Wenn er keinen schlechten Tag erwischt, sollte er ohne große Schwierigkeiten gewinnen, sagt Magnus Carlsen. Niemand, nicht einmal Niemann, hat ihm widersprochen. Als großer Favorit geht der Exweltmeister ins heiß erwartete Halbfinale der Speedchess-Championship gegen Hans Niemann. Am Freitag, 6. September, um 20.30 Uhr geht es los. Gespielt werden 90 Minuten 5+1, 60 Minuten 3+1 und 30 Minuten 1+1.
Magnus Carlsen ist nicht der Erste, der als großer Favorit in ein Match gegen Hans Niemann geht. Wer hätte gedacht, dass der US-Boy sich im Speedchess-Achtelfinale gegen Maxime Vachier-Lagrave durchsetzt? Und im Viertelfinale gegen Wesley So?
Und er hat ja nicht nur diese beiden ehemaligen WM-Kandidaten aus dem Wettbewerb gekegelt. Während Niemann sich beim Speedchess bis ins vor Livepublikum gespielte Halbfinale vorkämpfte, lief parallel seine Serie „Hans Niemann against the World“.
Über die Frage, warum eigentlich nicht mehr Spieler selbst Matches organisieren (anstatt über ausbleibende Turniereinladungen zu klagen), ließe sich ausführlich räsonieren. Aber das Sportliche überlagerte das Konzeptionelle: Wer hätte gedacht, dass Hans Niemann gegen Anish Giri, Nummer 14 der Welt (vor dem Match), 24:18 gewinnt? In den klassischen Partien und im Blitz setzte sich Niemann durch. Einzig im Rapid-Vergleich nahm ihm Giri ein Unentschieden ab.
Und es war ja nicht nur Giri. Vorher hatte Niemann ein Blitz-Match gegen den indischen Nationalspieler Vidit gewonnen, danach weitere Matches seiner Versus-die-Welt-Tour gegen den französischen Nationalspieler Etienne Bacrot und die neue englische Nummer eins Nikita Vitiugov.
Sechs Triumphe am Stück, allesamt erzielt gegen Widersacher aus der 2700-Klasse. Angefangen hat Niemann die Serie als Nummer 39 der Welt mit einer Elo von 2688. Jetzt steht er mit einer Elo von 2733 auf Rang 16, drei Punkte hinter Weltmeister Ding Liren, drei vor der deutschen Nummer eins Vincent Keymer.
Nun bekommt es Niemann mit dem Endgegner des Schachs zu tun, und das in der für ihn angenehmen Konstellation, dass er nichts zu verlieren hat. Ganz anders sein Gegenüber im Pariser Espot an der Rue de Rivoli. Ein klarer Sieg Magnus Carlsens wäre als Normalität schnell abgehakt. Alles andere – oje.
Giri hin, MVL her, wer von beiden der bessere Schachspieler ist, daran zweifelt niemand. Allerdings hat sich nie zuvor jemand derart hartnäckig in Magnus Carlsens Kopf eingenistet wie Hans Niemann. Der Reiz des Matches besteht in der offenen Antwort auf die Frage, ob Carlsen fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Analperlen-Partie ausreichend fokussiert sein wird, um sein Schach sprechen zu lassen.
Am 4. September 2022 war ihm das nicht gelungen. Carlsen verlor an diesem Tag nicht nur eine Schachpartie, er verlor etwas, das ihn bis dahin ebenso ausgezeichnet hatte wie seine sportliche Klasse: die Offenheit und Ehrlichkeit. Ja, Magnus Carlsen variiert den Ton, lässt seine Gegenüber gelegentlich spüren, dass er sie oder den Anlass nicht mag, aber er sagt verlässlich, was Sache ist. Das galt bis vor zwei Jahren. Seitdem schuldet Magnus Carlsen dem Schachsport eine Erklärung.
Sich ohne triftigen Grund aus einem laufenden Wettbewerb zurückzuziehen, ist eine Unsportlichkeit. In den ersten Monaten nach seinem Rückzug aus dem Sinquefield-Cup arbeitete noch die Vita eines tadellosen Ausnahmesportlers für ihn: Der Weltmeister wird doch nicht ohne Grund…? Außerdem der Verdacht: Wer weiß, ob Niemann nicht tatsächlich…? Die notorische Verhaltensauffälligkeit seines jungen Kontrahenten war ein Faktor.
Niemanns Eskapaden sind geblieben, sonst nichts. Beide Annahmen haben sich zwei Jahre später längst nicht nur relativiert, sie haben sich verflüchtigt. Wenn nicht plötzlich neue Fakten auftauchen, gilt: Da war nichts – außer der Elite der Supergroßmeister, heimgesucht von kollektiver Cheatingparanoia, in deren Kreis sich die Gerüchte und Anekdoten rund um diesen sehr speziellen Emporkömmling so lange verdichteten, bis Magnus Carlsen darüber nicht mehr klar denken konnte.
