Tata Steel Chess – der Ticker zum Superturnier: bitterer Dienstag für Keymer und Donchenko (Runde 5-9)

Tata Steel Chess, die Langstrecke zu Beginn eines jeden Schachjahres: Auch bei der 85. Auflage des Traditionsturniers im Küstenort Wijk an Zee ab dem 14. Januar 2023 spielt ein erlesenes Feld von 14 Teilnehmern 13 Runden. Mittendrin: Vincent Keymer, der im Wettbewerb mit den Besten der Welt eine Standortbestimmung zu absolvieren hat. Im parallelen, ebenfalls veritabel besetzten “Challengers”, dem B-Turnier, ist mit Alexander Donchenko ebenfalls ein deutscher Kaderspieler mit von der Partie. Rundenbeginn täglich 14 Uhr.

“Giri schlägt Ding und rückt Abdusattorov auf die Pelle”:
Bericht zur neunten Runde

Die Flügelzange: Vincent Keymers Neuntrundenschlacht gegen Nodirbek Abdusattorov
Paarungen der 9. Runde via Tata Steel Chess.
Tabellen nach der 9. Runde via Tata Steel Chess

|| Runde 9, 23. Januar

Brutal

■ Ist das bitter. Vincent Keymer schnupperte am Sieg gegen den Tabellenführer, und dann entglitt er ihm am Ende einer siebenstündigen Schlacht doch. Bei Alexander Donchenko sollte nichts anbrennen, und dann stand am Ende doch eine Null. Insgesamt ein halber Punkt, wo 1,5 verdient gewesen wären.

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9. Kd2!?

■ An dieser Stelle 9.Kd2 zu spielen, darauf muss man erstmal kommen. Ein Blick in die Datenbank anhand der heutigen Partie zwischen Alexander Donchenko und Erwin l’Ami offenbart, dass der Zug (Plan: 10.Ld3, ob Schwarz nun die Damen tauscht oder nicht) nicht auf Donchenkos Mist gewachsen ist. Stattdessen war es der finnische Großmeister und zweifache Landesmeister Jouni Yrjölä, der bei der Schacholympiade 1988 im Match gegen Albanien als Erster den König nach d2 bugsierte. Danach verschwand der Zug in der Versenkung – bis ihn 2020 Maxime Vachier-Lagrave in einer Partie gegen Viswanathan Anand erneut probierte, Druck bekam, sich am Ende aber doch in ein Remis fügen musste.

Donchenko zieht Kd2, Adhiban findet es amüsant. | Foto: Jurriaan Hoefsmit/Tata Steel Chess

Erigaisi weiß nichts

■ Nach und nach offenbart sich, wer den Akteuren im A-Turnier zur Seite steht. Erjun Erigaisi etwa wird von seinem Landsmann Srinath Narayanan betreut, der seinen Schützling jetzt mit einem freundlichen “Er weiß nichts!” bewertete. Allerdings ging es weniger um Schach, vielmehr dokumentierte Narayanan seine Popkultur-Kenntnisse, nachdem ChessBase India eine Parallele zwischen Erigaisi und Game-of-Thrones-Held John Snow aufgefallen war. Seitdem Wildling Ygritte John Snow ein “You know nothing” mit auf den Weg durch den Winter gegeben hat, ist dieses Zitat zum Meme geworden – offenbar auch in indischen Schachkreisen.

Statt mit einem Coach ist Vincent Keymer mit seiner Mutter Heike Keymer nach Wijk gereist. Präsent ist der Coach trotzdem – online. Im Interview nach den Partien offenbarte Keymer jetzt, dass er sich mit Peter Leko auf seine Partien vorbereitet. Keymer Mannschaftskamerad Rustam Kasimdzhanov von der OSG Baden-Baden arbeitet derweil nicht aus der Ferne, sondern vor Ort für Keymers heutigen Gegner. Dass er seinem Landsmann Nodirbek Abdusattorov den Sprung in die Weltklasse zutraut, hat Kasimdzhanov schon unlängst im Gespräch mit dieser Seite deutlich gemacht:

Deutschtümelei?

