Schacholympiade (1): zwei Kantersiege für die Nationalmannschaften

Wenn es gegen krasse Außenseiter geht, zitieren Trainer gern Theodor Fontane: “Hinterm Berg wohnen auch Leute.” Vor ihren Erstrundenmatches bei der Schacholympiade hätten beide Bundestrainer mahnend Fontane heranziehen können. Hinter den Pyrenäen in Andorra wohnen Leute, hinter dem Maromokotro auf Madagaskar ebenso. Und, Vorsicht, auch diese Leute wissen, wo das Torder König steht.

Nach der ersten Runde liegt die Vermutung nahe, dass rund ums Tsaratanana-Massiv auf Madagaskar noch besser Schach gespielt wird als in den Pyrenäen. Beide deutschen Nationalmannschaften, jeweils hoch favorisiert, gewannen ihre Auftaktmatches. Während die Männer gegen Madagaskar sechs Stunden ackern mussten und gar einen halben Zähler abgaben, gewannen die Frauen mit leichter Hand. 3,5:0,5 hier, 4:0 dort, ohne Keymer hier, ohne Pähtz dort.

Bundestrainer Jan Gustafsson nordet Frederik Svane ein. Dmitrij Kollars und Matthias Blübaum lauschen aufmerksam. | Foto: Maria Emelianova/chess.com

Die sportliche Aussagekraft beider Siege ist begrenzt. Auch wenn die Männer arbeiten mussten, der Doppelsieg stand nie in Frage. Anders als etwa neulich bei der Europameisterschaft, wo tatsächlich alle richtig gut spielen können, starten die hoch gesetzten Teams beim Weltturnier Schacholympiade als klare Favoriten gegen Exoten. Am Mittwoch in Budapest saß auf der Gegenseite exakt ein Spieler von gehobenem Format, IM Fy Antenaina Rakotomaharo (Elo 2440), der Spitzenmann aus Madagaskar.

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Das wird sich in der zweiten Runde ändern. Beide deutschen Teams, die Männer gegen die Philippinen, die Frauen gegen Belgien, werden wieder klarer Favorit sein, aber nicht mehr in dem Maße wie zum Auftakt.

Dinara Wagner soll am ersten Brett nichts anbrennen lassen und zudem in die Rolle der Anführerin hineinwachsen. Elisabeth Pähtz soll mit ihrem unternehmungslustigeren Stil am zweiten Brett möglichst viele volle Punkte holen. | Foto Michael Walusza/FIDE

Mit wie vielen Mannschaften es die an sieben gesetzten Männer und die an acht gesetzten Frauen zu tun bekommen, ist nach dem ersten Spieltag offen. 40 Mannschaften traten nicht an; sie waren entweder unvollständig oder (noch) gar nicht in Budapest angekommen. Das bestätigt die Berichterstattung vergangener Tage über die zurückhaltende Visa-Erteilung ungarischer Behörden insbesondere für Schachsportler:innen aus Entwicklungsländern. Im Prinzip soll die Schacholympiade 2024 die größte jemals werden, aber wie viele Leute genau mitspielen, ist nach dem Auftakt unklar.

Eigentlich wollte die FIDE ein Flüchtlingsteam spielen lassen. Aber das war wahrscheinlich nicht mit der ungarischen Einwanderungsbehörde abgesprochen.

Zu den Klagen in Sachen Visa gesellten sich seit Wochen solche in Sachen Unterbringung. Das Prinzip, den Schäfchen vom Schach in die Tasche zu greifen, ist international gängig. Mancher Organisator lebt davon: Statt Gruppenrabatt gibt’s beim Schach oft Gruppenaufschlag. Großmeister Ivan Sokolov berichtete auf Twitter, er habe für eine Nacht 230 Euro zahlen müssen, den dreifachen Preis, den reguläre Gäste im selben Hotel entrichten.

Erstaunlich ist der Umfang des deutschen Trosses. Noch vor wenigen Wochen erwog das Präsidium des klammen deutschen Verbands nach Informationen dieser Seite, eine Minimaldelegation nach Budapest zu entsenden, um Geld zu sparen: Bundestrainer plus Spielerinnen und Spieler, keine Öffentlichkeitsarbeit, keine Delegationsleitung.

