St. Pauli und die Wikinger

Nach der Verpflichtung von Magnus Carlsen hat der FC St. Pauli fünf weitere Verstärkungen für seine Bundesligamannschaft bekanntgegeben, fünf Großmeister mit Top-100-Format, die dem Club die Klasse halten sollen. In der Liga läuft derweil die Planung für die meistbeachtete Saison ihrer Geschichte. Lange bevor sie an den Brettern um Punkte kämpfen, ringen die Clubs in diesen Tagen um spielendes Personal. Nebenbei geht es um den Spielplan, zentrale Runden und eine Änderung des Reglements, die die Bundesligaversammlung am kommenden Wochenende beschließen soll.

Ein Magnus macht keinen Klassenerhalt. Den aber hatten die Hamburger zum Ziel erklärt, nachdem die Zusammenarbeit mit Jan Henric Buettners Weissenhaus-Schachakademie beschlossen war – und die Aufstiegsmannschaft grünes Licht für weitere Verstärkungen gegeben hatte. Diejenigen, die die zweite Liga Nord gewonnen haben, sind bereit, im Sinne des sportlichen Erfolgs zugunsten von 2600+-Neuzugängen zurückzustecken.

Wenn der FC St. Pauli 2024/25 in Bestbesetzung antritt, wird an den ersten sechs Brettern eine Skandinavien-Auswahl zu besichtigen sein. Mit Magnus Carlsen, Johan-Sebastian Christiansen und Aryan Tari spielen die Nummer eins bis drei Norwegens künftig im Pauli-Dress, dazu mit Jonas Buhl Bjerre und Peter Heine Nielsen die Nummer eins und zwei Dänemarks. Auch der Engländer David Howell geht als Skandinavier durch (mit angelsächsischem Migrationshintergrund). Die englische Nummer zwei lebt in Oslo.

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„Zuerst in Magnus‘ Umfeld“ habe man sich nach potenziellen Neuzugängen umgeschaut, erklärt Akademiedirektor Sebastian Siebrecht, der die Personalplanung in Absprache mit dem Hamburger Club koordiniert. Die Perspektive, mit Carlsen in einem Team für einen besonderen Club zu spielen, dürfte ein wirksames Lockmittel gewesen sein. Anders als bei Exweltmeister Carlsen, der sich seine Projekte in erster Linie danach aussucht, was ihm Spaß macht, wird bei den anderen Neuzugängen das Honorar aus dem Weissenhaus-Budget eine gewichtige Rolle gespielt haben.

Aryan Tari etwa, Junioren-Weltmeister 2017 und Nummer 99 der Welt, hat gerade erst gegenüber norwegischen Medien erklärt, dass er mangels Einkünften und Unterstützung das Schachbrett an den Nagel hängen und ein Studium beginnen will. In Hamburg ist Tari jetzt Teil des Projekts „Die Wikinger kommen nach St. Pauli“. So hat Buettner seine Schar von Nordmännern unter der Totenkopfflagge getauft.  

Vor der Überfahrt in Richtung Elbmündung posieren die Schachwikinger fürs Gruppenfoto. | via FC St. Pauli/Weissenhaus Chess Academy | Composing Ole Friedrich/Hock und Partner mit Fotos von Lennart Ootes und Material von Adobe Firefly

Aus dem Sextett der Neuzugänge haben allein Howell und Christiansen keine Bundesligaverbindung. Christiansen hat noch nie Bundesliga gespielt, Howell zuletzt 2020 für den SV Hockenheim, der sich 2021 aus der Liga zurückgezogen hat. Magnus Carlsen, DWZ 2843, ist zwar Mitglied der OSG Baden-Baden, aber seit Jahren nicht mehr Teil des Kaders. Vor dem St.-Pauli-Deal habe er “ein sehr lukratives Angebot” eines anderen Bundesligisten ausgeschlagen, meldet das Manager-Magazin. Der Wechsel von Aryan Tari (SG Solingen) und Peter Heine Nielsen (SF Deizisau) nach St. Pauli ist dem Vernehmen nach ohne Nebengeräusche abgelaufen. Beide waren zwar Teil eines Bundesligakaders, aber haben wenig (Tari) bzw. gar nicht (Nielsen) gespielt.

Aus Sicht des SK Doppelbauer Turm Kiel wird der Verlust des „dänischen Vincent Keymer“ Jonas Buhl Bjerre (19, Elo 2653) nicht einfach zu kompensieren sein. Die Kieler sind eines der wenigen Bundesligateams mit einer Identität. Sie wollen Talentschmiede sein und mit Nachwuchsleuten in der stärksten Liga der Welt bestehen. Zwar hat der Kieler Kapitän und Coach Wolfgang Pajeken einige großmeisterliche Schlachtrösser gemeldet (Cheparinov, Demchenko, Lupulescu), aber die Matches bestreiten mehrheitlich junge Leute. Bjerre war einer von denen, ein Leistungsträger: 6 Punkte aus 11 Partien am zweiten und ersten Brett in der Saison 2023/24.

