Die Rapid- und Blitz-WM ab dem 26. Dezember hätte beinahe mit einem Eklat begonnen. Wie kurz vor Weihnachten bekannt wurde, standen Magnus Carlsen, Hikaru Nakamura und womöglich weitere Topspieler kurz davor, ihre Teilnahme an den Titelkämpfen in New York kurzfristig abzusagen. Laut Nakamura hatte die FIDE gedroht, Spieler, die am Freestyle teilnehmen, aus FIDE-Turnieren auszuschließen. Dem wollten die beiden Superstars des Schachs begegnen, indem sie sich von sich aus zurückziehen – und damit den Wettbewerb an der Wall Street erheblich entwerten.
Wer in den vergangenen Wochen nicht zwischen den Zeilen gelesen oder genau zugehört hat, der muss die Freestyle-Mitteilung vom Samstagabend kryptisch gefunden haben. Freestyle adressierte einen Konflikt, von dem nur Eingeweihte wussten, dass es ihn gibt. Unter der Überschrift „Freestyle Chess und die FIDE einigen sich auf eine friedliche Koexistenz“ hieß es, die 25 Mitglieder des „Freestyle Chess Players Clubs“ (FCPC) und FIDE-Chef Arkady Dvorkovich hätten sich geeinigt, dass Spieler spielen können, wo sie wollen, ohne FIDE-Sanktionen befürchten zu müssen. FCPC und FIDE wollen künftig „im Geiste von Zusammenarbeit und Respekt“ über Weltmeistertitel und deren Anerkennung verhandeln.
Minuten später veröffentlichte der amtierende 960-Weltmeister Hikaru Nakamura ein Video, in dem er Kontext aus der Perspektive eines Spitzenprofis anbot. Die FIDE nehme Freestyle-Schach als eine Bedrohung war, befürchte, dass die Top-Profis Freestyle spielen, anstatt an FIDE-Wettbewerben teilzunehmen – und habe darauf mit einer Drohung gegen die Spieler reagiert, erklärte Nakamura. Der US-Großmeister betonte, dass aus seiner Sicht die FIDE nicht in der Position ist, einen solchen Konflikt erfolgreich auszutragen. Dafür müsste sie ihre Wettbewerbe für die Akteure attraktiver machen, indem sie durchweg relevante Preisfonds aufstellt. Das tue sie aber fast nur im Kandidatenturnier und WM-Match.
Tags darauf meldete sich Arkady Dvorkovich auf Twitter zu Wort. Der FIDE-Präsident stellte klar, dass seine Entscheidung, den Spielern ihre Freiheit zu lassen, ein Ergebnis seiner Kommunikation mit den Spielern gewesen sei. Nichts anderes steht in der Freestyle-Mitteilung, aber dort findet sich der Zusatz, Freestyle-Chef Jan Henric Buettner und chess.com-Chef Daniel Rensch hätten vermittelt („facilitated“). Dvorkovich klagt, die Mitteilung sei nicht mit ihm abgestimmt gewesen. Die 19 Zeilen enthielten „erhebliche Ungenauigkeiten“. Welche das sein könnten, lässt der FIDE-Präsident offen. Er kündigte an, die FIDE werde sich zu diesem Thema bald wieder äußern.
Wenn Dvorkovich den Spielern Wahlfreiheit zusichert, muss sie vorher jemand infrage gestellt haben. Vor dem Hintergrund von Dvorkovichs Intervention liegt nahe, dass die FIDE-Spitze in Sachen Freestyle nicht einheitlich agiert, womöglich gespalten ist. In diesem Zusammenhang ist ein Interview interessant, dass FIDE-Geschäftsführer Emil Sutovsky unmittelbar nach der WM gegeben hat.
„Ich glaube, wenn man Spitzenspieler vor die Wahl stellt, ob sie sich für klassisches oder Freestyle-Schach entscheiden, würden die meisten das traditionelle Schach vorziehen“, hat Sutovsky nach dem WM-Match 2024 der Straits Times erklärt. Nun hat er bzw. seine Organisation es offenbar darauf ankommen lassen – und muss feststellen, dass die Dinge anders liegen als gedacht.
Weltmeister Gukesh hat unmittelbar nach seinem Titelgewinn seine Teilnahme am Freestyle im Februar 2025 zugesagt. Nakamura hat angekündigt, er werde 2025 so viele Freestyle-Turniere spielen, wie er kann, und, abhängig von seinem Erfolg beim Freestyle, „ein Minimum an FIDE-Turnieren“. Die 960-Fans Levon Aronian und Magnus Carlsen können ohnehin kaum erwarten, wieder 960 mit klassischer Bedenkzeit zu spielen. Beide haben das unlängst noch einmal betont. Vincent Keymer, immerhin, setzt für 2025 zwei Schwerpunkte, wie er New in Chess sagte: Freestyle und die Qualifikation fürs Kandidatenturnier 2026.
Der offenbar seit längerem gärende Konflikt dürfte sich daran entzündet haben, dass Freestyle 2025 am Ende der ersten Grand-Slam-Tour mit sechs Turnieren den Freestyle-Weltmeister küren will/wird. Nicht erst seit 2024 reagiert der Weltverband allergisch, wenn jemand ohne FIDE-Segen Weltmeistertitel vergeben will.
„Die FIDE ist die einzige globale Organisation, die vom IOC anerkannt ist, um die Schachweltmeisterschaften aller Kategorien und Altersgruppen auszutragen“, teilte der Weltverband schon vor elf Jahren mit, als die (zwischenzeitlich insolvente, unverändert tätige) „Amateur Chess Organization“ (ACO) mit ihren Amateur-Weltmeisterschaften die Bühne betrat. Rechtlich dagegen vorgegangen ist die FIDE laut ACO nie.
