Unbesiegt hat Volodar Murzin (Russland) die Schnellschach-WM mit 10 Punkten aus 13 Partien gewonnen. Mit 18 Jahren ist er der zweitjüngste Schnellschach-Weltmeister der Geschichte nach Nodirbek Abdusattorov, der 2021 bei seinem Sieg 17 Jahre alt war. Das offene Turnier endete mit einem russischen Dreifacherfolg. Hinter Murzin belegten Alexander Grischuk und Ian Nepomniachtchi die Medaillenränge. Tags darauf gratulierten sogleich Vladimir Putin und dessen Sprecher Dmitry Peskov zum „russischen Triumph“ in New York.
Koneru Humpy (Indien) wurde mit 8,5/11 Weltmeisterin, nachdem sie ihre Auftaktpartie verloren hatte. Für Humpy ist es der zweite Rapid-Titel ihrer Karriere, der sich in die jüngste indische Erfolgsgeschichte fügt: Nach dem indischen Schacholympia-Doppelsieg und dem Weltmeistertitel für Gukesh vollbrachte die 37-Jährige den nächsten indischen Triumph.
Trotz einzelner Glanzlichter verlief der Wettbewerb für die deutsche Delegation ernüchternd. Elisabeth Pähtz schien bis zur Vorschlussrunde auf Medaillenkurs zu sein, handelte sich dann aber eine krachende Niederlage gegen Turnierüberraschung WIM Afruza Khamadamova ein. Die 15-jährige Usbekin gewann in New York mehr als 200 Elo. Pähtz und Dinara Wagner landeten mit 7/11 auf den Rängen 14 und 15.
Im offenen Turnier erzielte Matthias Blübaum mit 7,5/13 auf Rang 50 das relativ beste Ergebnis. Weder er noch Frederik Svane, Rasmus Svane oder Alexander Donchenko schafften es in die Preisränge. Nicht viel besser erging es einigen Weltklassespielern. Wesley So etwa musste sich mit 7/13 und Rang 61 begnügen.
Neben zwei neuen Weltmeistern hat die Rapid-WM den ersten WM-Kandidaten 2026 hervorgebracht. Fabiano Caruana, dessen Führung im FIDE-Circuit unlängst der deutsche Großmeister Alexander Donchenko ins Wackeln gebracht hatte, ist qualifiziert. Seinem Circuit-Verfolger Arjun Erigaisi gelang es bei der Rapid-WM nicht, ihn zu überholen. Erigaisi wurde Fünfter. Für die Kandidaten-Qualifikation hätte er das Turnier gewinnen müssen.
Am heutigen Sonntag ist Ruhetag mit der Podiumsdiskussion über Schach und Finanzen, bei der der angekündigte Stargast Magnus Carlsen voraussichtlich fehlen wird. An den Brettern geht es am Montag mit den Blitz-Weltmeisterschaften weiter – mit Carlsen. Der Sonntag in New York war geprägt von Verhandlungen mit dem Ziel, Carlsen die Teilnahme am Blitz schmackhaft zu machen. Unter anderem FIDE-Vizepräsident Viswanathan Anand wurde im Zwiegespräch mit dem Norweger gesichtet. Abends dann die Nachricht: Magnus Carlsen spielt mit!
Jeansgate
Überschattet wird der sportliche Wettbewerb vom „Jeansgate“, dem Ausscheiden von Magnus Carlsen, der 2025 erstmals seit 2014 keinen Weltmeistertitel halten könnte, sollte er nicht am Dienstag kurz vor dem Jahreswechsel die Blitz-WM gewinnen.
Zum Rapid in New York fehlte ihm vielleicht einfach nur die Bauernschläue von Großmeister Zaven Andriasian. Zur schiedsrichterlichen Kleidungskontrolle ins Hinterzimmer gebeten, erklärte der Armenier den Regelhütern, bei seinen Beinkleidern handele es sich nicht um Jeans, sondern „um Hosen“. Damit kam er durch. Andriasian durfte die Rapid-Weltmeisterschaft so weiterspielen, wie er gekommen war.
Vielleicht hatte Magnus Carlsen auch einfach nur Pech, weil er naturgemäß exponierter war als alle anderen im Saal. Sicher ist, an Spielerinnen und Spielern, die unbehelligt in Jeans oder mit Sneakers am Brett saßen, mangelte es im für knapp zehn Millionen Dollar angemieteten ehemaligen Gebäude der National City Bank an der Wall Street sowie dem Spiellokal gegenüber nicht. Das offenbart ein Blick auf die Fotosammlung von den ersten beiden Turniertagen, das offenbart auch ein Blick in die Sozialen Medien.
Sanktionswürdig ist weniger Magnus Carlsens stets gediegene Bekleidung, mehr sein notorisches Zuspätkommen. Auch zum zweiten Turniertag der Rapid-WM 2024 erschien er erst, als seine Uhr schon lief. In diesem Fall führte Carlsens Unhöflichkeit dazu, dass Kevin Pryor, neuer Präsident des US-Verbands, an einem halbverwaisten Brett in Abwesenheit des Titelverteidigers den Eröffnungszug ausführen musste. Carlsen gab hinterher an, er habe vor der Runde eine Besprechung gehabt, sich dann schnell umgezogen, Sakko und schicke Schuhe, aber nicht daran gedacht, dass die Jeans, die er trug, nicht dem neuen FIDE-Dresscode entspricht.
