Hans Niemann und Magnus Carlsen sind einander seit ihrer Partie beim Sinquefield-Cup am 4. September 2022 nicht mehr am Brett begegnet. Bei der Blitz-Team-WM wäre es am vergangenen Wochenende beinahe passiert, aber Carlsen vermied die Begegnung. Der Exweltmeister setzte jeweils aus, als sein WR-Team auf Team Hans traf. Sportliche Folgen hatte das Aussetzen nicht. Team WR wurde trotzdem Blitz-Weltmeister.
Nun könnten es fast auf den Tag zwei Jahre später in Paris im Halbfinale der Speedchess-Championship zum ersten Duell Carlsen vs. Niemann von Angesicht zu Angesicht kommen. Niemann hat sich am Mittwoch für Paris qualifiziert, am Donnerstag ist Carlsen an der Reihe. Gewinnt er im Viertelfinale gegen den Weltranglistenvierten Arjun Erigaisi, trifft er im Halbfinale am 6. September 2024 auf Hans Niemann.
Der hat jetzt in einem Interview auf chess.com die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es zu einer Aussprache kommt. Carlsen habe eine persönliche Vendetta geführt, er sei „krank und böse“, sein Verhalten nach dem 4. September 2022 rational nicht zu erklären. „Es gibt keine Diskussion, die zu führen wäre“, sagt Niemann (siehe weiter unten).
Die Speedchess-Championship ist ein Weltklasseturnier im K.o.-Modus, dessen Online-Finalrunden seit dem 25. Juli laufen. Die Kontrahenten spielen dreistündige Matches: 90 Minuten 5+1, 60 Minuten 3+1, 30 Minuten 1+1. Halbfinale, das Match um Platz drei sowie das Finale werden live gespielt.
Niemann hat ein umkämpftes Achtelfinalmatch gegen Maxime Vachier-Lagrave 12,5:11,5 gewonnen. Danach folgte ein erstaunlich glattes 13:10 über Wesley So im Viertelfinale – trotz Doppelbelastung. Niemann spielt parallel in Utrecht ein Match gegen Anish Giri, der Auftakt der von ihm organisierten Serie „Hans Niemann against the world“.
Nach zwölf Blitzpartien am Brett zum Auftakt gegen Anish Giri (7,5:4,5) stand für Niemann das Online-Match gegen Wesley So an. Hinterher gab er Kommentator Daniel Naroditsky auf dem chess.com-Kanal ein ausführliches, explosives Interview – das beim Speedchess-Veranstalter und dessen norwegischem Markenbotschafter wahrscheinlich nicht einfach abgehakt wird. Das Gespräch, übersetzt, redaktionell bearbeitet und gekürzt:
Hans, erst das Blitz-Match gegen Anish Giri, danach das Match gegen Wesley So. Das war ein langer Schach-Tag für dich, du musst erschöpft sein. Was geht dir gerade durch den Kopf – abgesehen davon, dass du hier weg willst, um vor den morgigen klassischen Partien gegen Anish auszuschlafen?
Dass ich vorher gegen Anish gespielt hatte, war gut. Giri und So haben ähnliche Stile. Der Sieg über Anish hat mir einen Schub an Selbstvertrauen gegeben. Der Zeitplan stört mich nicht. Neun Stunden noch, dann habe ich zwei klassische Partien gegen Anish Giri, insgesamt sechs an drei Tagen. Ich werde das genießen.
Gegen Wesley hattest du im Grunde einen Start-Ziel-Sieg. Was war der entscheidende Faktor und wann im Match hattest du das Gefühl, dass du Wesley dort hast, wo du ihn haben wolltest?
Als ich meine Zwei-Punkte-Führung direkt vor dem Bullet auf drei Punkte ausgebaut hatte, fühlte ich mich sehr, sehr zuversichtlich. Klar, einige Partien waren instabil und chaotisch, aber insgesamt war ich nach meinem Gefühl dominant – und er frustriert. Seine Frustration auf dem Bildschirm zu sehen, hat mein Vertrauen ich mich noch einmal gestärkt.
Du hast mit einem Aufseher im Raum gespielt. Vor dem Hintergrund, dass immer noch Leute an der Ehrlichkeit deines Spiels zweifeln, auch aktuell bei uns im Chat: Ist es nicht schwieriger, mit einem Aufseher im Raum zu spielen?
Sonderlich angenehm ist das nicht, aber Wesley hatte auch einen Aufseher, also ist es eine faire Umgebung gewesen. Das Wichtigste ist, das die Leute verstehen sollten, dass ich einer der besten Spieler der Welt bin. Ich habe das immer wieder bewiesen. Jetzt habe ich zwei der besten Spieler der Welt mit einem Aufseher im Raum besiegt. Für die Anschuldigungen, die im Raum stehen, ist ganz wesentlich chess.com verantwortlich. Leider lügt chess.com weiterhin über das Ausmaß meines Online-Betrugs, und sie erklären weiterhin nicht, warum sie mich vor zwei Jahren nach meinem Sieg über Magnus Carlsen gesperrt haben. Ich warte immer noch auf eine Antwort auf diese Frage. chess.com hat mein Ansehen ruiniert. Ich lasse mein Schach für sich sprechen und ich denke, im Laufe meiner Schachkarriere wird deutlich werden, dass ich eine Entschuldigung verdiene, auch wenn ich keine brauche. Ich bin kein Opfer. Der Sieg auf dem Schachbrett wird meine Revanche sein.
