Gesundgeschrumpft? Chess.com und die Schachboom-Pause

Zum ersten Mal seit seiner Gründung 2005 ist chess.com geschrumpft – personell und strukturell. 38 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten gehen, knapp zehn Prozent des Personals. Außerdem hat sich das Unternehmen von seinen beiden Buchverlagen getrennt. Die Vermutung, mit diesen Schritten werde chess.com einen Börsengang fit gemacht, weist chess.com zurück.

Als Folge mehrerer Schachbooms und der Übernahme der Play-Magnus-Gruppe liegt eine Phase beispiellosen Wachstums hinter dem Unternehmen mit seinen nach eigenen Angaben rund 170 Millionen registrierten Mitgliedern. Die Übernahme der Norweger brachte mit sich, dass das von Play Magnus zusammengekaufte Sammelsurium von Schachfirmen unter dem chess.com-Dach einzugliedern war – oder aufzulösen bzw. abzustoßen.

August 2022, Übernahme der Play-Magnus-Gruppe, das vorläufige Ende des Wettbewerbs im Schach.
Thome, Agdestein, Carlsen? Wer sich ein wenig damit befasst, was im Schach passiert, dem kommen diese Namen bekannt vor. Jetzt führt das ehemalige Play-Magnus-Trio das norwegische Sport-Start-up SportAI. Chess.com-Botschafter ist Magnus Carlsen in erster Linie auf dem Papier.

Chess24 etwa ist als eigenständiges Angebot längst liquidiert. Nur die Marke und deren Plattformen und Kanäle führt chess.com weiter. Play Magnus ist als Gruppe ebenso wie als App, mit der einst alles anfing, noch im Internet zu finden, obwohl beides nicht mehr eigenständig bzw. gar nicht mehr operiert. Play Magnus lebt trotzdem weiter, aber anders. Die Carlsen-Familie ist nach einem Bericht der FAZ Hauptinvestor beim norwegischen Start-up SportAI, wo ehemalige Play-Magnus-Technologen Erfahrungen aus dem Schach nutzen, um Analytik für andere Sportarten zu entwickeln.

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Auch der englische Verlag Everyman und der niederländische Verlag New in Chess kamen mit der Play-Magnus-Übernahme zur Sammlung von chess.com-Schachunternehmen. Aber ein Geschäft mit gedruckten Inhalten gibt es bei chess.com ansonsten gar nicht, und nun steht fest, dass sich auch keines entwickeln soll. „Wir waren dafür nicht gut positioniert“, sagt chess.com-CEO Erik Allebest.

Everyman und New in Chess gehen an deren ehemaligen Mitbewerber Quality Chess und dessen Chef Jacob Aagaard. Bezahlen musste der in Schottland lebende dänische Großmeister dafür nicht. Im Gegenzug bekam chess.com-Tochter Chessable die Rechte an den 200 Quality-Chess-Titeln, darunter eine ganze Reihe (angehender) Klassiker und preisgekrönter Werke, die Boris-Gelfand-Reihe etwa. Chessable hat längst angefangen, damit zu arbeiten. Zuletzt etwa sorgte die von Peter Heine Nielsen bearbeitete Neuauflage von „Chess Structures“ für Aufmerksamkeit.

“Wir glauben, dass dieser Deal eine Win-Win-Situation für beide Parteien darstellt. Chess.com kann sich auf digitale Initiativen konzentrieren, während sich die Verlage auf ihre Kernkompetenzen im Printgeschäft konzentrieren können“, erklärte chess.com-Vizepräsident Dmitri Shneider gegenüber ChessTech.

Ob Autoren auch Teil dieser gewinnträchtigen Konstellation sind, erscheint vor dem Hintergrund der Fusion dreier starker Verlage zweifelhaft: je weniger Verlage, desto schlechter für die Autoren. Gleichwohl dürfte in der Geschichte des Schachbuchs nie zuvor ein Autor so sehr umworben gewesen sein wie jetzt der Brite Matthew Sadler, dem Aagaard seit Wochen öffentlich Avancen macht. Dem Freund feiner Desserts lässt Aagard sogar Süßigkeiten nach Hause liefern, damit er sein nächstes Buch für den neuen, vereinten Verlag schreibt.

