Vor gut einem Jahr hat die FIDE die von Arkady Dvorkovich eingeführte Amtszeitbegrenzung für ihre Präsidenten aufgehoben. Damit war der Weg für den 2018 gewählten Russen frei, entgegen seinem Antrittsversprechen über 2026 hinaus im Amt zu bleiben. In einem Gespräch mit ChessBase-India-Chef Sagar Shah hat der 52-Jährige jetzt durchblicken lassen, dass er von dieser Option Gebrauch machen will. Außerdem stellte er fest, dass sein umstrittener Generalsekretär Emil Sutovsky nicht zur Disposition steht.
Über einen Personalwechsel auf seiner Adjutantenstelle nachgedacht hat Dvorkovich durchaus. Auch das schien durch. Nachdem der FIDE-Präsident Sutovskys Engagement und Arbeitseinsatz betont hatte, sagte er nicht, Sutovsky verdiene dafür Lob und Anerkennung. Stattdessen, ohne Anzeichen emotionaler Verbundenheit: Sutovksy verdiene eine „sehr hohe Bewertung“.
Im Kalkül des Technokraten, Sportmanagers und Politikers verdient der in Aserbaidschan geborene Israeli nicht nur als Arbeitstier eine hohe Bewertung. Auch als Blitzableiter, auf den sich Ärger fokussiert, ist er wertvoll. Dass Sutovsky stets wie ein Magnet für Streit und Konflikte auftritt, gibt Dvorkovich die Möglichkeit, sich als ausgleichender Moderator zu etablieren. Trotzdem fordert Dvorkovich speziell Magnus Carlsen auf, seinen Generalsekretär nicht länger als Zielscheibe zu gebrauchen: „Wenn du jemanden angreifen willst, greif mich an.“
Zuletzt hatten sich der Schach-Weltverband und sein Generalsekretär vom besten Schachspieler des Planeten einiges anhören müssen. Seinem „Fuck you, FIDE“ ließ Carlsen harsche Kritik an Sutovsky folgen. Der Norweger schimpfte: „Dvorkovich steht zu seinem Wort, Sutovsky nicht. Ich habe keine Ahnung, warum er bei der FIDE angestellt ist.” Damit nicht genug: „Mit diesem Mann kann man nicht vernünftig reden“, findet Carlsen.
Ihr Gatte sei „ohne Kompromisse er selbst“, hat unlängst Ella Victoria Carlsen erklärt. Im Jeans- und Freestyle-Konflikt mit dem Weltverband gab sich ohne Kompromiss der genervte und angefressene Magnus so klar zu erkennen, dass diverse Fachleute sogleich orakelten, dem Schachsport stehe eine ähnliche Trennung bevor wie 1993, als sich Garry Kasparov als Weltmeister selbstständig machte.
Der Vergleich hinkt, allein schon, weil heute niemand der FIDE den wichtigsten ihrer mittlerweile mehr als 150 WM-Titel streitig macht. 1993 gab es die klassische Weltmeisterschaft am Brett, dazu ein paar private Turniere im klassischen Schach, sonst nichts. 30 Jahre später ist die Zahl der Spielarten viel größer. Dem erheblich gewachsenen Publikum der einstigen Hinterzimmersportart bietet sich eine nie dagewesene Vielfalt, teilweise angeboten von Veranstaltern, die sich als globale Akteure verstehen. Auch Profis, insbesondere solche aus der Weltelite, stehen vor dieser Vielfalt – und vor einem Schach-Terminkalender, in dem sich Überschneidungen kaum noch vermeiden lassen.
Ob ihn die sinkende Bedeutung der Verbände, speziell seines Verbands stört? Wie viele andere blieb auch diese auf der Hand liegende Frage ungestellt. Arkady Dvorkovich führte aus, dass er mehr Schachangebote ausschließlich gut findet. In diese Einschätzung schloss er Freestyle ausdrücklich ein. Eine zentrale Aufgabe des Weltverbands sieht dessen Chef Dvorkovich darin (und das wird nicht nur deutsche Schachfunktionäre überraschen), den Schachsport, nein, nicht zu verwalten, sondern ihn „attraktiver“ zu machen.
