Tilt. Wer online Blitz oder Bullet spielt, kennt es. Du verlierst Partie um Partie, Spaß hast du nicht, du spürst, dass du Zeit verschwendest, aber du kannst nicht aufhören. Diese eine Partie noch. – Und dann noch eine. Und noch eine.
Dies zieht sich normalerweise hin, bis du entweder zu frustriert bist, um es noch einmal zu versuchen, bis du wirklich keine Zeit mehr hast oder, der Extremfall, bis deine Maus zerschmettert auf dem Boden liegt.
Online-Schach muss nicht so sein.
Ein paar Richtlinien und Tricks helfen dir, Tilt zu vermeiden. Wende alle an oder nur diejenigen, die am besten zu dir passen. Ich biete dir ein Buffet, nimm dir davon, was du magst. Aber was du nimmst, musst du konsequent anwenden, sonst funktioniert es nicht.
Bevor ich zu Rezepten komme, möchte ich untersuchen, warum Tilt auftritt. Warum können wir die Blutung nicht stoppen, wenn sie begonnen hat?
So genau willst du es nicht wissen? Okay, falls du es eilig hast, hier meine Tipps vorab in Kürze:
- Spiele Online-Schach nur, wenn du dich voll konzentrieren kannst
- Öffne einen einzigen Tab
- Spiele nie, wenn du dich emotional angekratzt fühlst
- Setze dir ein Limit an Partien, BEVOR du beginnst
- Spiele zum Spaß und zum Lernen. Kein Spaß? Kein Spiel!
- Hör auf, an dein Online-Rating zu denken
Jetzt aber. Gehen wir der Sache auf den Grund.
Warum tiltest du?
Normalerweise läuft dieses Schema ab: Du verlierst eine sehr unglückliche Partie, stellst eine Gewinnstellung ein oder verlierst auf Zeit, kurz bevor du mattsetzt. Anstatt durchzuatmen, willst du dich rächen. Ein Sieg soll das Gefühl der bitteren Schlappe übertünchen.
Offensichtlich funktioniert das selten, aber selbst wenn, dann stellst du schnell fest, dass die schreckliche Niederlage präsent bleibt. Ein Sieg kompensiert sie nicht ohne weiteres.
Du spielst weiter, du verlierst mehr Partien, du steckst inmitten einer schlechten Dynamik. Je mehr du dich ärgerst, desto schlechter wird dein Schach.
Gutes Schach zu spielen, ist nur möglich, wenn du dich ausgeglichen und ruhig fühlst. Emotionen helfen im Allgemeinen nicht.
Der letzte Teil ist der selbstzerstörerischste. Du bemerkst, du hast deine Stimmung in den Keller getrieben, dein Rating auch, und du trittst dich dafür. Während du dir innerlich sagst, dass du ein Idiot bist, klickst du noch einmal auf „Play“. Du bist gefangen in einem Teufelskreis.
Jetzt hoffen einige von euch vielleicht, dass ich das perfekte Rezept vorstelle, das dir hilft, sofort aufzuhören und wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Tja. Das gibt es leider nicht.
Versenkte Kosten
Ein Phänomen namens „Sunk Cost Fallacy“ macht es fast unmöglich, dem Tilt zu entkommen. Die Theorie dazu: Wann immer wir in der Vergangenheit Zeit, Energie oder Rating investiert haben, werden wir in der Gegenwart davon beeinflusst.
Wir können nicht aufhören zu spielen, wenn es schlecht läuft, denn dann würde die vergangene Zeit wie „verschwendete Zeit“ aussehen. Also versuchen wir weiterzumachen, bis wir unsere Bewertung zurückbekommen.
Dieser Prozess läuft fast vollständig unbewusst ab. Ihn dir bewusst zu machen, ist schwierig.
Auch in der Wirtschaftswissenschaft oder im Glücksspiel ist das Phänomen des „Sunk Cost Fallacy“ weithin bekannt. Unternehmensgründer investieren weiter in ihr zum Scheitern verurteiltes Start-up, weil sie bereits viele Jahre und viel Geld darin investiert haben.
Sie wollen nicht zugeben, in der Vergangenheit einen Fehler gemacht zu haben, also machen sie auch in der Gegenwart weiterhin Fehler.