Davon haben die Verantwortlichen nicht nur Abstand genommen, sie haben eine Kehrtwende vollführt. Statt alles bis aufs Nötigste einzusparen, sind die Deutschen jetzt mit einer Rekorddelegation in Ungarn vertreten. Zwei Bundestrainer, ein Eröffnungshelfer für die Männer, Delegationsleiter, zwei Öffentlichkeitsarbeiter, dazu wechselnde Streamer, die in einem offenbar dem DSB zur Verfügung stehenden Raum schachdeutschland.tv bespielen.

Aktuelle Bilder vom Schach mit deutschen Spielerinnen und Spielern gab es es auf Flickr zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags noch nicht, aber schon eine ganze Reihe Fotos vom Drumherum.

Bilder von Nationalspielerinnen und Nationalspielern am Brett während des Schacholympia-Auftaktmatches gab es trotz aller Man- und Womanpower nicht kurz nach dem Anpfiff zu sehen, sondern knapp acht Stunden später ausschließlich für diejenigen, die den Spielbericht auf der DSB-Website entdeckten. Ob Facebook, Instagram oder Twitter: Während die erste Runde lief und in den Stunden danach war es auf den DSB-Social-Media-Kanälen still; keine Kombis, Zwischenstände, Schnappschüsse, Bonmots und hinterher keine Ergebnisse – fürs verwöhnte Publikum ein ernüchterndes Kontrastprogramm zu Chennai 2022 und Budva 2023.

Freunde des Bewegtbilds kamen auf ihre Kosten: sechs Stunden lang Schach-TV auf Twitch. Für die sechs Spieltage hat der DSB Georgios Souleidis verpflichtet, der am Mittwoch zusammen mit Katharina Reinecke kommentierte. Souleidis ist auf eigene Kosten nach Budapest gereist, um die Schacholympiade aus nächster Nähe zu erleben. Die unmittelbare Nähe des Kommentarteams zum Geschehen bringt den Vorteil mit sich, dass Nationalspielerinnen und Nationalspieler ihre Partien zeigen können. Josefine Heinemann und Lara Schulze ließen das Publikum an ihren Gedanken teilhaben.

Wer alle Bretter im Blick hatte, sah bald, dass es gegen die Außenseiter darum geht, ob es am Ende 7:1, 7,5:0,5 oder gar 8:0 für die deutschen Teams steht. Dinara Wagner, am ersten Brett gemeldet, fuhr auf ganzer Breite des Brettes früh auf einer Einbahnstraße. Die Gegnerin von Hanna Marie Klek interpretierte ihren Philidor selten aggressiv. Mit dem König in der Mitte stürmte sie auf Kleks Rochadestellung los – und entblößte ihr Hinterland inklusive zweier schöner Vorposten für Kleks Kavallerie.

Feinstes Sizilianisch nach Richter-Rauser-Art, serviert von Lara Schulze.

Josefine Heinemann sah sich mit den schwarzen Steinen einem Maroczy-Aufbau gegenüber. Anfangs konnte sie nicht viel mehr tun, als ohne Schwächen zu stehen und zu gucken, was Weiß macht. Sie dürfte erfreut gewesen sein, als sich der weiße f-Bauer überambitioniert in Bewegung setzte. Auch hier lief es fortan für Schwarz – ebenso wie zwei Bretter weiter bei Lara Schulze, die bei ihrem Olympia-Debüt mit feiner positioneller Klinge die weiße Stellung sezierte.

Probleme hatten Alexander Donchenko und Matthias Blübaum abseits der Bretter: “Lange rumgeirrt, anstatt den Shuttlebus zu nehmen” seien sie, berichtete Donchenko.

Bei den Männern deutete sich der volle Punkt von Alexander Donchenko in Form eines glatten Mehrbauern früh an. In einem Katalanen hatte er mit Schwarz den c4-Bauern genommen. Er durfte ihn behalten, ohne dafür Zugeständnisse machen zu müssen. Wenig später zeigte Matthias Blübaum wie so oft mit den weißen Steinen seine Virtuosität in d4/d5-Stellungen. Was symmetrisch-unschuldig angefangen hatte, ging plötzlich sehr schnell für Schwarz den Bach runter.

Matthias Blübaums glatter Weißsieg nach unschuldigem Beginn.