Dieser Dresscode mit seinen kleinteiligen Bekleidungsvorschriften riecht streng nach Schachverwaltung: Etwas, das sich nicht im Detail regeln lässt, soll partout im Detail geregelt werden. Anstatt Schach in erster Linie zu ermöglichen, gilt es, Regeln zu erfinden, um Verstöße dagegen sanktionieren zu können, was angesichts der Masse an Spielerinnen und Spielern und der fließenden Übergänge von Sneakers zu Sportschuhen oder „Hosen“ zu Jeans nicht stimmig und einheitlich funktionieren kann.
Die FIDE zieht es trotzdem durch. Vor einem Jahr führte ihr Schachverwaltungsstarrsinn zum Sneakers-Drama, diesmal zum Jeans-Drama. Es wäre nicht erstaunlich, würde die FIDE als Reaktion darauf demnächst einen noch detaillierten Dresscode und den dazugehörigen Sanktionskatalog veröffentlichen, anstatt zur Vernunft zu kommen. Die einfache Vorgabe, alle Beteiligten mögen ordentlich gekleidet sein, wäre sinnvoller als ein zehnseitiges Dokument, in dem erlaubte und verbotene Kleidungsstücke abgebildet sind.
Magnus Carlsen lag auf Rang 41 unter 180 Teilnehmern, als er sich nach 8 von 13 Partien aus dem Turnier zurückzog. Drei von vier Partien hat er am zweiten Turniertag in Jeans absolviert. Hauptschiedsrichter Alex Holowicz belegte ihn anfangs wegen eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung mit einer Geldstrafe von 200 Euro. Carlsen lehnte ab, sich wie gefordert vor der neunten und letzten Runde des Tages umzuziehen.
Er bot an, am nächsten Tag dem Dresscode entsprechend zu erscheinen. Als der Schiedsrichter daraufhin forderte, er müsse sich untenrum sofort neu anziehen, „ist es für mich eine Sache des Prinzips geworden“, erklärte Carlsen. „Meine Geduld mit der FIDE war ohnehin fast am Ende. Natürlich können sie ihre Regeln durchziehen, aber dann bin ich halt draußen. Ich habe die FIDE satt, ich will das nicht mehr.“ In einem Interview mit dem norwegischen Fernsehen entschuldigte sich Carlsen bei den Fans, die ihm gerne weiter zugesehen hätten.
War es das mit Carlsen und FIDE-Turnieren? Weltmeister Volodar Murzin hofft, „vielleicht im nächsten Jahr“ den direkten Vergleich mit Carlsen zu bekommen. FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich, nach eigenen Angaben wegen Krankheit abwesend, sagt, er stehe zwecks Deeskalation schon in Kontakt mit den Carlsens. Auf die Frage, ob er glaube, dass Carlsen wieder FIDE-Turniere spielt, antwortete er: „Vielleicht ist es ein großer Fehler, den ich jetzt mache, wenn ich das sage, aber ich denke ja.“
Allemal gäbe es für Carlsen in Sachen FIDE noch ein Ziel: 20 Jahre, von 1985 bis 2005, führte sein Vorgänger Garry Kasparov die Weltrangliste an. Carlsen fehlen sechs Jahre, um damit gleich- oder gar vorbeizuziehen. Aber das bedürfte zumindest gelegentlicher Teilnahme an klassischen Wettbewerben, um nicht inaktiv zu werden. Eine Partie pro Jahr würde schon reichen, etwa in der Bundesliga, wo er am 11. und 12. Januar für den FC St. Pauli antreten wird. Jeans werden erlaubt sein, HSV-Trikots verboten:
Mehrere Spieler haben nach dem Eklat ihre Sichtweise auf die Auseinandersetzung kundgetan. Hans Niemann etwa sagte in seinem Interview mit Levy Rozman, es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, dass diese „Bombe explodiert“: „Magnus hat jetzt die perfekte Ausrede, um die FIDE komplett herauszufordern, wie er es schon seit sehr langer Zeit tun wollte.“
Hikaru Nakamura sagte zu Rozman: „Es geht nicht wirklich um die Jeans oder die Kleidung, es geht um eine viel größere Situation, die sich in Bezug auf Freestyle-Schach zusammenbraut. Es wäre so oder so passiert.“ Nakamura sprach sich dafür aus, dass die 20 besten Spieler eine Gewerkschaft gründen, damit ihre Forderungen mehr Gewicht haben.
Eine solche Aussage mag Nakamuras Perspektive als Weltranglistendritter und Social-Media-König geschuldet sein. Gerade in Richtung Top 20 fließt dank eSport, Global Chess League und Freestyle mehr Geld denn je. Anlass, eine neue Gewerkschaft zu gründen (die alte hat sich mangels Beteiligung aufgelöst), hätten nicht die Topspieler, sondern diejenigen, die ihren Unterbau bilden und ohne die der Schachbetrieb nicht funktionieren würde.