Wahrscheinlich waren viele von euch schon einmal in einem Casino und sind auf den „Sunk-Cost-Irrtum“ hereingefallen. Anstatt den Verlust abzuschreiben, steckt ihr noch mehr Geld in die Spielautomaten oder legt es auf den Roulettetisch.
Dies ist einer der Hauptgründe, warum Casinos so fantastisch gut funktionieren.
Wenn es so schwer ist, aus dem Tilt herauszukommen, gibt es nur eine Lösung: nicht tilten. Das klingt offensichtlich und unmöglich zugleich, aber ich bin sicher, dass du mit meiner Anleitung die meisten, wenn nicht alle Fälle verhindern kannst. Hier meine Rezepte im Detail:
1. Spiele nur Online-Schach, wenn du voll konzentriert bistt
Obwohl der Punkt offensichtlich erscheint, bin ich sicher, dass die meisten von uns damit zu kämpfen haben. Online zu spielen, ist einfacher denn je. Das Spiel ist ja jederzeit verfügbar.
Wenn du unter Umständen spielst, in denen du nicht vollständig konzentriert bist, bereitest du dem Misserfolg eine Bahn. Wenn du doch ohnehin mit etwas anderem beschäftigt bist, warum die Zeit zwischendurch mit etwas verbringen, bei dem du scheitern wirst und nicht dein Bestes abrufen kannst?
Was du willst, ist Qualität, nicht Quantität .
Es ist unglaublich, wie viel besser dein Schach ist, wenn du nur unter günstigen Umständen spielst.
Beweis gefällig? Bitteschön:
Meine Wertung auf chess.com zum Zeitpunkt des Schreibens beträgt 2568. Ja, du hast richtig gelesen.
Für einen GM mit einem klassischen Rating von 2579 ist das absolut katastrophal (Online-Ratings sind meist 200-400 Punkte höher als OTB). Andererseits: Schau dir meine Ergebnisse vom Titled Tuesday an, einige waren ziemlich gut.
Mehrmals hatte ich 8,5/11, landete sogar vor Hikaru Nakamura. Warum dieser Unterschied? Wann immer ich Titled Tuesday spiele, gilt diesem Wettbewerb mein ganzer Fokus. Nichts anderes ist geplant.
Kein Telefon neben mir. Meine Freundin weiß, dass sie das Zimmer nicht betreten soll. Alles ist so eingerichtet, dass ich mich auf meine Partien konzentrieren kann.
Zur ganzen Wahrheit gehört, dass ich auch einige schlechte Titled Tuesdays gespielt habe. Ratet mal, wie das kam. Ich war nicht frei, mich auf meine Partien zu konzentrieren, ich war abgelenkt und nicht vollständig bei der Sache.
Befolge diese „Dos und Don’ts“, wenn du Online-Schach spielst:
- Spiele an einem ruhigen, komfortablen Ort
- Lege dein Telefon während des Spielens weg (oder schalte es stumm!)
- Spiele NICHT auf dem Telefon
- Beseitige jede mögliche Ablenkung
- Lass die Menschen in deinem Umfeld wissen, dass du nicht gestört werden möchtest
- Spiele NICHT, um eine wichtige Aufgabe zu verdrängen
- Spiele NICHT bei der Arbeit oder wenn du weißt, dass du etwas anderes tun solltest
Das einzige, wo ich unentschlossen bin, ist diese Frage: Musik hören oder nicht? Für mich persönlich ist Musik eine Ablenkung. Ich spiele am besten in völliger Stille. Aber es scheint, dass einige Leute wirklich aufblühen, wenn sie Musik hören. Wenn das für dich passt, mach es.
2. Öffne nur einen Tab
Dies passt in den Punkt „Keine Ablenkung“. Für mich ist das wirklich entscheidend, deshalb möchte ich es hier betonen.
In der hypervernetzten Welt ist es fast unmöglich, sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Wir machen Sport, während wir einen Podcast hören, oder recherchieren online, während wir unserem Lieblings-Streamer beim Schachspielen zusehen.
Oder wir spielen Schach, während wir irgendetwas anderes online tun. Lassen es mich klarstellen: Multitasking funktioniert NICHT. Vor allem nicht beim Schach. Schach erfordert unsere volle Konzentration.
Wenn du beim Schachspielen nur diesen einen Tab öffnest, ist das ein Statement an dich selbst. Jetzt volle Konzentration. Keine Ablenkung.