Hallo Matthew, die Desserts liegen vor deiner Haustür…

Lesende speziell des New-In-Chess-Magazins mögen profitieren. Unter dem neuen Chefredakteur Remmelt Otten kann das Magazin nun unabhängig vom mächtigsten Akteur im Schach berichten. Ob das funktioniert hat, lässt sich in der aktuellen Ausgabe besichtigen. Das Otten-Team hat den „Clash of Claims“ zur Titelgeschichte gemacht. Ein Aspekt dieses Matches zwischen Exweltmeister Vladimir Kramnik und Blitzspezialist Jose Martinez waren technische Unzulänglichkeiten der chess.com-Plattform.

Die „Entlassungswelle“ bei chess.com, von der Betroffene reden, traf zumindest einen Teil der 38 überraschend und kurzfristig per E-Mail. Am höchsten in der Hierarchie angesiedelt war Sebastian Kuhnert, bis dahin Vizepräsident Business Development, zuvor Chef von chess24. Obwohl es eine Reihe von ehemaligen chess24-Mitarbeitern getroffen hat, „fühlte es sich nicht wie ein gezieltes Trennen von Ex-chess24-Leuten an“, sagt ein chess.com-Mitarbeiter auf Anfrage dieser Seite. Einige seien weiter beschäftigt, während langjährige chess.com-Mitarbeiter hätten gehen müssen.

“Independent Powerhouse”: Wie chess.com in eigener Sache berichtet. Die Trennung von den Verlagen und die Entlassung von 38 Menschen auf einen Zeitpunkt zu legen, war ein guter Zug. In der ohnehin raren Berichterstattung dominierte die Buchgeschichte.

Nach dem „unglaublichen Schachboom“ hätten zuletzt alle im Schach eine gewisse Rückkehr zur Normalität erlebt, erklärte Allebest auf Reddit. „Wir haben strategische Entscheidungen getroffen, uns zu verkleinern, da einige der Möglichkeiten, in die wir investiert haben, sich nicht bezahlt gemacht haben.“ Nun seien einige Teams überbesetzt gewesen. Chess.com gehe es unverändert gut.

Allebest widerspricht der Darstellung von ChessTech, er habe vor dem Hintergrund eines möglichen Börsengangs die Kosten gesenkt, um die Rentabilität zu verbessern. Chess.com sei seit 2010 profitabel und reinvestiere jedes Quartal.

Die Investmentgesellschaft General Atlantic hat Anfang 2022 die chess.com-Anteile von der Familie Scheinberg übernommen. Laut ChessTech hat General Atlantic die Übernahme der Play Magnus Group finanziert. Seitdem wird mehr denn je spekuliert, ein Börsengang von chess.com könne bevorstehen.

Allebest hat unlängst in einem Interview auf dem Levitov-Schachkanal betont, chess.com sei nicht mehrheitlich im Besitz von Risikokapitalgebern oder privaten Beteiligungsgesellschaften. Hinsichtlich der Pläne, an die Börse zu gehen, räumt Allebest ein, dass Chess.com dereinst ein öffentliches Unternehmen werden könnte. Er erklärte jedoch, dass das Unternehmen derzeit nicht auf einen Börsengang ausgerichtet ist. Auch hinsichtlich der damit verbundenen stärkeren öffentlichen Kontrolle sagte er: „Wir sind noch nicht so weit.“ Chess.com sehe sich weiterhin in einer Wachstumsphase. Priorität sei, in das Produkt und die Dienstleistungen zu investieren.

Erik Allebest zu Gast bei Ilya Levitov. Das Cheating-Thema dominiert, aber es gibt auch eine Reihe von Einsichten zum Unternehmen chess.com.
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