So wird es, Stand jetzt, in die Geschichte eingehen.
Magnus Carlsen ist der Einzige, der erklären und einordnen kann, was ihn geritten hat, der Einzige, der diesem für ihn unrühmlichen Kapitel der Schachgeschichte einen Spin in seinem Sinne geben könnte. Es wäre an ihm, nun zur gelassenen Souveränität eines Giganten des Sports zu finden, egal, welche Stunts Niemann aufführt.
Dann könnte eine Rivalität entstehen, von der der Sport profitiert, und die Sache hätte etwas Gutes für alle Beteiligten. Magnus Carlsen hat in dieser Hinsicht am Vorabend des Matches zwei richtige Schritte gemacht: ein aufgeräumter Auftritt bei Levy Rozman, dazu ein Tweet, der die Richtung für alles Weitere vorgeben könnte: “Lance Stephenson” twitterte Carlsen, Anspielung auf einen Basketballer, der mehr für seine Mätzchen und Sticheleien gegen die ganz Großen des Sports bekannt ist als für seine sportliche Klasse.
Bis dahin hatte nicht nur Magnus Carlsen in der Causa Niemann weitere Unrühmlichkeiten aneinandergereiht. Dass Henrik Carlsen, bekannt für besonnene Freundlichkeit, gegenüber einer Journalistin ausfällig wird – undenkbar eigentlich. Über der Causa Niemann ist es passiert und öffentlich geworden, ein PR-Unfall, der zeigt, wie unverändert dünn das norwegische Nervenkostüm in dieser Angelegenheit gestrickt ist.
Dass der vermeintlich Größte, den unser Sport je hatte, bei der Rapid-Team-WM abermals dem direkten Duell mit einem 20-jährigen Sprücheklopfer aus dem Weg gegangen ist, grenzt an Selbsterniedrigung. Es sah aus, als könne Carlsen, Elo 2832, kaum einen Zug vorausschauen, sobald es um Niemann geht. Dass früher oder später der Tag kommt, an dem sie aufeinandertreffen, muss ihm klar gewesen sein?
Anstatt die Angelegenheit sofort am Brett zu klären und damit künftigen Duellen die Brisanz zu nehmen, kniff Carlsen. “I had an out, so I took it”, sagte er jetzt im Gespräch mit Rozman. Die Folge des Aussetzens: Während Niemann ihm auf Twitter „Du kannst dich nicht ewig verstecken!“ hinterherrief, spekulierte Schachjournalismus-Institution Leonard Barden in der Financial Times, was wohl passiert, wenn Niemann die 2725 Elo überschreitet, die Grenze, um in Magnus Carlsens Freestyle-Elite-Club aufgenommen zu werden.
Auch dort könnte Carlsen wie der gesamte Sport von einer Rivalität profitieren, die weniger sportlicher Natur wäre, sondern in erster Linie darauf beruht, dass der Emporkömmling keine Gelegenheit zur Stichelei gegen den Platzhirsch auslässt. Aber dafür muss Carlsen einen normalen Umgang mit Niemann finden, und die Affäre rund um den 4. September 2022 muss vom Tisch.
Diese seit zwei Jahren alles andere überlagernde Geschichte wird nicht von allein weggehen, noch wird sie sich stumm aussitzen lassen. Ein Film darüber ist in Arbeit, auch eine Netflix-Dokumentation. Nicht zuletzt ist da Hans Niemann, der das Thema seit dem Ende der gerichtlichen Auseinandersetzung befeuert, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Und jedes Mal sieht Carlsen schlecht aus.
Eine Gelegenheit für einen Befreiungsschlag hat Magnus Carlsen nach seinem Speedchess-Viertelfinalsieg über den Weltranglistenvierten Arjun Erigaisi verpasst. Angesichts des nun fixen Halbfinals gegen Niemann war es im Interview danach eine dieser Konstellationen, in denen Carlsen alle Zuschauer und Interviewer Robert Hess spüren lässt, dass ihm dieser Pflichttermin nicht gefällt. Schmallippig teilte er mit, dass er im Halbfinale lieber einen anderen Gegner hätte.
Was aus seiner Sicht zum Fall zu sagen sei, das sage er in der Netflix-Doku. Ob er es nicht jetzt sagen wolle, hätte Hess fragen können. Er fragte nicht. Wann die Dokumentation erscheint, ist nicht bekannt – anders als der nächste öffentliche Gesprächstermin der Schachfreunde Carlsen und Niemann. Am Freitag, 6. September, 23.30 Uhr, an der Rue de Rivoli in Paris.