■ Einfach die ersten beiden und die letzten beiden Absätze weglassen, andere Überschrift darüber, dann wäre es ein kenntnisreicher, gar nicht doofer Beitrag über Schach. Aber es sollte ja unbedingt dieser Dreh zur überbordenden, ja, hässlichen “nationalen Begeisterung” konstruiert und der Artikel daran aufgehangen werden. Und so wurde es halt doch ein dämlicher Beitrag über Deutschtümelei um Vincent Keymer und dessen jüngste Erfolge. Die letzten beiden Absätze gehen so: “…im Zentralorgan gutmeinender Bürgerlichkeit, der Zeit, eröffnete Ulrich Stock seinen Bericht mit dem Satz: „Das deutsche Schach ist nach Jahrzehnten des Dämmerns und Dümpelns auf die Weltbühne zurückgekehrt.“ Was für ein Quatsch: Dem deutschen Schach ging es nie schlecht. Es waren nur eine Weile lang nie sehr viele Deutsche unter den Ersten. Den Deutschen als Deutschen fällt schlicht nicht auf, dass etwas schön ist, wenn es nicht schwarz-rot-gold angesprüht wird. Tragischerweise wird es dann auf der Stelle hässlich, weil das schlicht die hässlichste Farbkombination der Welt ist.”

|| Runde 8, 22. Januar

Achte Runde, Giri versus Keymer: Schachschüler lernen die Faustregel, dass wir als Weißer im Italienischen Lg5 erst spielen, nachdem Schwarz kurz rochiert hat. Anish Giri ist diesem Prinzip entwachsen, er pfeift drauf.

Außer Form

■ Warum Vincent Keymer bislang (etwas) unter Erwartung abschneidet, lässt sich spätestens mit der Siebtrundenpartie gegen Ding Liren einfach erklären. Keymer ist nicht in Form. Die Reihe an Verrechnern und Übersehen fand gegen die Nummer zwei der Welt eine Fortsetzung, dazu noch ein Fehler aus der beliebten Schachabteilung “zweiter Zug vor dem ersten ausgeführt”. Vielleicht trägt diese Kombination – außer Form gegen die Besten der Welt – ja umso mehr zum von Keymer erhofften Lerneffekt bei. Egal, wie am Ende das Resultat aussieht, aus diesem Wettbewerb wird Vincent Keymer gestählt hervorgehen.

|| Runde 7, 21. Januar

Wie Ding Liren gegen die Vincent-Keymer-Eröffnung schon nach zwölf Zügen ziemlich trostlos dastand – und sich am Ende doch ins Remis rettete.

Abdusattorov nicht zu stoppen

Vincent Keymer war nicht weit entfernt von seinem ersten vollen Punkt – und das gegen den Weltranglistenzweiten Ding Liren. Sein Rezept: einfach die Vincent-Keymer-Eröffnung spielen, dann läuft’s, auch wenn sich Ding mit all der Routine eines 2800ers ins Remis rettete. Allemal zeigt der Trend für den deutschen Debütanten jetzt wieder nach oben. Auch bei Magnus Carlsen. Nach seinem Sieg über Richard Rapport steht der Weltmeister, immerhin, bei 50 Prozent. Ganz oben setzt sich Nodirbek Abdusattorov jetzt ab. Dem Usbeken gelang ein Sieg gegen den bis dahin unbezwungenen Arjun Erigaisi. Er steht jetzt mit fantastischen 5,5/7 einen Zähler vor den Verfolgern.

Sieg im Spitzenduell

Filigranes Schachhandwerk: Wie Alexander Donchenko den türkischen Großmeister Mustafa Yilmaz auseinanderschraubte und die Tabellenführung übernahm.

