In einem Interview für die aktuelle Ausgabe des Spiegel beleuchtet Kenneth Rogoff, ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), die ökonomischen und geopolitischen Herausforderungen der Gegenwart. Rogoff spricht über die deutsche Wirtschaft, die zu erwartende Zollpolitik der Trump-Regierung, die globale Bedeutung von Inflation und Schulden oder die Rolle von Kryptowährungen wie Bitcoin im Finanzsystem.

In der Schachszene ist Rogoff (71) auch bzw. in erster Linie als Schachgroßmeister bekannt. Er lernte die Regeln im Alter von sechs Jahren von seinem Vater, widmete sich dem Spiel aber erst ernsthaft, als er zu seinem 13. Geburtstag ein Schachset bekam. Rogoff arbeitete hart und erreichte schnell Erfolge: Mit 14 Jahren war er bereits New York State Open Champion. Kurz darauf wurde er Senior Master, der seinerzeit höchste nationale US-Titel. Mit 16 wurde er US-Juniorenmeister (U21) und vertrat die USA bei den Weltmeisterschaften in Stockholm 1969.
Rogoff beschloss, fast die letzten zwei Jahre der High School auszulassen und nach Europa zu ziehen, wo es damals mehr Schachturniere gab. Er lebte allein, hauptsächlich im damaligen Jugoslawien (Zagreb und Sarajevo), und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Preisgeldern, Simultan- und Blindsimultanvorstellungen (mit bis zu 26 Gegnern). Mit 17 spielte er am ersten Brett für das US-Team, das die Mannschaftsweltmeisterschaft in Haifa, Israel, gewann.
Nach zwei Jahren des Schachprofi-Vagabundentums entschied er sich doch für ein Studium an der Yale University, die ihn trotz Lücken in seinem Highschool-Zeugnis aufnahm. Fortan spielte er nur noch in den Sommerferien Schach, verbesserte sich aber weiter. 1974 wurde er Internationaler Meister und 1978 Großmeister. Seine letzte Turnierpartie spielte er 1980. Die FIDE führt Rogoff heute mit 2505 Elo als inaktiv.
Gefragter Gesprächspartner und regelmäßiger Gast von Schachveranstaltungen ist Rogoff geblieben, auch wenn er nicht mehr spielt. 2011 etwa warnte er vor Cheating als einer “wachsenden Geißel” des Schachs – und wunderte sich sieben Jahre später, “warum das kein größeres Thema ist”.
Zwei Kuriositäten sind Teil von Rogoffs Schachkarriere. Seine 1969 in Stockholm gegen den Briten Arthur Williams gespielte Marathonpartie mit 221 Zügen gelangte 1971 in Guinness-Buch der Rekorde als längste je gespielte Partie. 1972 bei der Studentenweltmeisterschaft in Graz scheiterte in erster Linie Robert Hübner am Versuch, gegen Rogoff schnell remis zu machen. Auf Betreiben Hübners spielten die beiden eine Nonsens-Partie, die die Turnierleitung nicht akzeptierte. Zur Neuansetzung erschien Hübner nicht, und Rogoff bekam den Punkt.

Seit 1999 ist Rogoff Professor für „Public Policy“ in Harvard. Der Spiegel stellt ihn anlässlich des Interviews in der aktuellen Ausgabe als „einen der führenden amerikanischen Ökonomen“ vor. Rogoffs zentrale Aussagen zusammengefasst:
Die Krise der deutschen Wirtschaft
Rogoff sieht die deutsche Wirtschaft in einer schwierigen Phase. Marode Infrastruktur, hohe Energiepreise und der Druck auf die Autoindustrie belasten die Wettbewerbsfähigkeit. Hinzu kommen mögliche Strafzölle der USA, die die ohnehin angeschlagene Konjunktur weiter bremsen könnten.
Dennoch: „Deutschlands Wirtschaftsmotor ist eine unglaublich starke Maschine, die schon ganz andere Krisen gemeistert hat.“ Aber die Wirtschaft sei verkalkt. Rückbesinnung auf Strukturreformen, ähnlich den Hartz-Reformen, ist laut Rogoff erforderlich, um die Flexibilität und Dynamik der Wirtschaft zurückzugewinnen. „Ich glaube fest an ein starkes Comeback der deutschen Wirtschaft, aber bis dahin werden Jahre vergehen.“
Fiskalpolitik und Schuldenbremse
Rogoff plädiert für eine pragmatische Sicht auf Staatsverschuldung. Während die deutsche Schuldenbremse geholfen habe, die Verschuldung niedrig zu halten, kritisiert er deren Starrheit. Der nächsten, im Februar zu wählenden Bundesregierung rät er zu Investitionen, insbesondere in Infrastruktur und Verteidigung. „Schulden sollten genutzt werden, um langfristige Werte zu schaffen“, so Rogoff, warnt jedoch mit einem Blick auf den horrenden Schuldenberg der USA vor blindem Vertrauen in ewig niedrige Realzinsen. Schulden gebe es nicht umsonst. Rogoff erwartet, dass Donald Trump die Schulden der USA noch erhöht – und sieht „eine neue Welle der Inflation“ kommen.

