Nicht so wild wie Ding-Nepo 2023, aber nahe dran. Was 2024 beim WM-Match zwischen Gukesh und Ding Liren auf dem Brett und in den Köpfen der Kontrahenten geschah, entzog sich zuverlässig allen Diagnosen. Experten, die sich Vorhersagen trauten, mussten stets feststellen, dass es ganz anders kommt. Das begann in der ersten Partie, die der als Außenseiter angetretene Chinese mit den schwarzen Steinen für sich entschied, und es setzte sich so fort. Gewonnen hat der neue Weltmeister Gukesh nicht, weil er besser Schach spielen kann, sondern weil er nach drei Wochen im Druckkessel von Singapur ganz am Schluss der Stabilere war.
Dank eines Sieges in der letzten Partie gewann der 18-Jährige das Match mit 7,5:6,5. Zum Weltmeistertitel kommen 1,35 Millionen Dollar Preisgeld. Ding Liren gewann 1,15 Millionen. Erstmals hat die FIDE den 2,5-Millionen-Preisfonds (Gesamt-WM-Etat: etwa 5 Millionen) anhand der Gewinnpartien aufgeteilt: Jeder Spieler bekam für jeden Partiegewinn 200.000 Dollar, abzuziehen vom Gesamtpreisfonds, der in gleichen Teilen ausgezahlt wird.
Gukesh ist nach Viswanathan Anand der zweite Schachweltmeister aus Indien; der erste aus der neuen Generation von Wunderknaben, die dank der nationalen Ikone Anand zum Schach gefunden haben. Gukeshs Triumph in Singapur mag nur der Anfang sein. In den 2030er-Jahren könnten die Inder den Schachsport dominieren wie einst die Sowjets.
Wohlgemerkt: die Inder, nicht nur Gukesh. Zumal nach diesem sehr unklaren Match deutet nichts darauf hin, dass ein überragender Spieler die Post-Carlsen-Ara dominieren und über eine Dekade oder mehr den Titel halten wird. Wahrscheinlicher ist, dass in den kommenden Jahren ein halbes Dutzend oder mehr Spitzengroßmeister aus der Gukesh-Generation auf Augenhöhe um die Krone und den Nummer-eins-Spot ringt.
Voraussichtlich Ende 2026 wird der neue Weltmeister seinen Titel gegen den Sieger des Kandidatenturniers 2026 verteidigen. Der Verlierer des WM-Matches 2024, eine neue Regel, bekommt erstmals keinen Platz im nächsten Kandidatenturnier. Stattdessen erhält Ding Liren eine Punktegutschrift, die ihm in der Turnier-Jahreswertung 2025 der FIDE („FIDE Circuit“) einen Vorsprung gibt. Der Sieger des Circuits 2025 wird WM-Kandidat 2026.
Ob sich der Chinese auf diesen Qualifikationspfad begibt, ist ungewiss. Um die Turnierwertung der FIDE gewinnen zu können, muss er 2025 mindestens drei weitere klassische Turniere spielen. Doch wie sein Vorgänger Magnus Carlsen hat Ding Liren angekündigt, beim klassischen Schach künftig kürzer zu treten. Er wolle weiterspielen, aber vor allem Schnellschach und Blitz, sagt der Exweltmeister.
Trotz dieser Parallele zu seinem Vorgänger hat Ding Liren bei seinen WM-Kämpfen 2023 und 2024 einen Kontrapunkt zu Magnus Carlsens Einschätzung der Zukunft dieses Formats gesetzt. Carlsen ist klassisches Schach1 auf höchstem Level leid, weil er den ausufernden Aufwand für die Vorbereitung für nicht mehr zu rechtfertigen hält. Mit klassischer Bedenkzeit will er zwar gerne spielen, aber lieber Schach960, um den Theoriedschungel im Schach1 zu vermeiden.