Qualifikationsmöglichkeiten und Durchlässigkeit sollten aus Sicht „normaler“ Schachprofis gerade jetzt ein drängendes Thema sein – nicht nur wegen Partizipation an neuen Eliteveranstaltungen, auch wegen des möglichen Niedergangs des Weltverbands. Sollte die FIDE demnächst ohne Carlsen und Nakamura auskommen müssen, wird es ihr noch schwerer fallen, Partner für ihre Veranstaltungen zu finden und relevante Preisgelder aufzutreiben. Treffen würde es Profis unterhalb der Weltelite.
Diese Schwierigkeiten scheinen sogar an der Wall Street durch. Im Wesentlichen ist die FIDE von Timur Turlov und dessen Finanzunternehmen Freedom finanziert. Offenbar gibt es keine Unternehmen, die ihr Logo an der Wall Street neben dem von Freedom sehen wollen. Freedom und Turlov, von der Ukraine sanktioniert, vom US-Justizministerium untersucht, hatten online wie im Spielsaal alle Werbeflächen für sich, bis am dritten Spieltag im Livestream plötzlich das Logo des gerade wiederauferstandenen Internet Chess Clubs (ICC) auftauchte.
Wie am 26. Dezember an dieser Stelle aufgezeigt, gärte der Konflikt zwischen FIDE und Freestyle wegen der Absicht, einen Freestyle-Weltmeister zu küren. Eine solche Kür beansprucht die FIDE exklusiv für sich. In einer ersten Reaktion bezichtigte FIDE-Geschäftsführer Emil Sutovsky die Freestyler Carlsen und Nakamura der Lüge. Es habe nie eine Drohung gegeben, sie aus FIDE-Turnieren auszuschließen. Beide Spieler haben ihre Aussage zwischenzeitlich bekräftigt.
Sutovskys Chef, FIDE-Präsident Dvorkovich, äußert sich in aller Ausführlichkeit am ehesten gegenüber russischen Medien. Gegenüber dem Sportportal Match TV ließ er jetzt durchblicken, die Ankündigung einer Freestyle-WM nach monatelangen Verhandlungen habe ihn überrascht. Dvorkovich gab ein bemerkenswertes Detail preis: Demnach haben Teilnehmer des FIDE-WM-Zyklus einen Vertrag unterschrieben, der ihnen untersagt, an Weltmeisterschaften anderer Veranstalter teilzunehmen. Dieser lange obsolete, aber nie gestrichene Passus, der der FIDE jetzt sehr recht kommen dürfte, ist ein Relikt aus der Zeit, als sich Weltmeister Kasparov von der FIDE löste und seine eigene WM organisierte.
Sorry, aber ich finde es gut, wenn nicht Private irgendwelche Turniere veranstalten und dass dann WM nennen. Das war vor 20 Jahren mit der 960-WM schon lächerlich und das ist es immer noch. Ich bin kein Fan der FIDE, aber noch übler finde ich eine Wild-West-Mentalität, wo jeder irgendwelche WM-Titel ausschreibt, der genügend Geld hat. Notwendig wäre es dafür aber, dass die FIDE, im Blick hat, was für WM-Turniere sinnvoll sind und welche nicht. Eine Club-WM ist ein gutes Beispiel für das fehlende Gespür der FIDE. Aber: Hand aufs Herz: Wen interessiert, dass Wesley So vor ein paar Jahren chess960-Weltmeister… Weiterlesen »
Mir ist das etwas zu polemisch geschrieben bzgl. der Kleidervorschriften. Ist ja nicht so, daß es sich die FIDE komplett im Alleingang ausgedacht hat und das nun diktatorisch durchsetzt. Da waren auch Spieler beteiligt (Athletes’ commission). Das darf ruhig erwähnt werden. Trotzdem recht unfair, daß wohl manche von der FIDE sanktioniert werden, aber andere nicht. Ungleichbehandlung hat noch nie weitergeholfen.
Zum Thema Jeansgate hat ein Freund von mir an Groucho Marx erinnert:” Ich habe Prinzipien. Sie gefallen Ihnen nicht? Ich habe auch andere…” Manche Sachen sind so gut, das sie einfach zeitlos sind. Herrlich.
Habemus iterum Papae
Zwei Päpste im Blitzschach mal habend,
mag lustig sein, aber warum?
Saß jüngst nicht im römischen Abend
ein Papstpaar vergnüglich herum?
Der Benedikt samt seinem Franzl,
sie waren das göttliche Paar,
wie nie eins zuvor fern der Kanzel
im trauten Gespräche wohl war.
Und gab’s in den Neunziger Jahren
nebst Kasparow nicht den Khalif,
den man als den eigenen Zaren
von Seiten der FIDE berief?
Den Ball also flach mal zu halten,
wär wirklich hier sehr angebracht.
Es blieb praktisch alles beim Alten
in gestriger Neujahresnacht.
Und auch im Schach war seinerzeit
just Papst Silvester blitzgescheit!