Du bist jetzt für das Live-Finale der besten Vier in Paris qualifiziert. Wenn Magnus Carlsen am Donnerstag Arjun Erigaisi besiegt, werdet ihr in Paris aufeinandertreffen. Wie motiviert bist du, gegen ihn anzutreten?
Ich freue mich darauf, in Paris zu spielen. Alles begann mit einer Schachpartie, und es sollte auf dem Schachbrett enden. Was diese mögliche Begegnung angeht, verstehe ich nicht, wie die Schachwelt die Realität verkennen kann. Der einzige Grund, warum ich diffamiert und angegriffen wurde, ist, dass jemand eine persönliche Vendetta führte, um meine Karriere zu ruinieren. Das habe ich trotz aller Medien- und PR-Angriffe überstanden. Für mich geht es jetzt darum, mir selbst zu beweisen, dass ich das größte Hindernis der Welt überwinden kann: diese Schach-Mafia, die gegen mich arbeitet. Ich hoffe wirklich, dass die Schachwelt einschließlich chess.com, FIDE, Magnus Carlsen aufhört, sich wie Babys zu verhalten und mich spielen lässt. Wir sollten Dinge am Brett klären, nicht mit Lügen und Manipulationen Karrieren ruinieren.
Du glaubst, von chess.com zu Unrecht gesperrt worden zu sein. Aber in Interviews hast du gestanden, vor langer Zeit Fair-Play-Verstöße begangen zu haben.
Chess.com-Chef Danny Rensch hat mir am Telefon gesagt, und ich zitiere: „Ich weiß, dass du nie beim Streamen betrogen hast.“ Ich könnte nachts nicht schlafen, wenn ich das einem 19-jährigen Jungen sage und dann einen Bericht mit gegenteiligen Aussagen veröffentliche, der den Ruf dieses Jungen zerstört. Der chess.com-Bericht ist einfach absurd. Sie haben mich des Betrugs in der Pro Chess League beschuldigt. Jedes einzelne dieser Matches wurde gestreamt! Diese Anschuldigung erschien erst, als ich Magnus besiegt habe. Alle anderen Anschuldigungen auch. Sie tauchten erst nach meinem Sieg über Magnus beim Sinquefield-Cup auf. Chess.com sagt sogar selbst, dass ich seit meinem Bann nie wieder betrogen habe – aber dann fusionieren sie mit Magnus‘ Unternehmen und sperren mich plötzlich. Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen, aber ich habe ein Interview im New Yorker gesehen, und da gab es ein anonymes Zitat eines Gegners von mir, der sagt, er sei sich nicht sicher, ob das stimmt, was im Bericht steht. Das warst offensichtlich du, das kann ich aus unseren Gesprächen heraus erkennen. Es spricht Bände, dass du das gesagt hast.
Ich stehe vollkommen dahinter, mir ist nichts Verdächtiges aufgefallen. Aber ich bin nur Kommentator. Von Algorithmen verstehe ich wenig.
Das ist alles so absurd. Wenn sie glauben, dass ich in der Pro Chess League betrogen habe, warum wurde ich nicht sofort gesperrt? Warum tauchten diese Anschuldigungen erst auf, als es die Fusion gab und sie einen Grund brauchten, meine Karriere zu zerstören? Chess.com, ein multinationales Unternehmen, hat entschieden, die Karriere eines 19-jährigen Jungen zu zerstören, weil in Norwegen jemand verärgert war. Das ist die Wirklichkeit. Ich hoffe, dass sie jetzt aufhören, mich zu beschuldigen, und mir die Chance geben zu zeigen, wie gut ich bin.
Im Interview nach der Magnus-Partie hast du zugegeben, betrogen zu haben, als du 12 oder 13 Jahre alt warst.
Ich war ein dummer Junge, der dumme Dinge getan hat, aber nie am Brett, und wenn es um Preisgeld ging. Trotzdem bedauere ich nichts in meinem Leben so sehr wie dieses Fehlverhalten damals. Mich stört, dass chess.com es so darstellt, als habe ich Geld gewonnen und vom Betrug profitiert. Das stimmt einfach nicht.
Was denkst du darüber, dass andere junge talentierte Spieler, die online betrogen haben, nicht öffentlich genannt wurden?
