Wer “Berührt – Geführt” erfunden hat

Berührt – Geführt.“ Keine Regel des Turnierschachs lernen Anfänger eher als diese. Wer zum ersten Mal einen Schachverein besucht, macht sehr bald Bekanntschaft damit – und mit dem unvermeidlichen Ratschlag, beim Schach am besten auf den Händen zu sitzen. „Berührt – Geführt“ bzw. „Touch – Move“ gilt beim Schach hierzulande seit den 1830er-Jahren. Ludwig Bledow, Erfinder dieser Regel, hätte am Samstag, 27. Juli, seinen 229. Geburtstag gefeiert.

Die Wurzeln und die Wiege des deutschen bzw. preußischen Spitzenschachs finden wir in den 1830er-Jahren in Berlin. Eine der führenden Figuren der Berliner Schachszene war der Mathematiklehrer Ludwig Erdmann Bledow (1795-1846), über den sich viel mehr erzählen ließe als die Berührt-Geführt-Episode, ja, es ließe sich leicht ein Buch füllen.

Im Video: Ludwig Bledow geht gegen seinen Berliner Vereinskollegen Tassilo von Heydebrand und der Lasa arg optimistisch zu Werke, wird aber nicht bestraft und bekommt am Ende die Gelegenheit, taktisch zu glänzen.

Mitte der 1830er war Bledow einer der besten Spieler Deutschlands (das es damals noch nicht gab), womöglich der beste, in den frühen 1840ern vielleicht sogar der beste Welt. Mit seinen Mitstreitern aus der Berliner Schule, den „Plejaden“ (Siebengestirn), leistete Bledow Pionierarbeit in Sachen Eröffnungstheorie. Mehrmals in der Woche trafen sie sich im Berliner Lokal „Blumengarten“ oder im Café Belvédère zum Training oder zu freien Partien.

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Vor allem studierten die Berliner Meister die Anfangsphase der Partie, auch anhand von ihnen gespielter Fernpartien. Ohne diese Arbeit hätten die Preußen nicht so rasch gegenüber den seinerzeit führenden Schachmeistern aus Frankreich und England aufgeholt, sie womöglich sogar überholt, wie der Sieg Adolf Anderssens 1851 in London zeigen mag.

Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais war 1834 der beste Schachspieler der Welt, seiner Zeit voraus. Aber im Berliner Blumengarten an der Potsdamer Chaussee bildete sich um Ludwig Below eine Gruppe preußischer Schachmeister, die rasant aufholte.

Den nach seinem Triumph in England als inoffizieller Weltmeister geltenden Anderssen hatte Bledow noch 1845 in einem Match 5:0 oder 4,5:0,5 (je nach Quelle) vom Brett gefegt. Womöglich hegte Bledow selbst Ambitionen, Weltmeister zu werden. Die Berliner Gruppe plante, 1844 in Trier die erste offizielle Weltmeisterschaft der Schachgeschichte zu organisieren. Die Pläne scheiterten, mögen aber den englischen Spitzenspieler Howard Staunton (ja, der mit den Figuren) bewegt haben, seinerseits das erste internationale Schachturnier 1851 in London zu veranstalten.

Ludwig Bledow sollte diesen Wettbewerb und Triumph seines Landsmanns Anderssen nicht mehr erleben. Ein anderes Mitglied seines Berliner Siebengestirns war in London mit von der Partie, Carl Mayet. Der Jurist schied in der ersten Runde aus: 0:2 gegen Captain Hugh Alexander Kennedy.

Für die Schachkinder vom Bodensee ist Plejaden-Nachfolger Siggi Tarrasch der Go-To-Guy. Aber als neulich Maxim sein erstes Open spielte und nicht wusste, wohin mit seinem Turm, da bot sich an, ihm eine Partie von La Bourdonnais zu zeigen.