Handelskriege und Trumps Zollpolitik
Die von Donald Trump angedrohten Zölle auf europäische Autos sowie andere protektionistische Maßnahmen sieht Rogoff kritisch. Zwar seien Zölle nicht so schädlich, wie oft behauptet, doch die damit einhergehenden Handelshemmnisse könnten erheblichen Schaden anrichten. Er rät Europa zu Besonnenheit und mahnt, auf Gegenzölle zu verzichten. Zugleich warnt Rogoff vor den Folgen von Trumps unvorhersehbarer Verhandlungstaktik, die potenziell eskalative Risiken berge. „Europas Anführer sollten einen kühlen Kopf bewahren.“
Bitcoin und Kryptowährungen
Rogoff äußert sich kritisch zu Bitcoin und Trumps Idee einer strategischen Bitcoin-Reserve („ganz sicher nicht gut“). Er befürchtet, dass die Förderung von Bitcoin die Rolle des US-Dollars als Weltwährung schwächen würde. Bitcoin sieht er vor allem als Instrument für Transaktionen in der Schattenwirtschaft und bei illegalen Geschäften. Daher plädiert er für eine stärkere Regulierung von Bitcoin und Bitcoin-Börsen, die seiner Meinung nach wie Banken behandelt werden sollten.
Rogoff warnt vor den Risiken der zunehmenden Verflechtung von Kryptowährungen mit dem traditionellen Finanzsystem. Er sieht darin ein systemisches Risiko für das amerikanische Finanzsystem und die US-Wirtschaft. Trump könne die negativen Folgen dieser Entwicklung noch während seiner Amtszeit erleben.
Die Nominierung des Kryptoenthusiasten Paul Atkins zum Chef der Börsenaufsicht SEC sieht Rogoff nicht als Zeichen einer dauerhaften Pro-Krypto-Haltung Trumps. Er erwartet, dass Trump („ein Pragmatiker“) seine Meinung spätestens nach einem Krypto-Crash ändern werde.

NATO, USA und Putin-Russland
In der anhaltenden, mit dem Überfall auf die Ukraine eskalierten Aggression Putin-Russlands sieht Rogoff eine langfristige Herausforderung für die westliche Sicherheitsarchitektur. Dass die USA unter Trump tatsächlich die NATO verlassen, hält Rogoff für „unvorstellbar“. Gleichwohl müsse Europa stärker in seine Verteidigung investieren, da die USA nicht überall präsent sein können. „Trump spricht bloß aus, was jeder weiß: Die USA können nicht Europa, den Nahen Osten und Taiwan auf einmal verteidigen.“
Rogoff plädiert dafür, dass europäische Staaten ihren Verteidigungsetat auf mindestens drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Dies sei notwendig, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden und die Glaubwürdigkeit der NATO zu sichern. Gleichzeitig warnt er vor einem Wettrüsten und spricht sich für diplomatische Initiativen aus, die langfristig Frieden und Stabilität fördern könnten.
Der Sturz von Syriens Diktator Baschar al-Assad sei eine „massive Niederlage“ für den Kreml gewesen. Nun diagnostiziert Rogoff „den Zusammenbruch des russischen Imperiums an seinen Randgebieten“. Gleichwohl hält er ein Einfrieren des Kriegs in der Ukraine für angemessen, um der Ukraine den „furchtbaren Abnutzungskrieg“ zu ersparen, den sie nicht gewinnen kann, aber führen müsse, solange Putin herrscht. Ein Einfrieren würde „Zeit kaufen, damit Vladimir Putin verschwinden kann“.
Dass trotz aller Kriege und Krisen speziell die US-Aktienmärkte beflügelt wirken, kann Rogoff nachvollziehen. Anleger hätten Anlass, auf Unternehmensgewinne zu spekulieren, eine Folge des Siegeszugs der Künstlichen Intelligenz. KI „kann viele Tätigkeiten übernehmen, sodass man weniger Beschäftigte braucht. Statt all diese Einsparungen an Kunden weiterzugeben, werden Unternehmen auch Gewinne einstreichen.“
Politische Polarisierung und Identitätspolitik
Rogoff analysiert auch die gesellschaftspolitische Dimension der aktuellen US-Politik. Er kritisiert die Demokraten für ihre inkonsistente Einwanderungspolitik (“verrückt”) und einen übertriebenen Fokus auf Identitätspolitik. Diese habe, so Rogoff, viele Wähler verprellt und letztlich den Wahlsieg Trumps ermöglicht. „Wahrscheinlich hielt mehr als die Hälfte der Amerikaner Trump als Kandidaten für ungeeignet, und doch schafften die Demokraten das Kunststück, die Wahl zu verlieren. Das ist sehr traurig.“

DANKE, solche Berichte habe ich vermisst!
Und man sieht: Auch schachliches Können schützt vor dummen Äußerungen nicht. Danke für die Abbildung hier.
Wieder mal ein schöner Hintergrundbericht, mit vielen Infos, die ich so nicht auf dem Schirm hatte (den Spiegel-Artikel hatte ich gelesen, ohne Rogoff mit Schach in Verbindung zu bringen) Danke! Hatte zwar selbst auch wenig Zeit in den vergangenen Monaten, Deine erzwungene “Pause” hat mir aber nicht gefallen ;-).