Du weißt, wer sie sind, Dan. Du hast als Berater für chess.com gearbeitet, du hast die Liste gesehen, du kennst die Namen. Es gibt viele Großmeister, die online betrogen haben. Würden Magnus oder Hikaru ehrlich so viel Wert darauf legen, nicht gegen Spieler zu spielen, die online betrogen haben, dann würden sie diese Leute am Brett meiden. Stattdessen führen sie einen kranken persönlichen Rachefeldzug, verirrt, frei von Ethik und Moral. Chess.com hat meine Karriere ruiniert, weil ich ihren neuen Markenbotschafter besiegt habe.
Warum denkst du, dass Magnus dich nicht mag? Was hat er davon?
Rache? Es gibt keinen rationalen Grund, warum jemand solche Anstrengungen unternehmen würde, das ist wirklich krank. Stell dir vor, du bist 19 Jahre alt und hast den größten Sieg deines Lebens, erreichst die höchste Bühne, und ein milliardenschweres Unternehmen in Kombination mit anderen mächtigen Spielern beschuldigt dich einer Sache, die du nicht getan hast. Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn sie dich ständig angreifen. Stell dir vor, sobald du das Haus verlässt, bis du als Betrüger gebrandmarkt und musst mit diesem verrückten Analperlen-Etikett leben – für etwas, das du nicht getan hast. Wie sich das anfühlt, kann keiner begreifen, ohne es selbst erlebt zu haben.
Würdest du dich zu einem Gespräch mit Magnus und Danny Rensch bereit erklären, bei dem alles auf den Tisch kommt?
Diese Leute haben so abscheuliche Dinge getan, dass ich die Beziehung als nicht mehr reparierbar ansehe.
Soll das für den Rest deines Lebens deine Haltung gegenüber chess.com und Magnus Carlsen sein?
Ich sage das respektvoll, Dan. Ich verstehe, dass du für chess.com arbeitest, und ich möchte nicht, dass du deinen Job verlierst. Was ich aus dieser Sache lerne, ist, dass es wirklich kranke, böse Menschen auf der Welt gibt. Diese Leute haben sich so festgefahren in ihrer Sichtweise, wie sollen sie jetzt Schuld zugeben? Was soll chess.com sagen? „Oh ja, wir haben im Bericht gelogen“? Wie soll ich mit Leuten reden, die alle ihre Ressourcen, Geld und Macht eingesetzt haben, um mein Leben zu zerstören? Es gibt keine Diskussion, die zu führen wäre.
Wie lange läuft dein Match gegen Anish Giri? Wie läuft die Tour „Hans Niemann gegen die Welt“ ab?
Meine Website gmhans.com sponsert die Tour. Ich bekomme ja keine Einladungen, also habe ich beschlossen, selbst starke Großmeister herauszufordern und Matches zu organisieren. Dank meiner Sponsoren und meiner Website habe ich die Möglichkeit dazu. Gegen Anish habe ich zu Beginn zwölf Blitzpartien gespielt, dann drei Tage mit jeweils zwei klassischen Partien und zum Schluss sechs Schnellschachpartien. Danach spiele ich in London so ein Match gegen Nikita Vitiugov und danach in Paris gegen Etienne Bacrot. Der Eintritt ist kostenlos. Mehr dazu findest du auf meiner Website gmhans.com. Besuch meine Website, sie ist viel besser als chess.com.
Am Donnerstagnachmittag antwortete chess.com-Chef Daniel Rensch via X:
(Titelfoto: Harry Gielen)
Mein Eindruck war, dass Magnus damals von der Niederlage gegen Hans so überrascht und in seinem Überlegenheitsgefühl gekränkt war, dass er sich dann in etwas hineingesteigert hat. Und nachdem er die Sache so hoch gehängt und immer wieder kommentiert hatte, konnte er irgendwann einfach nicht mehr gesichtswahrend zurückrudern. Dabei gab es ja nicht nur keine Beweise, sondern nicht mal starke Indizien, dass Hans in der Partie, die alles ausgelöst hat, elektronische Hilfen benutzte.
Danke für die Übersetzung, es ist viel bequemer zu lesen, als sich die 30 Minuten auf YouTube anzusehen.
Ich hatte ja vermutet, dass der Vergleich zwischen den Beteiligten eine öffentliche Friedenspflicht beinhaltet. Das Interview ist vor diesem Hintergrund erstaunlich.
“Sportliche Folgen hatte das Aussetzen nicht. Team WR wurde trotzdem Blitz-Weltmeister.” Niemanns Tweet bezog sich dabei auf die letzte Runde im Schnellschach – da am Ende Dusel-Bronze für Team WR: plötzlich spielte Carlsen quasi doch am Damenbrett, die insgesamt enttäuschende Schach-Frührentnerin Hou Yifan profitierte von einem groben gegnerischen Fehler im remisen Turmendspiel – eine von Carlsens Stärken, siehe zuvor er selbst gegen Mamedyarov, dadurch beide Matches 3,5-2,5 statt 3-3. Aber zu Schnellschach schreibt Conrad Schormann … gar nichts. Auch erstaunliche Klöpse im verlinkten New Yorker Artikel, der offenbar nicht von jemand mit Ahnung von Schach korrekturgelesen wurde: “unprecedented winning streak… Weiterlesen »