Die Beiträge Bledows und des Spanisch-Experten Mayets (nach dem ein Abspiel im Königsgambit benannt ist) zur Eröffnungstheorie waren ein Teil des Fundaments, auf dem das erste moderne, ambitionierte Schachlehrbuch entstand, das „Handbuch des Schachspiels“, umgangssprachlich „Der Bilguer“, benannt nach Paul Rudolf von Bilguer, einem weiteren Mitglied der Berliner Schule. Nicht zuletzt wegen des Bilguers verbreitete sich im Schach die heute weltweit übliche algebraische Notation.

Bilguer (1815-1840) hatte in den 1830ern begonnen, Material fürs Buch zu sammeln und ein Konzept zu erarbeiten. Die 1843 erschienene erste Ausgabe sollte er nie in den Händen halten. Sein Mitstreiter Tassilo von Heydebrand und der Lasa setzte die Arbeit nach dem Tod Bilguers fort. Der Berliner Diplomat betreute das Buch bis zur fünften Auflage 1874, ließ aber stets seinen alten, früh gestorbenen Schachfreund Bilguer als Autor firmieren. 1916 gab Carl Schlechter die achte und letzte Auflage heraus. Bis 1930 erschienen Aktualisierungen.

Die 1880er-Auflage des Handbuchs des Schachspiels, das in mehren Auflagen und Varianten noch erhältlich ist. Aus dem Amazon-Klappentext: “Dies ist wahrscheinlich das berühmteste Schachbuch, das je geschrieben wurde, und es ist sicherlich das einflussreichste Schachbuch, das je geschrieben wurde. Paul Rudolf von Bilguer (21. September 1815 – 16. September 1840) war ein deutscher Schachmeister und Schachtheoretiker aus Ludwigslust, Mecklenburg-Schwerin. Er galt zu Lebzeiten als einer der stärksten Schachspieler der Welt. Tragischerweise starb Bilguer am 16. September 1840 kurz vor seinem 25. Geburtstag Von Der Lasa setzte seine Arbeit fort und veröffentlichte sie 1843.”

Auch Bledow war ein produktiver Schachpublizist. 1846 gründete er die „Schachzeitung“, später „Deutsche Schachzeitung“. Als Redakteur erlebte er nur das Erscheinen der ersten Ausgabe. Die von Bledow gegründete Publikation galt mehr als ein Jahrhundert lang als bedeutendste deutsche Schachzeitschrift. Nach mehreren Fusionen und Vereinigungen ist heute die von Raj Tischbierek herausgegebene „Schach“ der Nachfolger.  

Ursprünglich war die „Schachzeitung“ die Vereinszeitung der Berliner Schachgesellschaft, heute als „SG 1827 Eckbauer“ der älteste noch existierende deutsche Schachverein. Nachdem sich in den 1830ern um Bledow das Siebengestirn geformt hatte, wuchs die Schachgesellschaft bald zum größten, bedeutendsten und spielstärksten Schachverein Preußens, zur Keimzelle des deutschen Spitzenschachs. Aus der Vereinszeitung wurde „die“ deutsche Schachzeitschrift.

Neben all der anderen Pionierarbeit dürfen die Vertreter der Berliner Schule für sich in Anspruch nehmen, die Schachregeln in ihrer heutigen Form begründet zu haben. Im Streben, die Regeln international zu vereinheitlichen, stand im Blumengarten unter anderem die Unterverwandlung zur Debatte. Soll sich ein bis ans Ende des Brettes marschierter Bauer immer in eine Dame verwandeln? Soll er sich nur in solche Figuren verwandeln dürfen, die schon geschlagen worden sind? Beides war damals gängig.

Von der Unterverwandlung, wie wir sie heute kennen und wie sie damals schon in England und Frankreich üblich war, musste Bledow erst überzeugt werden. Diese Überzeugungsarbeit leistete der Maler Karl Schorn, ein weiteres Plejaden-Mitglied. Schorn hatte in den 1820ern in Paris Schach gespielt, bevor er 1832 nach Berlin kam.

Von seinen Mitstreitern unterschied Schorn, dass ihn wissenschaftliches Arbeiten im Schach und Forschung an der Theorie nicht interessierte. Gleichwohl respektierten ihn die anderen als starken praktischen Spieler. Nachdem Schorn und Bilguer eine Mehrheit der Mitspieler von der freien Unterverwandlung überzeugt hatten, sah Bledow „sich im Laufe der Zeit genöthigt, sich derselben ebenfalls anzuschliessen“. So berichtet es von der Lasa 1859 in seinen „Berliner Schacherinnerungen“.