Im April 2022 handelte sich chess.com (neben Spott und Hohn von Lichess) Ärger mit der FIDE ein, als das Unternehmen erstmals eine „chess.com World Championship“ ankündigte. Zwei Tage nach der Ankündigung war diese „World Championship“ beerdigt bzw. in „Global Championship“ umbenannt. Der mit einer Million Dollar dotierte Wettbewerb blieb eine einmalige Sache.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung diagnostizierte schon damals das Potenzial “des digitalen Quasi-Monopolisten”, die FIDE unter Druck zu setzen. Ein Jahr später schloss Sutovsky im Gespräch mit einer russischen Zeitschrift einen Konflikt der FIDE mit chess.com und dessen Eskalation nicht aus (siehe Bericht unten). Aber in der Carlsen-Niemann Affäre hielt sich der Weltverband noch zurück, um chess.com-Botschafter Carlsen nicht zu vergrätzen, damit dieser vielleicht doch noch am Kandidatenturnier 2024 teilnimmt.
Währenddessen versuchte der Verband, in Ostholstein einen Fuß in die Tür zu bekommen. Wie berichtet, stand das Angebot im Raum, das WM-Match 2024 und parallel die 960-WM in Weissenhaus auszurichten. Die eigentlich für Februar 2024 angesetzte 960-WM hatte die FIDE in Ermangelung eines Ausrichters stillschweigend aus ihrem Turnierkalender gestrichen. Sie ist bis heute nicht neu ausgeschrieben. Eine Anfrage dieser Seite bei der FIDE zum Status ihrer 960-WM blieb unbeantwortet.
Nach den anfänglichen Avancen Richtung Weissenhaus nun die Konfrontation. Wahrscheinlich beschwingt vom WM-Erfolg in Singapur und der anstehenden FIDE-Wall-Street-WM in New York hat der Weltverband zum ersten Mal versucht, gegenüber einem privaten Veranstalter einen Pflock einzuschlagen, indem er Spieler vor eine Entweder-Oder-Wahl stellt.
Eine privat organisierte 960-Weltmeisterschaft wäre nicht neu. Schon 2001 ließ Hans-Walter Schmitt diesen Titel erstmals in Mainz ausspielen. Peter Leko wurde erster Weltmeister. Der Unterschied zu heute: Das Spiel war noch nicht Teil des FIDE-Kanons und damit Streit um „offizielle“ Titel nicht zu befürchten. Seit 2019 steht Chess960 im FIDE-Handbuch. Im Finale der ersten FIDE-960-WM 2019 putzte Wesley So Magnus Carlsen mit 13,5:2,5 von der Platte.
Die Zahl der Weltmeistertitel, die die FIDE vergibt, wächst kontinuierlich auf mittlerweile mehr als 150. Die Zukunft dieses einen ist ungewiss.
Der aktuelle Konflikt, wie immer er enden mag, wirft ein Schlaglicht auf die wirklich existenziellen Themen, die die beiden „im Geiste von Zusammenarbeit und Respekt friedlich koexistierenden“ Organisationen kurz- und mittelfristig viel mehr beschäftigen wird als der WM-Titel und ob darauf ein Verbandssiegel klebt oder nicht. Während die FIDE um ihre Bedeutung und das Mitwirken von Topstars in FIDE-Turnieren ringt, steht Freestyle vor der Aufgabe, die erste profitable Turnierserie in der Geschichte des Schachsports zu erschaffen.
Wo soll man da anfangen? Carlsen will ohnehin kein Normalschach mit klassischer Bedenkzeit mehr spielen. Nakamura findet seine Elo 2800+ so toll, dass er seither vorsichtshalber auch darauf verzichtet – vielleicht ja ein Bundesliga-Wochenende, damit er nicht offiziell inaktiv wird, vielleicht auch nicht da Norway Chess mit pseudo-klassischer Bedenkzeit gerade rechtzeitig wäre. Aronian erlag im Herbst seiner Karriere erst dem Lockruf von Rex $inquefield und lässt sich nun vor den norwegischen Karren spannen. Ob “Freestyle Chess” für Keymer 2025 ein “Schwerpunkt” werden kann muss sich noch zeigen: wenn er im Weissenhaus nicht unter den ersten drei landet wären weitere Einladungen… Weiterlesen »
Der beste Kommentar zu diesem “Freestyle Chess” kommt von Jacob Aagaard:
Steile These: Magnus‘ Jeans wurde nicht ausgewechselt weil seine bessere Hälfte lieber an die Sonne wollte, daher lässt er jetzt die Blitz-m sausen. Ich bin sicher er postet bald Bilder aus Florida oder Hawaii. Gruss Clemens.
@Ingo Althöfer , @ Clemens Allwermann …ohne den Hintergrund Ihrer Kontaktanfrage an den Schachfreund Allwermann zu kennen,werter Herr Althöfer , kam auch mir der Gedanke : Mutig, an die Öffentlichkeit zu treten…aber diesen Mut bewundere ich. Denn dieser Vorfall, den wir gewiss alle kennen…liegt nunmehr fast 27 Jahre zurück. Ich bin nicht willens und in der Position vergeben zu müssen…aber beruht das menschliche Miteinander nicht auch auf dem Prinzip VERZEIHUNG ( neben der menschlichen Schwäche VERGESSEN…welche manchmal eine Gnade ist?) Aus journalistischer Perspektive freue ich mich über den mutigen Schritt von Herrn Allwermann…und hoffe, die Jahre nach 1998 bedeuteten für… Weiterlesen »
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