Kasparows Weg

Rebell, Visionär und ein Biest am Brett: 40 Jahre nach Beginn des ersten WM-Kampfs zwischen Weltmeister Anatoli Karpow und Herausforderer Garri Kasparow zeichnet eine Arte-Doku den Werdegang Kasparows in einer vom Betrug, Spionage und Intrigen geprägten Welt nach, seine sportlichen Kämpfe wie seinen Widerstand gegen das Sowjet- und das Putin-Regime. Kasparows Lebensweg ist eng mit der Geschichte des Kalten Kriegs verbunden, mit den Umbrüchen in Sowjetrussland vom bleiernen Kommunismus der 1960er-Jahre über Michail Gorbatschow und die Hoffnung auf Öffnung bis hin zur politischen Karriere Wladimir Putins.

Die Doku, bis zum 16. November auch zu sehen auf arte.tv.

Kasparow, 1963 in Baku als Garri Weinstein geboren, offenbarte sein außergewöhnliches Talent, als er seinen Eltern die Lösung einer Schachaufgabe zeigte. Die Eltern wussten nicht, dass ihr Kind vom Zuschauen Schach gelernt hatte. Garris Vater jüdischer Herkunft starb früh, was den jungen Garri und seine Mutter veranlasste, den Nachnamen „Kasparow“ anzunehmen, um sich möglichst wenig dem in der Sowjetunion verbreiteten Antisemitismus auszusetzen.

Kasparows Karriere begann in den 1970er-Jahren, einer Zeit, in der Schach als ideologisches Instrument im Kalten Krieg diente. Der Schachsport war für die Sowjetunion ein Mittel, intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren. Vor diesem Hintergrund war der WM-Sieg des Amerikaners Bobby Fischer 1972 über Boris Spasski ein schwerer Rückschlag.

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1975 kam die Weltmeisterschaft zurück ins rote Riesenreich. Der sowjetische Posterboy Anatoli Karpow gewann sie kampflos. “Halte diesen Titel fest”, sagt im Film mit vielen bislang unveröffentlichten Szenen Kreml-Chef Leonid Breschnew zu Karpow nach dessen Ernennung zum Weltmeister.

Neun Jahre später wollte jemand aus den eigenen Reihen Karpow diesen Titel entreißen, jemand, der die Aufbruchstimmung der jungen Generation im kalten Klima der Sowjetunion verkörperte. Das stieß auf erheblichen Widerstand des sowjetischen Establishments.

Der an Skandalen und Kontroversen reiche WM-Kampf 1984/85 gegen seinen Dauergegner Anatoli Karpow markiert einen Schlüsselmoment in Kasparows Vita. Das Match war von Anfang an ein politisches. Die Sowjetunion unterstützte ihren Titelverteidiger, Kasparow stand unter immensem Druck – und schien daran zu zerbrechen. Nach neun Partien führte Karpow 4:0. Eine schnelle, glatte Niederlage des Herausforderers schien unausweichlich.

Kasparow biss sich gegen einen zusehends ermüdenden Karpow zurück ins Match. Anfangs spielte er möglichst solide und versuchte ausschließlich, Niederlagen zu vermeiden. Das funktionierte – bis zur 27. Partie, die wieder Karpow gewann. 5:0. In der 32. Partie schließlich gewann Kasparow zum ersten Mal, gefolgt von einer weiteren Remisserie. Dann triumphierte Kasparow gegen den erschöpften Karpow in der 47. und 48. Partie. Es stand 5:3 im längsten WM-Kampf der Geschichte, der ein unvollendeter werden sollte.

Nach gut sieben Monaten und 48 Partien brach Florencio Campomanes, Präsident des Weltverbands FIDE, im Februar 1985 den Wettkampf ab. Offiziell hieß es, die Gesundheit der Spieler solle geschützt werden. Kasparow begehrte dagegen auf. Er fand den Abbruch “lächerlich”, sah ihn als durchsichtigen Versuch, Karpows Titel zu retten.

Im November 1985 wurde das Match beim Stand von 0:0 neu angesetzt. Kasparow, nun nicht mehr der Außenseiter, wurde der jüngste Schachweltmeister jemals, der Beginn einer neuen Ära im Schach, in der Kasparow bis zur Jahrtausendwende als unangefochtener Champion galt. Seine Risikobereitschaft, sein dynamisches Spiel und seine tiefe Eröffnungsvorbereitung machten ihn zum dominierenden Spieler der Welt, der zudem von seinem ärgsten Rivalen gelernt hatte. Kasparow kombinierte Elemente aus Karpows Stil mit seiner Angriffslust.

Ein symbolisch bedeutender Abschnitt in Kasparows Schachkarriere war sein Match gegen den Supercomputer Deep Blue. 1997 verlor Kasparow das Revanchematch gegen die IBM-Maschine, was weltweit für großes Aufsehen sorgte. Zum ersten Mal triumphierte eine Maschine über menschliches Genie. Diese Niederlage zu verdauen und zu verarbeiten, fiel Kasparow schwerer als die raren Niederlagen gegen Menschen.