Tassilo von Heydebrand und der Lasa (1818 bis 1899) zog sich in der zweiten Lebenshälfte vom praktischen Spiel weitgehend zurück, blieb aber Sammler, Forscher und Publizist. 1898 wurde er das erste Ehrenmitglied des Deutschen Schachbunds. | Foto: Archiv der von-der-Lasa-Sammlung, Biblioteka Kornicka, Schloß Kórnik via DSB

In Sachen „Berührt – Geführt“ war Bledow der Vorreiter, der mit der bis dahin laxen Berliner Auslegung aufräumte. Anfangs im „Blumengarten“ war verbreitet gewesen, was bis heute bei Schachkindern zu sehen ist, die zum ersten Mal im Club auftauchen: die Figur anfassen, sie hin- und herziehen und dann – ohne Konsequenzen! – wieder auf dem Ausgangsfeld abstellen. Bledow führte „Berührt – Geführt“ ein und setzte sich damit bald durch.

Wie es damals im Berliner Schachleben ablief, als die Figuren „Stücke“ waren und die Dame „die Königin“, wie sich die Regeln herausbildeten und erste Eröffnungstheorie geschaffen wurde, lässt sich anhand von der Lasas lesenswerter „Berliner Schacherinnerungen“ nachvollziehen. Das Werk ist heute frei im Internet verfügbar. Hier ein Auszug zu „Berührt – Geführt“ und Unterverwandlung:

„Im Sommer des Jahres 1837 führte mich Bledow im Blumengarten ein und machte mich im Herbst mit Bilguer bekannt, der sich damals auf unserer militairischen Universität, der Kriegsschule, befand. Das Ergebniss dieser neuen Bekanntschaft, die sich schnell zu intimer Freundschaft gestaltete, war ein gleich günstiges für das Spiel wie für die Theorie. Zahlreiche Partieen wurden damals zwischen uns und mit Mayet, Bledow und Horwitz sowie, namentlich in einem Kaffeehause in der Königsstadt, mit dem neu hinzugetretenen eifrigen Naturalisten Schorn aus Düsseldorf gespielt.

Letzterer, obgleich ein grosser Verächter jeder Wissenschaft im Schach, war doch ein sehr gewandter und ausgezeichneter Spieler. In dem erwähnten Kaffeehause wurden zuerst durch Bledow strengere Regeln, als bisher im Blumengarten üblich gewesen, eingeführt . Ein berührtes Stück musste fortan gespielt werden, während früher nur das Loslassen den Zug vollendete, das Berühren aber und selbst das Herumziehen einer Figur, so lange man diese festhielt, noch keine Folgen bedingte.

Die jüngere Generation nahm die strengere Norm willig an, ging aber in einem andern, das Wesen des Schachs selbst berührenden Punkte über die Ansichten Bledow’s hinaus. Dieser hielt nämlich mit der Mehrzahl unserer Landsleute dafür, dass aus dem Bauer auf dem letzten Felde nur ein bereits geschlagenes Stück werden könne. Schorn, welcher früher viel in Paris, obgleich dort nicht mit den ersten Spielern gespielt hatte, drang hingegen auf die Annahme der in Frankreich üblichen, allgemeineren Umwandlung, ohne Rücksicht darauf, ob der zu wählende Stein noch im Spiele sei oder nicht. Bilguer pflichtete ihm bei und gewann allmälich für die freiere Regel so viele Anhänger, dass Bledow sich im Laufe der Zeit genöthigt sah, sich derselben ebenfalls anzuschliessen.