Die Süddeutsche Zeitung beleuchtet die “Dreieckspartnerschaft” Buettner-Carlsen-St. Pauli.

Die Personalie Peter Heine Nielsen bedient gleichermaßen die in St. Pauli verlegte Marketing-Wikingerschiene des Weissenhaus-Projekts wie die in Ostholstein angesiedelte Zukunftswerkstatt des deutschen Schachs. Der dänische Hüne spielt mittlerweile in erster Linie Golf. Im Schach ist er Trainer. Dass er nun im Pauli-Team Seite an Seite mit demjenigen Schach spielen soll, den er bis zum Weltmeistertitel gecoacht hat, ist außergewöhnlich, aber nur ein Aspekt der Neuverpflichtung. Der andere: Nielsen wird Coach in der Weissenhaus-Akademie, wo er die Costas, Deuers, Glöcklers oder Besous des deutschen Schachs zu Elitegroßmeistern formen soll.

Es kann nur einen geben, Showdown zwischen Leonardo Costa und Marius Deuer: In der Schlussrunde des Opens beim Budapester Schachfestival Anfang Juni trafen die beiden Ausnahmetalente aufeinander. Der Sieger würde eine GM-Norm bekommen, im Falle eines Remis würden beide leer ausgehen.

Der FC St. Pauli und die Weissenhaus-Akademie lassen offen, ob die Personalplanung damit abgeschlossen ist. Am 1. August müssen die Kader gemeldet sein, und bis dahin wird vor dem Hintergrund einer weitgehend abgegrasten Welt- und deutschen Ranglistenspitze gebastelt und um die Dienste von Spielern geworben. Neu ist nicht nur, dass erstmals die Top 30 der Welt fast komplett in den Bundesligakadern versammelt sind (Alireza Firouzja fehlt noch), neu ist auch, dass sich nicht alle anderen hinter Baden-Baden und Deizisau und deren Personalvorstellungen anstellen müssen.

Auch Baden-Baden und Deizisau gehörten zu den wenigen Bundesligateams mit einer Identität. Obwohl sie seit Jahren im Sinne ihres Clubs, ihres Sponsors und nicht zuletzt der Spieler viel zu wenig daraus machen, so war doch für alle Beobachter stets klar: Für Baden-Baden spielt die Weltauswahl, für Deizisau die deutsche. Unter Schachprofis war derweil klar, dass hier wie dort die im Ligavergleich höchsten Honorare gezahlt werden (und in Baden-Baden die Option Teilnahme am „Grenke Classic“ dazukommt).

Beides weicht nun zusehends auf. Vor allem Aufsteiger Düsseldorf (6 Top-10-Spieler, womöglich 7, siehe nächster Absatz), auch der Deutsche Meister Viernheim (2 Top-10-Spieler) dürfen das Etikett „Weltauswahl“ für sich in Anspruch nehmen. Punktuell verstärkt hat sich Baden-Baden zuletzt mit zwei Spielern aus Deizisau, Vincent Keymer und Alexander Donchenko, was wiederum an der Deizisauer Identität nagt. Jetzt geht nach einjährigem Gastspiel auch noch Bundestrainer Jan Gustafsson, der sich von Düsseldorf hat verpflichten lassen.

In diesem Zusammenhang hat jetzt die Frankfurter Allgemeine Zeitung während der laufenden Transferperiode hinter die Kulissen des Wechselkarussels geschaut (für Abonnenten). „Verstimmt“ seien die Baden-Badener angesichts der Personalpolitik des Düsseldorfer Mäzens Wadim Rosenstein. Seit dem Herbst vergangenen Jahres, lange vor dem Gustafsson-Wechsel, haben die Düsseldorfer wiederholt durchblicken lassen, Fabiano Caruana, Nummer 3 der Welt und in Baden-Baden unter Vertrag, sei nun einer der Ihren.

Jan Werner, Präsident des Düsseldorfer SK, mit Fabiano Caruana.

OSG-Chef Patrick Bittner hat das erstaunt zur Kenntnis genommen. Caruana habe in Baden-Baden keinen Wechselwunsch hinterlegt, erklärt Bittner auf Anfrage. „Für mich ist nur der Spielerwunsch relevant.“ Die „Verstimmung“ in Sachen Gustafsson bestätigt Bittner nicht. „Wir haben ein gutes Verhältnis, ich wünsche ihm alles Gute in Düsseldorf.“ Der Spieler könne frei entscheiden, wo er spielen wolle.