Alexander Donchenko führt jetzt alleine das “Challengers” an. Im Duell der punktgleich Führenden überspielte er Mustafa Yilmaz und steht jetzt bei 5,5/7. Dass das noch lange keine Vorentscheidung ist, hat Donchenko gestern schon erklärt, als er angesichts der Länge des Turniers sagte, der Stand sei sei vergleichbar mit einem 3/3-Start bei einem neunrundigen Open. “Wenn ich bis zum Ende um den Turniersieg mitspiele, das wäre gut”, so Donchenko.

|| Runde 6, 20. Januar

Alexander Donchenkos Sechstrundensieg über Eline Roebers.

Donchenko!

Alexander Donchenko. | Foto: Jurriaan Hoefsmit/Tata Steel Chess

■ Leider noch eine Null für Vincent Keymer, diesmal mit Schwarz gegen Wesley So nach einem Fehler im Endspiel. Keymer steht jetzt bei 1,5/6, nicht die ideale Position, um es am Samstag mit der Nummer zwei der Welt Ding Liren zu tun zu bekommen. Erinnerungen an Alexander Donchenkos Masters vor zwei Jahren werden wach, nicht allerdings bei Donchenko selbst. Der landete heute gegen Eline Roebers seinen dritten Schwarzsieg und schloss zu Talbellenführer Mustafa Yilmaz auf. Beide führen jetzt das Feld mit 4,5 Punkten aus 6 Partien an. Morgen in der siebten Runde treffen die beiden Spitzenreiter aufeinander, Donchenko hat Weiß.

Kein Dorf in Argentinien

Ding Liren war nicht vorab informiert. Er saß in Amsterdam am Brett, als die FIDE die Nachricht vom WM-Match in Astana gegen Ian Nepomniachtchi verbreitete. Nach der Partie befragt, ob er es schon wisse, verneinte der Chinese. Er wusste lediglich, dass die kasachische Hauptstadt Astana und “irgendein Dorf in Argentinien” im Rennen um die Ausrichtung seines WM-Matches gegen Ian Nepomniachtchi waren.

Wie Schauspieler

■ Ob das Absicht war? Der im Stadion von Ajax Amsterdam hergerichtete Spielsaal erinnerte stark an den Turniersaal, in dem Beth Harmon zum Abschluss der Serie “Queen’s Gambit” ihr Meisterstück ablieferte. Einem der Spieler fiel es auf: Parham Maghsoodloo mutmaßte nach der Runde, hier habe wohl die TV-Serie Pate gestanden. Ding Liren fühlte sich eher wie in einem Theater auf der Bühne: “Und wir waren die Schauspieler.”

|| Runde 5, 19. Januar

Aronians Trickkiste

Tabellenführer Nodirbek Abdusattorov. | Foto: Jurriaan Hoefsmit/Tata Steel Chess

Giri-Sekundant Gustafsson

■ Bestimmt war Anish Giris Sieg über Magnus Carlsen auch das Ergebnis exzellenter Eröffnungsvorbereitung. Und für die war niemand Geringeres zuständig als der Teamchef der deutschen Nationalmannschaft. Jan Gustafsson hat jetzt in der neuesten Ausgabe des “Chicken Chess”-Podcasts offenbart, dass er als Sekundant von Anish Giri in Wijk an Zee weilt.

Wann geruht wird und wann nicht

Eline Roebers. | Foto: Jurriaan Hoefsmit/Tata Steel Chess

■ Die Ansetzung der Runden ist anno 2023 nicht ganz leicht zu durchschauen, das gilt auch für Schachgroßmeister. Während im Challengers gestern der fünfte Spieltag angesetzt war, absolvierten die Teilnehmer des Masters ihren Ruhetag. Heute ist es andersherum: Das Masters besucht das Stadion von Ajax Amsterdam, während das Challengers Pause hat. Dem Setzlistenersten des Challengers hat sich diese Regelung zu spät erschlossen. Amin Tabatabaei dachte, er habe spielfrei. Zwar schaffte er es mit knapp 15-minütiger Verspätung ans Brett, handelte sich aber eine Niederlage ein – und das in einer Partie, die sich als zentrale des Turniers erweisen könnte. Der Iraner unterlag dem Türken Mustafa Yilmaz, der sich jetzt allein an die Spitze im Challengers gesetzt hat. Alexander Donchenko kam mit Weiß nicht über ein farbloses Remis gegen Luis Paulo Supi hinaus. Die Partie des Tages spielte einmal mehr Eline Roebers, die ihre Gewinnstellung gegen Thomas Beerdsen nicht in einen vollen Punkt verwandeln konnte. Publikumsliebling Roebers geriet erst ins Straucheln, dann verlor sie durch Zeitüberschreitung.

