Dynamik und Druck, Raum und Material, Initiative und Entlastung. Ziele, Schwächen, Belagerung. Schachspieler werden hellhörig, wenn Panzergeneral Freuding den Krieg erklärt. Freuding spricht in Konzepten, die wir von unseren Schlachten auf den 64 Feldern kennen.
Generalmajor Dr. Christian Freuding, Leiter des Sonderstabs Ukraine, erklärt in präziser Sachlichkeit und Klarheit den Krieg, bei dem geschossen und gestorben wird, den, in dem Europa um seine Freiheit kämpft. Nach Monaten der Statik und Starre, in denen die eine Seite drückte und die andere hielt, hat der ukrainische Vorstoß in den Oblast Kursk eine neue Phase eingeleitet, eine, die von Dynamik und Initiative geprägt sein soll.
Als die kleinere, gleichwohl agilere und besser ausgebildete Kraft muss die Ukraine diese Stärken einbringen. Statische Konstellationen der Abnutzung will sie möglichst vermeiden, dynamische erzeugen. Ausschließlich im Donbass zu stehen und gegen einen kontinuierlichen Ansturm von Menschen und Material zu halten, kann die Partie nicht gewinnen.
„Wo immer sich für den militärischen Führer die Gelegenheit zur Initiative bietet, muss er sie nutzen“, sagt Freuding. Oder, in Schachsprache: Die unter Druck stehenden ukrainischen Verteidiger brauchten Gegenspiel. Bei Kursk haben sie es gefunden. Ob sie auch Entlastung für den Donbass gefunden haben, ist noch offen. Das hängt von Putins Antwort ab.
Der Vorstoß auf vier Achsen, der rund 1000 Quadratkilometer Raum eroberte, war zweifellos ein Gambit: tausende Truppen in den Norden geschickt, während im Süden langsam, aber stetig Land verlorengeht. Dazu die hilfreichen Hinweise an den Kreml, dass die russische Aufklärung nicht funktioniert und dass nur von Wehrpflichtigen und Tik-Tok-Soldatendarstellern bewachte Grenzen en passant zu überwinden sind. Beim nächsten Mal wird es nicht so leicht sein.
Aus Sicht der Ukraine birgt die Operation das Risiko, sich eine zweite Schwäche zu schaffen – eben diesen bei Kursk eroberten Raum. Würde die numerisch unterlegene ukrainische Armee demnächst an zwei attackierten Abschnitten der mehr als 1000 Kilometer langen Front ausschließlich stehen und halten, es könnte der Anfang vom Ende sein. Dieses Szenario darf nicht eintreten.
Das „Prinzip der zwei Schwächen“ ist im Schach eine zentrale Methode, um Partien zu gewinnen. Druck gegen eine Schwäche ist gut, reicht aber oft nicht aus, um entscheidend in Vorteil zu kommen. Für die Spielerin mit Initiative gilt es, eine zweite Schwäche im gegnerischen Lager zu schaffen. Ist dieses Ziel erreicht, wird der Sieg greifbar: Konzentriere den Druck von der einen auf die andere Schwäche, und meistens wird die ohnehin gedrückte gegnerische Bastion mangels Koordination, Mobilität und Raum kollabieren. Sind aus einer Schwäche zwei geworden, ist es beim Schach für den Verteidiger oft bald vorbei.
Die Ukrainer wissen das. Sie werden zuvorderst die Dynamik und ihre Flexibilität erhalten wollen, anstatt sich in Kursk ein zweites statisches Problem einzuhandeln, eine Schwäche, die der Feind nach Belieben belagern kann.
Umso erstaunlicher die verbreiteten „Analysen“ in diversen Medien, die dieses potenziell verheerende Szenario als erstrebenswert beschreiben. Viele Kommentator/-innen sehen die zentrale Frage darin, ob es der Ukraine gelingt, den eroberten Raum zu halten.
Das will sie gar nicht! (Bzw. nur so lange, wie die Umstände günstig sind.) Freuding geht davon aus, dass an anderen Grenzabschnitten ähnliche Operationen jenseits der russischen Grenze längst in Vorbereitung sind. Die ukrainischen Pläne würden „weitere Optionen vergleichbarer Art vorsehen“, vermutet der Generalmajor.
