team vor dem 1996er-Match, das Kasparow 4:2 gewann. Die Maschine war 1997 noch nicht so gut, dass eine Revanche nicht interessant gewesen wäre, aber dazu sollte es nie kommen. | Foto via IBM

Dass auch Otto-Normal-Computer immer besser, großmeisterlich gar, Schach spielen kann, zumal mit kürzeren Bedenkzeiten, hatte sich im Lauf der 1990er-Jahre abgezeichnet. Ossi Weiner war ein Leidtragender dieser Entwicklung. Der Schachcomputerhändler und Marketingchef von Hegener + Glaser (“Mephisto”) erlebte am Übergang von den 80er- in die 90er-Jahre, wie ein einst millionenfach verkauftes Produkt zum Ladenhüter wurde. Weil heimische PC nicht mehr brauchten als eine kostengünstige Software, um gut Schach zu spielen, waren Schachcomputer während des PC-Booms kaum noch gefragt.

Schon drei Jahre vor dem Deep-Blue-Match verlor Kasparow gegen einen Computer, und niemand war näher dran als Ossi Weiner. Passiert ist es heute vor 30 Jahren, am 31. August 1994, im Londoner Savoy-Theater. Der Chiphersteller Intel, Sponsor von Kasparows “Professional Chess Association”, wollte seinen Pentium-Prozessor in Szene setzen. Es entstand eine Serie von Weltklasseturnieren, der “Intel Grand Prix”, an der eine Maschine teilnehmen durfte. Was Intel fehlte, war ein möglichst starkes Schachprogramm, das den Pentium-Chip gut aussehen lässt.

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Da kam Ossi Weiner ins Spiel. Der Münchner Unternehmer vertrieb längst zusammen mit dem Programmierer und mehrfachen Schachcomputer-Weltmeister Richard Lang ein PC-Schachprogramm, womöglich das beste der damaligen Zeit: “Chess Genius”. Intel lud die beiden ein, mit ihrem Genius, angetrieben von einem 90-Megahertz-Pentium, am Grand Prix teilzunehmen. Weiner und Lang flogen nach London, wo eigentlich Richard Lang den Großmeistern als Bediener gegenübersitzen sollte. Aber es kam anders.

Ein Gespräch mit Ossi Weiner über den 31. August 1994, den Tag, an dem “Chess Genius” Garri Kasparow besiegte:

Ossi, an was erinnerst du dich diese Woche? Denkst du noch häufig an diesen schachhistorischen Tag, den 31.August 1994?

Nach vier Jahrzehnten Schachcomputer hat sich Ossi Weiner im Frühjahr 2023 ins Privatleben zurückgezogen. | Foto via Millennium

Nein, das wäre jetzt übertrieben. Ich kann mich natürlich sehr gut an diesen Tag erinnern, obwohl er schon 30 Jahre her ist, weil dieser im Prinzip mein Leben verändert hat. Das Jahr 1994 war für mich ein kritisches Jahr, weil ich mir bei einem Unfall das Bein gebrochen hatte und längere Zeit auf Krücken ging. Und Anfang 1994 ging die Firma Hegener + Glaser kaputt, daran wirst du dich vielleicht noch erinnern. Wie das im Leben so ist, das Glück kommt manchmal in Wellen und das Pech ebenfalls.

Hast du damals gedacht, dass mit Computerschach jetzt Schluss für dich ist?

Für meine Firma HCC war dies schon ein Riesenproblem, wir waren ja von Hegener + Glaser abhängig. Es gab zeitweise keine Mephistos mehr, und wenn es keine Ware gibt, dann kann man halt nichts verkaufen. Das ging Richard Lang genauso, er wurde praktisch arbeitslos, nachdem er vorher 9 Jahre lang von Mephisto gelebt hatte. Deswegen war es unsere einzige Chance, voll auf seine ChessGenius-Software zu setzen. Richard Lang war 9-mal hintereinander Computerschach-Weltmeister und damals sehr berühmt. Mit den ChessGenius-CD-ROMs lief es gut an, da sich immer mehr Leute einen privaten Computer zulegten. Den Wegfall der teuren Mephisto-Geräte konnten wir allerdings nicht ganz kompensieren. In dieser nicht einfachen Situation kam auf einmal die Einladung zum Intel-Grand-Prix-Turnier in London. Dort wurden wir eingeladen, weil ChessGenius vielfacher Computer-Weltmeister und weil Richard Lang als Engländer gut für die lokale PR war.

Richard Lang (rechts) mit (v.l.) Ossi Weiner und Manfred Hegener. | Foto: privat

Habt ihr euch bzw. habt ihr ChessGenius vorbereitet? Stimmt es, dass Großmeister Gerald Hertneck damals bei euch mitgewirkt hat?

Natürlich haben wir uns vorbereitet. Wir wollten ein möglichst solides Eröffnungsrepertoire verwenden, um einigermaßen unbeschadet aus der Eröffnung zu kommen. Gerald Hertneck hat uns sehr geholfen, ebenso wie IM Thomas Reich, der bei mir angestellt war. Ich bin dann mit ein paar CD-ROMs im Gepäck nach London geflogen. Wir sollten mit einem Intel-Pentium-Computer mit 90 MHz spielen, es war ja schließlich ein Intel-Turnier, und zwar im berühmten Savoy-Hotel im Zentrum Londons. Die erste Runde wurde ausgelost, wir durften gegen den Weltmeister Garry Kasparow antreten. Gegen dieses Genie konnten wir uns natürlich nur sehr geringe Chancen ausrechnen, schon ein Remis wäre ein toller Erfolg gewesen.