Er schlug dann selbst für das erneute Statut der Gesellschaft die heut darin stehende verallgemeinerte Fassung des betreffenden Paragraphen über das Avancement der Bauern vor . Durch Bilguer’s Handbuch und Silber- schmidt’s Werk von 1845 ist die erweiterte Regel zur Anerkennung in Deutschland gelangt. Es wäre zwar gewiss hierbei manchem historischen Forscher noch empfehlenswerther erschienen, wenn man bestimmt hätte, dass jeder Bauer immer, wie dies nach uralter Sitte immer der Fall war, zu einer neuen Königin werden musste und nie sich in einen Springer, Läufer oder Thurm verwandeln dürfte. Der Versuch, eine solche an sich gute Bestimmung in Aufnahme zu bringen, hätte uns aber von dem wünschbaren Ziele, die deutschen Regeln, wie es jetzt geschehen ist, gänzlich mit denen Frankreichs und Englands in Uebereinstimmung zu bringen, fern gehalten.“

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Kommentierender
Kommentierender
1 Monat zuvor

Ludwig Bledow ist gewiss nicht der “Erfinder” der Berührt-geführt-Regel.

Diese Regel ist viele Jahrhunderte alt, wurde schon im ersten erhaltenen gedruckten Schachbuch von Lucena (1497) dargestellt. Später z. B. im Selenus (1616), in der englischen und französischen Literatur oder in den “Morals of Chess” von Benjamin Franklin (1779): “If you touch a piece, you must move it somewhere; if you set it down, you must let it stand.”

Ich empfehle die Lektüre des Artikels “Gerührt – Geführt!”, auch von von Heydebrand und der Lasa, aus der Deutschen Schachzeitung, April 1878, S. 97 ff.:

https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11371915?page=113

Last edited 1 Monat zuvor by Kommentierender
Matthias Aumüller
Matthias Aumüller
11 Tage zuvor

Wer die zitierten Schacherinnerungen genau liest, der wird sehen, dass sich die Einführung der Regel ‘Berührt-geführt’ durch Bledow nur auf die Usancen in den Lokalen “Blumengarten” bzw. dem Kaffeehaus bezieht.
Älter noch als Lucena ist das altkatalanische Schachgedicht Scachs d’Amor, in dessen 6. Strophe ‘Berührt-geführt’ sogar als erste Regel erwähnt wird.
Falls Eigenwerbung erlaubt ist, verweise ich für mehr Informationen zu dem erwähnten Schachgedicht auf M. A.: Das Schachspiel in der europäischen Literatur. Eltmann 2023.

Sergej
Sergej
29 Tage zuvor

In meinem Vereinsschachtraining im Nachwuchsbereich wird die Regel Berührt-geführt ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Das betrifft Trainingspartien und Trainingsturniere mit Blitzbedenkzeit. Mir ist wichtiger, dass die Kinder bewusste Entscheidungen treffen und die Möglichkeit haben, ihre Fehler zu beseitigen, wenn sie sie beim Berühren ihrer Steine entdecken. Erst wenn die Schachuhr in Gang gesetzt wurde, zählt der Zug. Wenn ein Kind beim Berühren seines Steines sieht, dass es ein großer Fehler ist, soll es ihn ausdrücklich nicht machen und es soll seine Partie fortsetzen, anstatt aufzugeben, was dem Trainingsprozess überhaupt nicht förderlich ist. Die Bereitschaft, die Schachpartie fortzusetzen, sowie zähe Spielweise wird… Weiterlesen »

Last edited 29 Tage zuvor by Sergej
acepoint
1 Monat zuvor

Endlich wieder einmal eine echte “Perle”! Dankeschön.

Julia Hartmann
Julia Hartmann
1 Monat zuvor

Der Artikel über Ludwig Bledow und die “Berührt – Geführt”-Regel im Schach bietet eine faszinierende Perspektive auf die Entwicklung dieser wichtigen Regel und ihre historische Bedeutung. Bledows Beitrag zur Standardisierung dieser Regel hat das Schachspiel fairer und professioneller gemacht. Interessant ist, dass die Regel bis heute Bestand hat und die Disziplin und Integrität des Spiels fördert. Auch die Arbeit der Berliner Schachschule und ihre Pionierarbeit in der Eröffnungstheorie zeigt, wie wichtig methodische Ansätze für den Fortschritt im Schach sind.