Entgegen Carlsens Votum hat Ding Liren jetzt in zwei WM-Matches demonstriert, dass dieser Dschungel auch ohne monatelange Vorbereitung navigierbar ist. Abseits der klassischen Pfade, die ins Spanische, Russische, Sizilianische oder ins Damengambit führen, gelang es dem Chinesen, mit beiden Farben genug Gewinnchancen für eine Titelverteidigung herauszuspielen. In monatelanger Arbeit präparierte Eröffnungsbomben brauchte er dafür nicht.
Nicht einmal seinen Franzosen hatte Ding Liren ordentlich vorbereitet, wie Fabiano Caruana anmerkte. Nach den von Ding genannten drei Wochen Vorbereitungszeit gefragt, ließ die Nummer zwei der Welt durchblicken, dass er daran nicht glaubt. „Jedenfalls habe ich keine Ahnung, was Team Ding in diesen drei Wochen gemacht haben könnte“, sagte Caruana nach der 13. Partie in seinem Podcast. Nach seiner Einschätzung war Ding fast gar nicht vorbereitet, aber am Brett stark und glücklich genug, “um damit davonzukommen”.
Vor dem Match in Singapur stand die Prognose im Raum, ein seit 300 Tagen siegloser Weltmeister außer Form würde ein Desaster erleben. Was tatsächlich geschah, war weit davon entfernt. Ding kämpfte, gewann die erste Partie. Nachdem Gukesh in der dritten zurückgeschlagen hatte, beharkten sich die beiden in einer Phase mit sieben Unentschieden, die auf beiden Seiten gleichermaßen mit Großartigkeiten und Wacklern gespickt waren.
Als Gukesh die elfte Partie gewann und damit zum ersten Mal in Führung ging, sah es aus, als sei das Match gelaufen. Ding kam einmal mehr zurück, was mit dem Umstand zusammenhing, dass Gukesh sich in Partie zwölf aus der Eröffnung heraus in eine Stellung ohne Perspektive begab, die Ding gekonnt auseinanderschraubte.
Gukeshs Gegenentwurf mit einem großen Helferteam, darunter ein wochenlang in Spanien verstecktes Trio analysierender Großmeister, erwies sich nicht als signifikanter Vorteil gegen Dings Freistil-Schach. Auch in der letzten Partie des Matches, der ersten von 14, die Ding als leichter Favorit auf den Titel bestritt, geriet Gukesh aus der Eröffnung heraus in eine gedrückte Lage. Ein stabiler Gegner mit Selbstvertrauen hätte Dings Stellung vielleicht nicht gewonnen, aber sicher dankbar zu einer ausgiebigen Massage angesetzt.
Obwohl die Stellung mehr hergab, wollte Ding Liren zum wiederholten Male nicht mehr als den halben Punkt und den Tiebreak. Sogar um den Preis eines Bauern wickelte er in ein Endspiel ab, das ein Großmeister unter normalen Umständen nicht verlieren sollte. Dann entschied nicht die Eröffnung das Match, sondern die von Gukeshs Chefcoach Grzegorz Gajewski ausgegebene Strategie, den angeschlagenen Gegner in jeder Partie so lange wie möglich arbeiten zu lassen. Nach 54 Zügen Arbeit in der 14. Partie kollabierte Ding Liren, und Gukesh war Weltmeister.
Die erste Reaktion des neuen Weltmeisters war die eines Sportsmannes. Nachdem die Figuren wieder aufgebaut und die Freudentränen getrocknet waren, verwies Gukesh auf die gesundheitliche und spielerische Krise seines Gegners. „Wir alle wissen, wer Ding ist, wie viel er ertragen musste. Für mich bleibt er ein wahrer Weltmeister.“ Offensichtlich sei der Titelverteidiger nicht in Topform angetreten und habe doch in jeder Partie hart gekämpft.
Mysteriös fiel die Reaktion des Exweltmeisters aus. Magnus Carlsen bzw. dessen Social-Media-Team gratulierte Gukesh auf Twitter („hart erkämpft und verdient“) – und löschte die Gratulation wenig später. An prominenten Gratulanten mangelte es gleichwohl nicht, vom indischen Premier Narendra Modi bis zum reichsten Mann der Welt Elon Musk.