Du denkst „aber ich kann XYZ öffnen und sehe es nur zwischen zwei Partien“? Netter Versuch. Ich dachte dasselbe. Aber nein, das geht nicht.
Du wirst beim Beginn der neuen Partie einige Sekunden verlieren. Dann denkst du, dass du gewinnst, also kannst du es dir leisten, dir nebenbei dieses oder jenes anzuschauen. Bald hast du 17 Tabs geöffnet, 5 Streams laufen, und deine Partien gehen verloren.
Sei streng mit dir. Ein Tab. Keine Entschuldingung, null Toleranz.
Zurück zur Musik. Wenn du Musik hörst, leg dir eine Playlist an, die bis zum Ende deiner Session gilt. Die Sekunden, die du durch den Wechsel zu einem neuen Song verlierst, mögen dir nicht entscheidend erscheinen, aber sobald du eine Partie auf Zeit verlierst, wirst du dich darüber ärgern und bist auf dem Weg ins Tilt. Nicht gut.
3. Spiele nie, wenn du dich nicht ausgeglichen fühlst
Schach kann eine schöne Ablenkung sein. Ich erliege diesem Reflex auch. Vor emotionalen Dingen davonlaufen und Schach spielen. Aber Online-Schach macht die Dinge eher schlimmer, nicht besser.
Wenn wir uns emotional unwohl fühlen, ist es sehr schwer, das Beste aus uns herauszuholen. Dies führt fast zwangsläufig zu einem instabilen Status. Und schlechter Schach zu spielen, als du es könntest, löst nicht das Problem mit deinem Chef, mit deiner Frau, es füllt auch nicht dein Bankkonto.
Also, wann immer die Dinge schwierig erscheinen und du sie beiseite schieben willst, indem du Schach spielst – stop! Widerstehe diesem Reflex. Das macht es meistens nur noch schlimmer.
Schau dir deinen Lieblingsstream an (ich empfehle die Streams von Alessia Santeramo), gehe spazieren, spreche mit einem Freund über deine Probleme. Wenn du emotional im Gleichgewicht bist, kannst du Schach in seiner ganzen Schönheit genießen.
4. Setze dir ein Partien-Limit, BEVOR du beginnst
In den ersten drei Punkten haben wir dafür gesorgt, dass du dein Bestes geben kannst. Das ist entscheidend, aber noch nicht genug. Jeder hat mal einen schlechten Tag, ein solcher Tag kann dich auch ereilen, wenn du alle oben genannten Vorschläge befolgt hast. Um noch besser vorzubeugen, brauchst du ein Sicherheitsnetz.
An dieser Stelle kommt diese coole Idee von meinem Coach ins Spiel. BEVOR du beginnst, lege fest, wie viele Partien du spielst. Ja, nicht eine Zeit, sondern eine Zahl von Partien.
Wieso? Mit diesem Ansatz ziehst du dem „Noch eine Partie“-Problem den Stachel. Eine zusätzliche Spiel sollte KEINE Option sein. Das ist viel einfacher zu befolgen, als „noch eine Partie“ zu spielen und dann aufzuhören.
Ich mag Einheiten von sechs Partien, aber bis zu zehn sollte auch okay sein. Das hängt auch von deiner bevorzugten Zeitkontrolle ab. Du bist Bullet-Fan? Dann kannst du auch 20 Partien spielen, aber übertreibe es nicht. Mit der Zeit wirst du deinen Sweet Spot finden. Für mich sind es sechs Partien 3+0 Blitz.
Das bedeutet nicht, dass du am freien Nachmittag nicht mehr als 6 bis 10 Partien spielen kannst. Aber tu es in Blöcken. Wenn du mit dem ersten Block von sechs Partien fertig bist, mache eine Verschnaufpause. Du fühlst dich gut und hast Spaß? Okay, weiter geht’s.
Aber nicht sofort! Bevor du die nächsten sechs Partien beginnst, analysiere die, die du gerade gespielt hast. Die eigenen Partien zu analysieren ist der effektivste Weg, dein Schach zu verbessern.
Jetzt hast du sichergestellt, dass du konzentriert bist. Dein Partienlimit beugt der „Sunk-Cost-Fallacy“ vor. Nun ist es an der Zeit, die richtige Einstellung zu finden.