Kasparow äußerte sich früh politisch, eine Folge seines Kampfs auf dem Brett und abseits davon gegen die sowjetische “Schachmafia um Karpow”, wie er es nannte. 1987 erschien sein Buch “Politische Partie“, in dem er auf fast 400 Seiten sein Ringen mit Rivalen, Funktionären und Bürokraten nachzeichnet. Zu den ersten beiden Karpow-Matches schrieb er: “Ich stehe nicht an, die Schachmafia um Karpow politisch mit der Bürokratie zu identifizieren, die im Endstadium der Amtszeit Breschnews das Sagen hatte, sich verbissen an ihre Macht und ihre Privilegien klammerte und ihr Bestes tat, jedwede Initiative zu ersticken. Was zwischen uns ablief, war nicht bloß ein Machtkampf, sondern ein Wertekonflikt. Es standen sich nicht nur zwei gegensätzliche Persönlichkeiten gegenüber, sondern zwei unterschiedliche Lebensauffassungen. Veränderung und Modernisierung waren die Gebote der Stunde, im Schach wie auf vielen anderen Gebieten.”

Festnahme im August 2012 am Rande des Pussy-Riot-Prozesses. Unter anderem der Vorwurf, Kasparow habe einen Polizisten gebissen, ließ sich nicht halten. Im Juni 2013 verließ Kasparow seine Heimat.

Kasparows Mut, das System öffentlich zu kritisieren, blieb eine Konstante, während sich die Systeme änderten. Später stellte er sich offen gegen das zunehmend autoritäre Putin-Regime. 2007 forderte er Putin als Präsidentschaftskandidat heraus und organisierte Massenproteste gegen den Boss im Kreml. In dieser Zeit, kurzzeitig inhaftiert und dauerhaft überwacht, riskierte Kasparow unter anderem, vergiftet zu werden. Mahlzeiten nahm er besonders vorsichtig zu sich. Im Gefängnis bekam er unerwartete Hilfe von Anatoli Karpow, der einem Giftanschlag vorbeugte, indem er Kasparow Essen brachte. Trotz der an Feindschaft grenzenden Rivalität verbindet die langjährigen Rivalen tiefer Respekt.

Kasparow blieb ein lautstarker, unbeugsamer Kritiker des Regimes, bis er 2013 Russland endgültig verlassen musste. Die Dokumentation verdeutlicht, dass Kasparows Gang ins Exil keine leichte Entscheidung war. Er wusste, dass er nicht in seine Heimat zurückkehren kann, solange sich dort die Umstände nicht ändern. Kasparow ging davon aus, verhaftet zu werden und womöglich in Haft zu sterben, sollte er wieder russischen Boden betreten.

In Kroatien und den USA lebend, ist Kasparow seitdem ein gefragter Gesprächspartner, Berater und Vortragender – der doch nicht gehört wurde. Dass der Winter kommt, nicht nur in Europa, wenn Putin nicht gestoppt wird, kündigte Kasparow 2015 nach der Annexion der Krim an. Er warnte die Welt, im Kreml-Diktator einen legitimen Politiker zu sehen, jemanden, mit dem sich verhandeln lässt, jemanden, mit dem sich belastbare Vereinbarungen treffen lassen.

Putin braucht Kriege, und der Westen kapituliert”: Garri Kasparow 2015.

2020 starb Kasparows Mutter Klara Kasparjan in Moskau. Aus Angst vor einem Attentat durch den russischen Geheimdienst entschied sich Kasparow, nicht zur Beerdigung seiner Mutter nach Russland zurückzukehren. Diese Entscheidung war besonders schmerzhaft, da er sich bereits beim Tod seines Vaters von ihm hatte distanzieren müssen. Nun war er gezwungen, auch den Verlust seiner Mutter allein zu bewältigen.

Seit Mai 2022 gilt Kasparow in Russland als “ausländischer Agent”, seit März 2024 als “Terrorist und Extremist”. Aus den neuesten Auflagen von Geschichtsbüchern für die Schule hat das Regime seinen Namen getilgt. In der Reihe der Schachweltmeister fehlt jetzt Garri Kasparow.

Terrorist seit März 2024.
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Matthias
Matthias
23 Tage zuvor

Hab mir die Doku angeschaut. Sie kommt, mal abgesehen von ein paar Fernsehspiel artigen nachgestellten Szenen aus der Kindheit im Grunde daher wie ein Wikipedia Artikel. Scherenschnittartig und oberflächlich. Schade, aber danke trotzdem für die Info!

Holzweg
Holzweg
24 Tage zuvor

Danke für den Mediathek-Hinweis. Werde es dort und nicht auf der Alphabet-Plattform ansehen.
Kommt da auch die New Chronology-Theory vor (https://en.wikipedia.org/wiki/New_chronology_(Fomenko)) oder wie er Peter Thiel promotet hat?

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