Scharf und ablehnend war die Reaktion von Andrey Filatov. Der Chef des russischen Schachverbands vermutet falsches Spiel von Ding Liren: „Sehr verdächtig.“ Filatov forderte die FIDE auf zu untersuchen, ob Ding Liren absichtlich verloren hat. Das ging sogar Filatovs Landsmann Arkady Dvorkovich zu weit. Der FIDE-Präsident teilte mit, es bestehe kein Zweifel an der Integrität der Kontrahenten.
Gukesh steht jetzt vor der Frage, ob er den nächsten von Gajewski ausgeheckten Plan umsetzt. Abgemacht war, dass die beiden einen Bungee-Jump absolvieren, sollte Gukesh das Match gewinnen.
Unklar ist, wann der 18. Schachweltmeister seinen ersten Schachwettkampf nach dem Titelgewinn bestreitet. Gemeldet ist er für die Rapid- und Blitz-WM Ende des Jahres in New York, hat aber angekündigt, dass er nach einem zehrenden Match, gefolgt vom indischen Weltmeistertrubel, wahrscheinlich zurückzieht. Diese Ankündigung hielt FIDE-Geschäftsführer Emil Sutovsky nicht davon ab, Elon Musk nach New York einzuladen und ihm eine freundschaftliche Partie mit Gukesh und Carlsen anzudienen.
Sicher antreten wird Gukesh ab dem 17. Januar beim Tata Steel Chess in Wijk an Zee, wo er hinter Caruana und seinem Landsmann Arjun Erigaisi als Nummer drei der Setzliste ins Rennen geht und auch auf seinen Sekundanten Vincent Keymer treffen wird.
Möglich ist, dass Gukesh schon eher, am Bundesligawochenende 11./12. Januar, in Hamburg seine ersten klassischen Partien als Weltmeister spielt. Als Gäste des FC St. Pauli treffen Gukeshs Düsseldorfer erst auf den SV Werder Bremen, tags darauf auf den FC St. Pauli, der schon angekündigt hat, mit Magnus Carlsen am ersten Brett aufzulaufen. Abhängig von der Düsseldorfer Aufstellung (Finanzier Wadim Rosenstein hielt sich dazu auf Anfrage dieser Seite bedeckt) könnte es im Hamburger Brahms-Kontor zu Begegnung Weltmeister vs. Exweltmeister kommen.
Der ungläubige Gukesh Spiel 14 läuft, es ist gleich Schluss Bei Läufer, Turm auf beiden Seiten – was nützt da Schwarz das Bauernplus? Wer wird da das Remis bestreiten? Weiß macht die Stellung keine Sorgen. Ding möchte lieber einfach schnell im Hinblick aufs Finale morgen nur ausgeruht ins Blitzduell. “Warum nicht gleich vereinfachen? Ich biete mal den Turmtausch an. Er nimmt ihn wohl. Was soll er machen. Das war’s bestimmt für heute dann.” Der Gegner Gukesh blickt aufs Brett, notiert den Zug, steigt leicht vom Stuhl, macht scheinbar Sitzprobleme wett, und bleibt… Weiterlesen »
Gratulation dem Gewinner!
[…] Weltmeister Gukesh hat unmittelbar nach seinem Titelgewinn seine Teilnahme am Freestyle im Februar 2025 zugesagt. Nakamura hat angekündigt, er werde 2025 so viele Freestyle-Turniere spielen, wie er kann, und, abhängig von seinem Erfolg beim Freestyle, „ein Minimum an FIDE-Turnieren“. Die 960-Fans Levon Aronian und Magnus Carlsen können ohnehin kaum erwarten, wieder 960 mit klassischer Bedenkzeit zu spielen. Beide haben das unlängst noch einmal betont. Vincent Keymer, immerhin, setzt für 2025 zwei Schwerpunkte, wie er New in Chess sagte: Freestyle und die Qualifikation fürs Kandidatenturnier 2026. […]
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