Im Schach wie im Krieg ist die Initiative eine Folge taktischer Operationen: hier etwas drohen, einen Verteidigungszug erzwingen, der anderswo entblößt. Dann dort einen Nadelstich setzen und so weiter. Die Initiative an sich reißen kann nur, wer dem ersten Nadelstich einen gezielten zweiten und dritten folgen lässt. Die Fortsetzung, das „Follow-up“, ist im Schach ein wesentliches taktisches Element. Wer erwägt, einen Stich zu setzen, der kalkuliert, ob und wie es weitergeht, wenn der Stich pariert ist. Ohne Follow-up keine Initiative.
Das führt zur tatsächlich zentralen, akuten Frage im Oblast Kursk nach dem ersten Nadelstich: Welches Follow-up haben die Ukrainer geplant? Was ist der nächste Zug? Und abseits solcher taktischen Erwägungen: Welche Strategie steht dahinter? Das Durcheinander sich widersprechender Meldungen und Kommentare der vergangenen Tage zeigt: Niemand weiß es.
In Zeitnot sind die Ukrainer nicht. Die Truppen bei Kursk als Stachel in Putins Fleisch verändern kurzfristig nicht das Wesen des Konflikts, kommen aber mit einer ganzen Reihe angenehmer Effekte und Optionen daher, militärisch und politisch, offensiv wie defensiv, nach innen wie nach außen, Richtung West wie Ost. Der nächste Zug der Ukraine wird auf Putins Reaktion abgestimmt sein.
Sicher ist nicht geplant, den Stachel um jeden Preis stecken zu lassen. Sollte Putin Truppen in Masse heranführen, um das Gebiet freizukämpfen, werden sich die Ukrainer nicht eingraben und aufreiben lassen, sondern sich zurückziehen, ihre Flexibilität bewahren – und fortan diesen und andere Grenzabschnitte für künftige dynamische Operationen im Auge behalten. Die Kursk-Offensive wäre eine Ablenkung gewesen, auch das ein im Schach bekanntes, taktisch wirksames Manöver.
Sicher ist auch, der nächste Zug wird eher ein taktischer sein, der bestenfalls Teil der Wende im Krieg sein kann, kein kriegsentscheidender. Letzteres suggerierte CNN-Korrespondent Nick Paton Walsh, als er die auch seitens der ukrainischen Soldaten im Raum stehenden Fragen in eine schiefe Schachanalogie goss: „Wofür ist all das gut? Was ist das Endspiel?“
Das Endspiel, die letzte Phase dieser Partie, wird nicht in Kursk ausgetragen, sondern im Kreml. Der Weg dahin ist von Unwägbarkeiten geprägt und von ungewisser Dauer, aber der Ausgang des Endspiels steht fest. Der Kollaps des Gangsterregimes wird die Partie beenden, Europa Frieden und Russland einen Neuanfang bescheren.
Irgendwie unpassend, den Ukrainekrieg mit Schach zu verquicken, das tut doch nicht Not.
Ich werde künftig seltener vorbeischauen.
Schwierig, politische Ansichten auf einem Schachblog diskutieren zu wollen. Ich persönlich hätte mich mehr über einen dezidierten Artikel über das Prinzip der zwei Schwächen im (Schach-)Endspiel mit Beispielen und Aufgaben gefreut. Wenn wir schon von Kriegsstrategien sprechen: Man kann übrigens auch nur auf eine Schwäche spielen wie es Nimzowitsch mitunter getan hat. Was dieser immer noch als lavieren bezeichnete, war für den Geschmack seiner Zeitgenossen nicht mehr als ein unsportliches “Piesacken”…. Do not hurry, Belavenets und Shereshevsky sind weitere Stichworte, die ich zur Anregung für weitere Artikel auf diesem Schachblog in den Ring werfen möchte… vielleicht ergibt sich doch nochmal… Weiterlesen »
Wie heißt es so schön in einem Kino-Klassiker der 1970er:
“Ich hasse begeisterte Amateure.”
Wird Zeit, dass dieser Krieg „NATO gegen Russland“ bald beendet wird!
Jedem Blog tut es gut, zu gegebner Zeit von den Kernthemen etwas abzuschweifen. Chapeau.