Handelfmeter!

■ Der Arm habe sich in einer natürlichen Haltung befunden, insistierte Peter Heine Nielsen. Aber der Schiedsrichter sah das anders und zeigte auf den Punkt – Handspiel, Elfmeter! Ding Liren verwandelte für sein Team beim traditionellen Fußballmatch während des Ruhetags. 3:3 trennte sich Team Ding Liren von Team Magnus Carlsen, der für seine Elf alle drei Treffer beisteuerte.

Bild
Peter Heine Nielsen, Teil von Team Magnus, ist zwar etwa doppelt so groß wie Ding Liren, tat sich aber trotzdem schwer, den chinesischen Angriffswirbel regelgerecht abzuwehren. | Foto via Peter Heine Nielsen/Twitter

Was bisher geschah

Im Video: Stand der Dinge beim Masters nach einem historischen Tag und Alexander Donchenkos Viertrundensieg über Jergus Pechac.
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CAPTN HIRNI
CAPTN HIRNI
1 Jahr zuvor

Und so wurde es halt doch ein dämlicher Beitrag über Deutschtümelei um Vincent Keymer 

Naja, was sonst sollte man von einer Postille wie der “taz” erwarten? Dort zählt nur das Narrativ, und die Themen (in diesem Falle das Schach) dienen bloß als Gefäß für das Eigentliche: das Framing. So etwas, bzw. solche Blätter, sollte man wirklich nicht ernst nehmen und einfach links liegen lassen.

Last edited 1 Jahr zuvor by CAPTN HIRNI
Matthias
Matthias
1 Jahr zuvor

Warum ist Vincent den irgendjemandem eine Standortbestimmung schuldig? Das wird mir nicht ganz klar. Er hat unter den jungen Stars als Deutscher die schlechtesten Voraussetzungen, weil er sich nicht ausschließlich um Schach kümmern konnte. Kann er jetzt im Grunde genommen auch nicht, weil – wie Vincent mal so schön sagte: “Es in Deutschland nicht vorgesehen ist, dass man vom Schach leben kann”. Grad hat er noch sein Abi gemacht. Abdusattarov, Prag & Co. sind in Ihren Ländern absolute Stars mit festem Gehalt und Privilegien. Die kümmern sich seit vielen Jahren ausschließlich um ihre Schachkariere. Ich finde es klasse, dass Vincent… Weiterlesen »

Last edited 1 Jahr zuvor by Matthias
LKLKLK
LKLKLK
1 Jahr zuvor

Nette Partie zwischen Magnus Carlsen und Richard Rapport, natürlich a bisserl “bottish”.

Vgl. vielleicht auch mit diesem “Lemma” der bekannten Online-Enzyklop#die :

-> https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Bottish

MFG
LK

LKLKLK
LKLKLK
1 Jahr zuvor

Das Problem ist hier, dass sich der Weißspieler : ‘An dieser Stelle 9.Kd2 zu spielen, darauf muss man erstmal kommen.’ … mit seinem Db3 in eine Abhängigkeit begeben hat, denn das Schlagen der schwarzen Dame würde eine Verbesserung der schwarzen Bauernstruktur besorgen, die vermutlich für den Schwarzspieler mindestens zum Ausgleich genügend ist. Und das Beharren auf der Opposition DB3->DB6 für den Weißspieler nicht sinnhaft erscheint. Insofern ist zeitiges Df3, um den Läufer auf F5 zu befragen, um idF den Doppelbauern F6-F7 zu besorgen sozusagen Standard. 9.Kd2 folgt der Tendenz die Türme zu verbinden, im Schach ein wichtiges Entwicklungsziel und die… Weiterlesen »

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