Wenn nun Jan Henric Buettner sagt, er wolle Schach „aus den Turnhallen“ holen und ins Rampenlicht stellen, liegt er damit sogar auf Dvorkovich-Linie. Aber da ist eben dieses WM-Thema, das jetzt die FIDE ihre Juristen mobilisieren lässt, wie sich im Gespräch zwischen Dvorkovich und Sagar Shah deutlich erkennen lässt. Dvorkovich sagt zwar „Freestyle“, ein Begriff, der im FIDE-Handbuch nicht vorkommt, aber achtet tunlichst darauf, im selben Atemzug stets auch „FischerRandom“ und „chess960“ zu erwähnen.


Dvorkovich betont zum wiederholten Male, dass er für ein FIDE-Siegel auf einer Freestyle-WM kein Geld will – logisch, das wäre kurzsichtig. Die Freestyle Chess Operations GmbH muss mittelfristig schwarze Zahlen schreiben. Ein Verband, der sogleich aus dem laufenden Betrieb Geld abzieht, wäre hinderlich – und würde der Attraktivität des Sports schaden. Ökonom Dvorkovich sieht diesen Zusammenhang. Er betrachtet die Hamburger Unternehmung als „Pilotprojekt, das selbst Risiko trägt“, die erste Turnierserie in der Geschichte des Sports, die sich rechnen soll. Deren Risiko will der FIDE-Präsident nicht noch vergrößern.
Was Dvorkovich will, und das nicht erst seit Dezember 2024, ist, dauerhaft in Weissenhaus einen Fuß in die Tür zu bekommen. Die FIDE müsse als oberstes Regelorgan anerkannt werden, besonders im Hinblick auf Weltmeisterschaften, fordert er nun. Und verkauft es als „Zeichen des guten Willens“, dass auf seine Initiative hin zumindest in diesem Jahr Freestyle-Teilnehmern keine Sanktionen der FIDE drohen. Gleichwohl könnten „Verstöße gegen bestehende Regeln nicht dauerhaft ignoriert“ werden, betont er.
Weiß denn im Hause Dvorkovich die Linke nicht, was die Rechte tut? Auch diese naheliegende Frage blieb ungestellt. Hätte Dvorkovichs FIDE nicht Carlsen und Nakamura Ende Dezember mit möglichen Sanktionen erzürnt, wäre das Thema gar nicht erst aufgekommen und Dvorkovich müsste es nun nicht mit seinem „Zeichen des guten Willens“ abmoderieren. Glaubt Dvorkovich, Carlsen würde sich beim Reglement seiner Turnierserie von der FIDE reinreden lassen? Buettner das Kleid von Miss Angola oder die Spielersakkos am FIDE-Dresscode ausrichten? Und dann noch einen Verbandschef mit an den Freestyle-Tisch holen, der im Nebenberuf als Kreml-Emissär arbeitet, der den Tag des Schachs mit Putin-Sprecher Peskov verbringt oder die Annexion der Krim bestreitet?
In den kommenden Tagen wird die FIDE laut Dvorkovich eine Erklärung veröffentlichen, um ihre Position deutlich zu machen. Es wird interessant zu sehen sein, ob die FIDE außer „Weltmeisterschaft“ einen Hebel findet, um in Ostholstein Fuß zu fassen. Eine „offizielle“ 960-Elo einzuführen, könnte einer sein.
Der FIDE-Präsident wird in den Monaten bis zu seiner Wiederwahl im September 2026 in Usbekistan Zeit haben, sich solchen Baustellen zu widmen. Wahlen und den damit verbunden Wahlkampf mag er generell nicht besonders, wird damit aber nach eigener Einschätzung vor seiner dritten Amtszeit kaum befasst sein. Mit einer Gegenkandidatin rechnet Dvorkovich offenbar nicht: „Wir müssen keine aktive Kampagne führen. Unsere Kampagne ist unsere Arbeit. Wenn wir gute Arbeit leisten, die Menschen die Ergebnisse unserer Arbeit sehen und diese Ergebnisse unterstützen, dann werden wir wiedergewählt.“
Um auf die Amtszeit seiner Vorgänger zu kommen, wird er weitere Wahlperioden dranhängen müssen. Florencio Campomanes und Kirsan Iljumschinow haben einst so gute Arbeit geleistet, dass die FIDE-Generalversammlung sie für 13 bzw. 23 Jahre im Amt beließ.
(Titelfoto: Niki Riga/FIDE)