Mögen die Spiele beginnen

Vor Anand! Nach seinem Triumph beim No-Castling-Turnier in Dortmund ist Dmitrij Kollars derjenige Nationalspieler, der jetzt am ehesten mit Rückenwind zur Schacholympiade nach Chennai gereist ist. Alle anderen müssen darauf hoffen, dass ihrer, naja, durchwachsenen Generalprobe eine umso bessere Schacholympiade folgt.

Dmitrij Kollars nach seinem Turniersieg.

2016 in Gibraltar hat Dmitrij Kollars schon einmal gegen Viswanthan Anand gespielt. “Damals hatte ich keine Chance”, berichtete Kollars im Gespräch mit Schachtage-Sprecher Patrick Zelbel. Nun in Dortmund sollte er sogar allein mit dem Exweltmeister auf der Bühne sitzen. “Ich war genauso nervös wie damals, aber auf dem Brett lief es besser.”

Durch den Covid-bedingten Ausfall Vladimir Kramniks war Kollars unerwartet und unvorbereitet ins Feld gerutscht – und beendete den Wettbewerb als strahlender Sieger, punktgleich mit dem indischen Exweltmeister, aber nach Wertung vor ihm. Der wahrscheinlich größte Erfolg seiner Karriere.

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Ein solcher blieb ein paar Tische weiter seinen Nationalmannschaftskollegen Matthias Blübaum und Rasmus Svane im “Deutschland Grand Prix” verwehrt. Beiden gelang im Wettbewerb mit internationalen Spitzengroßmeistern kein Partiegewinn, beide schlugen unter 50 Prozent (und unter Elo-Erwartung) auf, und beide werden mit diesem Resultat nicht zufrieden sein.

Vincent Keymer spielte derweil in Biel. Zwei Jahre lang hatte er den Eindruck erweckt, als agiere er trotz seiner Jugend frei von Leistungsschwankungen, als gehe es einfach nur konstant immer weiter nach oben. Das stark besetzte Turnier in Biel wollte er nach eigener Aussage in erster Linie solide angehen: “Die Chancen kommen, und wenn sie da sind, muss ich sie nutzen”, sagte Keymer nach seinen drei wenig ereignisreichen Remis zum Auftakt.

Je mehr es sich zuspitzt, desto höher der Preis für einen Zug: Biel, Runde 4, Quang Liem Le vs. Vincent Keymer.

In der vierten Runde gegen Quang Liem Le, Nummer 23 der Welt, sah es 50 Züge lang aus, als solle dieses Konzept aufgehen. Keymer hatte mit Schwarz ohne Schwierigkeiten ausgeglichen und dann nach und nach einen kleinen Endspielvorteil herausgearbeitet. Allerdings wollte es nicht gelingen, diesen zu vergrößern, im Gegenteil. Keymer fand kein Durchkommen, und der Vietnamese fightete zurück.

Dann, Zug 63, in zugespitzter Lage die Grausamkeit des Schachs: Keymer unterlief der beiderseits einzige Fehler der Partie, und der führte schnurstracks zur ersten Null nach etwa zwei Monaten. Damit war klar: Biel würde ein Härtetest sein, nicht nur schachlich, auch psychisch.

Wenn der volle Punkt erzwungen werden soll: Biel, Runde 5, Vincent Keymer vs. Gukesh.

Die Reaktion auf diese bittere Null sollte am nächsten Tag Gukesh zu spüren bekommen: kein Warten auf Chancen, ein Punkt sollte her, mit Macht. Und das ließ sich gut an. Keymer erwischte den 16-jährigen 2700er mit einem neuen Konzept in der Eröffnung. Nach elf Zügen schon hatte er sich Vorteil in Form prächtiger Angriffsaussichten herausgespielt. Aber danach geriet er ins Driften: Zwei Mal hätte Keymer energisch auf Vorteil pochen können und sollen, anstatt dem Schwarzen Zeit zum Konsolidieren zu geben.

Angebrannt war deswegen noch nichts, aber eben auch kein Vorteil mehr spürbar. Doch Keymer wollte eben diesen mit einem gekünstelten Damenmanöver erzwingen – was aber nur die schwarze Stellung komfortabel machte. Und dann wieder: ein einziger taktischer Fehler, und schon stand die zweite Null in der Turniertabelle, und das wieder nach einer Partie, die sehr gut begonnen hatte. Diesmal war es allerdings ein Fehler mit Ansage gewesen, er hatte sich nach dem Driften zuvor angekündigt.

Zwei Nullen in Folge – ein Fall für die Historiker. Wann mag ihm das zuletzt passiert sein? Und ein spannender Fall für die Beobachter. Wie würde Vincent damit umgehen? Zeigt er Wirkung?

Und noch eine verpasste Chance: Biel, Runde 6, Vincent Keymer vs. Salem Saleh.

Gegen Salem Saleh in Runde sechs setzte es zwar nicht die dritte Null, aber eine weitere Enttäuschung: “Verpasste Chance” titelte Georgios Souleidis, nachdem ein voller Punkt greifbar gewesen war – und nach langem Kampf doch nur ein halber heraussprang.

Diese dritte Enttäuschung in Folge mag dann doch Wirkung gezeigt haben. Zum Abschluss des Turniers brach Keymer in einem sizilianischen Lavieren gegen Arkadij Naiditsch taktisch ein – und zierte schließlich das Ende der Tabelle, wahrscheinlich ein Novum in der Karriere der deutschen Nummer eins.

Das gilt es jetzt abzuhaken. Schacholympiade!

Mittlerweile sind die deutschen Mannschaften nach fast 24-stündiger Anreise über Dubai…

…in Indien angekommen. Vor Beginn der ersten Runde am kommenden Freitag sollen sich Spielerinnen und Spieler akklimatisieren. Die Damen haben sich schon mit den lokal üblichen Kopfbedeckungen vertraut gemacht, nachdem jedes Mitglied der Delegation nach Ankunft eine solche vom Hotelpersonal bekommen hatte.

Die Hutprobe: “Noch haben wir die richtige Sitzposition nicht vollständig raus, aber wir üben fleißig”, sagt Sportdirektor Kevin Högy. Hanna Marie Klek, Dinara Wagner und Jana Schneider (v.l.) nach der Ankunft. | Foto: Deutscher Schachbund

Während die einen sich mit der Umgebung vertraut machten, nahmen sich andere Mitglieder der Delegation erstmal eine Auszeit.

https://twitter.com/Meyer_Dunker/status/1551995206748123137

Der Tenor bisher: überwältigende Gastfreundschaft, fantastisches Hotel, schmucker Spielsaal, engagierte Organisation.

Mögen die Spiele beginnen.

Erste Eindrücke aus Indien und ein Vorbericht des Schachbunds

(Titelfoto: Michelle Lassak/Dortmunder Schachtage)

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