Die Fotos von damals zeigen dich gegenüber von Kasparow. Wo war Richard Lang?

Selbstverständlich sollte Richard Lang den Computer bedienen und ich mich in den Zuschauersaal setzen. Wir waren sehr aufgeregt, und Richard wurde auf einmal extrem nervös, er weigerte sich auf die Bühne zu gehen. Verzweifelt sagte er zu mir: „Ich schaffe das nicht, Ossi, mach du das bitte.“

Wie lief die erste Begegnung mit Kasparow ab?

Die Begrüßung durch Garry Kasparow war freundlich. Ich glaube, er hat uns damals nicht ernst genommen und meinte, er müsse sich nicht groß vorbereiten. Vielleicht hat er das später bereut?

Und während der Partie?

Kasparow starrte mich während des Spiels ständig an. Seine überaus einschüchternde Ausstrahlung  und Körpersprache sowie sein „Raubtierblick“ konnte einem richtig Angst einjagen. Aber mir war das egal, ich musste ja nur die Figuren bewegen. Kasparow hatte Weiß, wir hatten Schwarz, es kam eine Slawische Verteidigung aufs Brett. Kasparow hat nur einen leichten Vorteil herausgeholt. Das hat ihm gar nicht gepasst, deshalb hat er wohl zu viel riskiert und seine Stellung deutlich überzogen. Am Bildschirm sah ich schockiert, wie auf einmal der Score hochschießt. Von etwa -0,5 sprang die Bewertung des Programms hoch auf über +2. Plötzlich war ein weißer Bauer weg, der wichtige Zentrumsbauer auf e4. Ich war wahnsinnig aufgeregt, habe es mir aber nicht anmerken lassen. Kasparow wurde sichtbar sauer, als er merkte, dass er verloren war. Rasch fiel seine Stellung auseinander und es stand 1:0 für uns. Dann war erstmal Pause.

“Ich war wahnsinnig aufgeregt, habe es mir aber nicht anmerken lassen” – im Video die erste Partie des Matches gegen Kasparow (das Foto zeigt die zweite).

Es war ein Match, ihr habt zwei Partien gespielt.

In der zweiten Partie hatten wir Weiß. Kasparow hatte mit Schwarz zwar einen Mehrbauern, aber das reichte zum Glück für uns nicht, die Stellung war für ihn trotz aller Anstrengungen nicht gewinnbar. Ich habe schüchtern „nitschja“ gesagt, das ist Remis auf Russisch. Garry Kasparow hat mich böse angeschaut und ist davongestürmt, ohne mir die Hand zu geben. Ich war wie betäubt und wusste gar nicht, was ich sagen soll. Richard und ich mussten beide erstmal verarbeiten, was gerade passiert war, oder ob wir vielleicht geträumt hatten. Das alles war für uns wie ein Lottogewinn!

Und Kasparow?

Hinter der Bühne hatte Kasparow einen Wutanfall, er weigerte sich anschließend an der Pressekonferenz teilzunehmen, obwohl er dazu verpflichtet war. Das war im Prinzip gut für uns, denn so gehörte uns die Bühne mit den zahlreich anwesenden internationalen Journalisten und TV-Teams ganz alleine.

Das öffentliche Interesse am Match war offenbar groß.

Am nächsten Tag kamen wir zum Frühstück. Da lagen diverse englische Zeitungen, die Times, der Independent, der Telegraph, und wir waren auf den Titelseiten – unglaublich! Dieses Ereignis war damals eine echte Sensation, die weltweit in allen Nachrichten kam. Es war immerhin der historische erste Turniersieg eines Schachprogramms gegen einen Weltmeister. Deep Blue war erst zwei Jahre später.

Wie ist denn das Turnier in London weitergegangen?

In der zweiten Runde spielten wir gegen Großmeister Nikolic. Den haben wir 2:0 geschlagen. Dann waren wir im Halbfinale und spielten gegen Vishy Anand. Der war deutlich vorsichtiger, er hat sich wohl von seinem Freund Frederic Friedel beraten lassen. Unser Endspiel war eigentlich ausgeglichen, ging aber wegen einem „Horizont-Effekt“ verloren. Die heutigen Computer würden die Stellung locker remis halten. Aber gut, wir sind bis ins Halbfinale gekommen, das war doch ein gigantischer Erfolg.

Der mutmaßliche Anand-Helfer Frederic Friedel hat für den Spiegel die Geschichte der Schachprogramme aufgeschrieben.

Ich habe später ein Revanche-Match im WDR-Fernsehen erlebt. Dich habe ich im Studio zwar gesehen, aber du hast das Gerät gegen Kasparow nicht bedient.

Kasparow wollte mich nicht, er verlangte vom Moderator: „Everybody, but not Ossi“ Ich glaube nicht, dass er persönlich etwas gegen mich hatte, er war wohl nur abergläubisch. Auch in Köln haben wir übrigens ein Remis aus zwei Partien geholt.

Für dich persönlich war der Sieg in London ein Wendepunkt.

Rückblickend kann ich sagen, der glückliche Erfolg am 31.August 1994 hat damals mein Leben verändert, nachdem es zuvor nicht so gut gelaufen war. Nach London ging es kräftig aufwärts. Wir konnten aufgrund der gewaltigen PR eine sechsstellige Anzahl von CD-ROMs verkaufen. Ein Jahr später haben Manfred Hegener und ich dann die Firma Millennium 2000 gegründet und erneut mit der Produktion von Schachcomputern begonnen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Titelfoto: Telegraph via Ossi Weiner

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