Auch Dmitrij Kollars, zum ersten Mal an eins für Deutschland, schien mit Schwarz früh auf Kurs zu sein. Aber er hatte es eben mit jenem Mann vom Maromokotro zu tun bekommen, der schon als 17-Jähriger IM geworden war und während seines Computertechnik-Studiums in Paris mehrfach beinahe die 2500 Elo geknackt hätte. Gegen Kollars baute Fy Antenaina Rakotomaharo eine Festung, die nicht zu knacken war. Trotz Mehrbauern gab Kollars die Partie nach 79 Zügen im Turmendspiel remis.

Nach sechs Stunden und 80 Zügen endlich der Fehler: Weiß zieht und gewinnt.

Einen ähnlichen Plan wie sein Kollege am ersten Brett verfolgte am vierten CM Dylan Rakotomaharavo (Elo 2078) gegen Frederik Svane. Und es hätte auch beinahe funktioniert. Aber es kam, was es oft kommt, wenn fast 600 Elo zwischen den Kontrahenten liegen. Im 80. Zug unterlief dem Nationalspieler aus Madagaskar ein Fehler, der das eben noch ausgeglichene Springerendspiel unmittelbar zu seinen Ungunsten entschied.

Wer den Gewinn im Diagramm oben nicht gefunden hat, kann ihn hier auf dem Foto sehen: die Entscheidung auf dem Brett von Frederik Svane, eine der letzten Partien des ersten Spieltags. | Foto: Michael Walusza/FIDE

In einer ersten Version dieses Beitrags hieß es, der DSB habe Georgios Souleidis für die ersten sechs Spieltage in Budapest eingeflogen. Das war nicht korrekt, Souleidis ist auf eigene Kosten nach Budapest gereist. Er wird zwar sechsmal auf schachdeutschland.tv kommentieren, aber nicht an den ersten sechs Spieltagen. Der Fehler ist korrigiert.

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Georgios Souleidis
Georgios Souleidis
5 Tage zuvor

“Für die ersten sechs Spieltage hat der DSB Georgios Souleidis eingeflogen.”
In diesem Satz sind gleich zwei Unkorrektheiten. 1. Ich trage meine Kosten komplett selbst und bin privat nach Budapest geflogen. Natürlich erhalte ich ein Honorar als Kommentator. Ich hätte auch von zu Hause aus kommentieren können, wollte aber die Olympiade live erleben. 2. Ich kommentiere nicht die ersten sechs Runden, sondern sechs der elf Runden insgesamt.
Herzliche Grüße aus Budapest
Georgios Souleidis aka The Big Greek

Schlacht bei Dennewitz
Schlacht bei Dennewitz
5 Tage zuvor

Es gab auch noch überraschendere Remis, wenn ich da an Mamedyarov denke – und wenn ich mir die Endstellung ansehe, dann auch noch ziemlich glücklich. Schön finde ich auch, dass die Seychellen wieder mit deutscher Unterstützung spielen.

Schulze Forsthövel, Manfred
Schulze Forsthövel, Manfred
5 Tage zuvor

Visaprobleme der Afrikanischen Teilnehmer Bereits beim Kandidatenturnier erfolgte eine zögerliche Visavergabe an die indischen Stars. Ungarn treibt dies auf die Spitze, so dass 13!!! Nationen nicht an der Schacholympiade teilnehmen können. Das ist purer Rassismus mit dem sich Ungarn schon vor Beginn als Veranstalter einer Schacholympiade disqualifiziert hat. Das “Gens una sumus” wird mit Füssen getreten. Sämtliche Teilnehmer sind namentlich bekannt und ihre Ausreise nach dem Turnier kann problemlos kontrolliert werden. Es ist unverständlich, dass sich die FIDE die Visavergabe nicht vor der Vergabe des Turniers an Ungarn hat garantieren lassen. Für die Afrikanischen Spieler, ist die vielleicht einmalige Chance… Weiterlesen »

Berthold Riegel
Berthold Riegel
2 Tage zuvor

“Hinterm Berg wohnen auch Leute” wird auch gerne in Bezug auf die Schachfreunde Anderssen Bad Mergentheim aus “Badisch Sibirien” zitiert. Jedenfalls bis “esch over isch”, um wiederum den Autor hier bei seiner Youtube-Aufarbeitung des Match der dritten Runde zu zitieren zwischen Bad Mergentheim aka Litauen und Deutschland.

Mit den Unentschieden von Fy und Paulius sowie Valerys Sieg gegen Alexander Donchenko steht es zwischen Bad Mergentheim und Deutschland gerecht 2:2.

An Euch und TBG: Weiter so!