Zwei Wechsel in die andere Richtung, von anderen Clubs ins Badische, sind nach Informationen der FAZ gescheitert. Die Nationalspieler Rasmus Svane und Frederik Svane vom Hamburger SK hätten ein Angebot „eines Clubs aus Süddeutschland“ gehabt, schreibt Stefan Löffler. Dank Unterstützung von Buettner blieben sie in Hamburg – um “die Hamburger Talentschmiede zu stärken”, wie Siebrecht gegenüber der FAZ sagte. Auch die Svane-Brüder sind als Coaches und Mentoren Teil der Weissenhaus-Akademie.

Am kommenden Wochenende tagt die Bundesligaversammlung. Neben dem Spielplan 2024/25 wird es um eine lange überfällige Änderung des Reglements gehen. Künftig sollen die Mannschaftsaufstellungen am Vorabend der Matches öffentlich gemeldet werden anstatt wie bisher kurz vorher. Zwar wird es weiterhin kein Bundesliga-TV und damit keine Präsentationsplattform für Clubs und ihre Unterstützer geben, aber, immerhin, es wird jetzt wahrscheinlich ein kleines Instrument geschaffen, das geeignet ist, Interesse an den anstehenden Matches zu erzeugen.

Wahrscheinlich wird es zum Abschluss der kommenden Serie wieder drei zentrale Runden geben. Aufsteiger SV Deggendorf feiert 2025 sein 100-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass hat der bayerische Club angeboten, eine zentrale Veranstaltung auszurichten. Auch darüber wird die Bundesligaversammlung befinden – und es wäre angesichts des Erfolgs der Zentralrunden 2024 in Viernheim erstaunlich, würde das Angebot abgelehnt.

Offen ist noch, wann die Saison beginnt. Auch in dieser Hinsicht spielt eine Rolle, dass die Bundesliga stark ist wie nie: Wer sämtliche Elitespieler der Welt präsentieren will, der hat ein Problem, wenn diese Supergroßmeister am Spieltag anderen Verpflichtungen nachgehen müssen. Genau so eine Kollision droht der Liga.

Dem Vernehmen nach wird die im vergangenen Jahr vom indischen IT-Konzern Tech Mahindra gegründete „Global Chess League“ in der ersten Oktoberhälfte 2024 in London Station machen, um dort ihre zweite Auflage auszutragen. Eigentlich sollte Anfang Oktober auch die Bundesligaserie 2024/25 beginnen, aber wenn parallel Global Chess League läuft, müssten die drei Meisterschaftskandidaten, der FC St. Pauli und wahrscheinlich weitere Clubs auf ihre besten Spieler verzichten. Die Bundesligaversammlung wird darüber beraten, den Saisonauftakt zu verschieben.

Zwischenzeitlich steht fest, dass der SV Glück Auf Rüdersdorf kein Bundesligist wird. Das Oberlandesgericht Brandenburg hat die Berufung des SV Glück Auf Rüdersdorf e.V. gegen ein Urteil des Landgerichts Potsdam zurückgewiesen. Wie berichtet, wollte der Verein aus Rüdersdorf eine Mitgliedschaft im Schachbundesliga e.V. sowie eine Spielberechtigung in der Bundesliga auf dem Rechtsweg erreichen, nachdem die Bundesliga dem sportlichen Aufsteiger aus formalen Gründen die Mitgliedschaft verweigert hatte.

Rüdersdorf wird 2024/25 in der dritten Liga spielen. Die Qualifikation für die neue, zweigleisige zweite Bundesliga hat der Club nach einer Stichkampfniederlage gegen den SC Kreuzberg verpasst.

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Guido Schleicher
Guido Schleicher
3 Monate zuvor

Helft mir mal auf die Sprünge:
In welcher Mannschaftssportart muss man auch einen Tag vorher ankündigen, wer im Team antreten wird ?
Klingt für mich nach Absurdistan, was ist, wenn jemand erkrankt, Flieger verpasst, etc. ? Brett frei lassen ?
Wollen die großen Meister nicht mehr überrascht werden, wer ihr Gegner ist ?

Victor Busch
Victor Busch
3 Monate zuvor

Spannender Artikel, sowas in der Tagesszeitung und die Leute würden sich mehr für die BL interessieren. Aber überträgt ja niemand und wenn, dann nicht alle Spiele…

Peter
Peter
3 Monate zuvor

Pikant im Zusammenhang mit dem Bjerre-Wechsel ist, das Wolfgang Pajeken noch vor wenigen Jahren selbst für den St. Pauli gespielt hat.

Cashflorist
Cashflorist
3 Monate zuvor

Spannend und informativ, wer wo und wie offenes und verdecktes Sponsoring betreibt und wie sich bestimmte “Transfers” und “Prämien” gestalten lassen. Auch, dass in der Schachbundesliga Doppelinvest möglich zu sein scheint und augenscheinlich kein Interessenskonflikt darstellt, ist erfreulich.