5. Spiele zum Spaß und zum Lernen. Spiele nicht, um Rating zu gewinnen
Ich schätze, das hast du schon gehört. Dich auf dein Rating zu konzentrieren, nimmt den Spaß an der Sache. Und führt tatsächlich dazu, dass du schlechter spielst. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Auch wenn du voll konzentriert bist und die feste Zahlen von Partien setzt, kann immer noch eine Katastrophe passieren. Wie? Durchs spielen um Ratingpunkte.
Der Grund, warum du am Computer sitzt und Schach spielst, sollte nicht dein Rating sein. Verstehe das nicht falsch. Ein Bewertungsziel im Kopf zu haben, kann tatsächlich Antrieb sein.
Aber solche Ziele sollten langfristig sein. Wenn wir uns hinsetzen und Schach spielen, sollte es darum gehen, Spaß zu haben und zu lernen. Mit dieser Einstellung spielst du am besten.
In meinem Kopf geht eine rote Warnlampe an, wenn ich mich zum Beispiel ertappe, dass ich denke: „Oh, ich habe 2750, also spiele ich noch zehn Partien und peile die 2800 an.“
Solche Gedanken sagen mir, dass ich entweder meine Denkweise ändern muss oder keine neue Partie starten sollte.
Nach deinen sechs Partien hast du 2198 und willst 2200 erreichen? Okay, noch eine Partie. 30 Minuten später stehst du bei 2150 und wünschst dir nichts sehnlicher, als nach deinen sechs Partien aufgehört zu haben, wie du es dir vorgenommen hattest.
Von meinem schrecklichen Online-Rating habe ich dir schon berichtet. Zuletzt habe ich mich tatsächlich davon abgehalten, Online-Schach zu spielen, weil meine einzige Motivation gewesen wäre, meine Bewertung zu erhöhen.
Das ist definitiv nicht die richtige Einstellung. Ich hoffe, nachdem ich dies geschrieben habe, kann ich meinen eigenen Rat anwenden, um etwas Spaß zu haben und zu lernen.
Sei nicht besessen vom Rating. Versuche einfach, den Prozess des Spielens zu genießen, führe dir Fehler vor Augen, lerne daraus. Mit diesem Ansatz kann sogar eine Session positiv sein, in der du Rating verloren hast: Du hast viel gelernt und hattest Spaß. Darum sollte es gehen.
Die Gründe für seinen Rücktritt vom Profischach Ende 2021 hat Noël Studer auf seiner Website ausführlich dargelegt. Während Studer noch spielte, entstand schon seine Website “Next Level Chess”, deren Vielzahl pointierter, praxisnaher Beiträge zum Schachtraining und -mindset bald internationale Aufmerksamkeit erregte. Auf Deutsch waren Studers Einsichten bislang nicht zu lesen – bis jetzt. Eine Auswahl der besten Beiträge, leicht bearbeitet und gegebenenfalls aktualisiert, wird nach und nach bei den “Perlen vom Bodensee” erscheinen.
Ein sehr interessanter Artikel! Ich muss mich jetzt wohl selbst outen, als jemand der öfter mal tilt, ohne dass ich vorher wusste, dass es ein Wort dafür gibt oder, dass dies ein großes Phänomen ist.
Ein Tipp noch von mir: Sich vorher eine festes “Ziel” an Niederlagen setzen. Z. B. “ich spiele solange, bis ich 3x verloren habe”. Zum Einen spielt man sicherlich noch konzentrierter, wenn man das im Hinterkopf hat, zum anderen hört man genau dann auf, wenn der “Abwärtsstrudel” beginnt.
Ich höre immer auf wenn ich 3 Partien hintereinander verliere.
Bei Niederlagen analysiere ich die Partien immer sofort damit ich nicht auf die Idee komme mich während des nächsten Spiels zu fragen was falsch lief.
Guten Tag Noel, vielen Dank für die sehr guten Tipps. Das spricht mir aus der Seele. Einige Punkte davon passen aber auch auf reale Partien von Angesicht zu Angesicht. Auch da sollte man sicherlich einige dieser von Dir erwähnten Regeln/Punkte befolgen. Ich versuche z. B. immer an einem Vereinsabend nur einige wenige längere Partien zu spielen, schreibe mir die Züge mit und analysiere hinterher mein Spiel und das des Gegners. Das hilft mir sehr, mein Verständnis zu verbessern. Ich bin eh nicht so der Onlineschachspieler und spiele dort eher wenig. Aber Deine Ratschläge passen für mich auch aufs normale Vereinsschach.… Weiterlesen »