Heute müssen wir über die Troizki-Linie reden. Und über die Caro-Kann-Verteidigung. Aber vorher sei der Stenografenpflicht Genüge getan. Europameisterschaft der Mannschaften, sechste Runde: 2:2 trennen sich die deutschen Frauen von Ungarn, die Herren entfachen einen Kombinationswirbel, in dem die zweite Vertretung Sloweniens mit 0:4 untergeht.
Beide deutschen Mannschaften stehen nun bei 7:5 Punkten, und es offenbart sich, dass der unlängst auf dieser Seite erschienene Beitrag “osteuropäische Wegweiser” verfrüht war.
Erst heute werden sich auf der anderen Seite der Bretter acht osteuropäische Wegweiser:innen in Gestalt der polnischen Nationalmannschaften materialisieren. Wollen die deutschen Frauen und Herren noch Höhenluft schnuppern, müssen sie heute Polen schlagen. Nicht leicht wird das für beide, besonders schwierig für die Herren. Gegen Niemcy fahren die Polen ihre beiden Weltklassegeschütze auf: Hamburgs WM-Kandidat Jan-Krzsystof Duda und Radoslaw Wojtaszek besetzen die Spitzenbretter. Um 15 Uhr geht’s los.
Liveübertragung
Die Troizki-Linie ist benannt nach Alexei Alexejewitsch Troizki (1866-1942), ein russischer Schachkomponist, -theoretiker und -autor, der sich unter anderem der Frage gewidmet hat, unter welchen Umständen zwei Springer einen blanken König mattsetzen können. Troizkis Linie (die eher ein Haken ist) veranschaulicht diese Umstände. Hat der Gegenspieler noch einen Bauern und hat dieser Bauer die Troizki-Linie nicht überschritten, dann können die Springer mattsetzen (außer die 50-Züge-Regel funkt dazwischen).
Das Prinzip sei anhand dieses Diagramms veranschaulicht:
Beim Kampf zweier Springer gegen König plus Bauern blockiert ein Springer den Bauern, während der andere zusammen mit dem König den gegnerischen König an den Rand und in die Ecke treibt. Am Ende kommt der Blockadespringer zu Hilfe, lässt den Bauern laufen, aber setzt den gegnerischen König matt – wenn, ja wenn der blockierte Bauer eben nicht jenseits der Troizki-Linie stand. Ansonsten ist der Bauer zu schnell unterverwandelt.
Die Stellung oben im Diagramm war beim Stand von 1,5:15 gegen Ungarn nach 61 Zügen auf dem Brett von Hanna Marie Klek entstanden. Ob sie ihren Troizki kannte oder nicht, das ist nicht überliefert, und es ist ja auch egal: Natürlich versucht Weiß zu gewinnen, ob die Stellung nun theoretisch remis ist oder nicht.
Was dann passierte, zeigen wir ab dem Moment, an dem Klek die zuschauende Tablebase in Entzücken versetzte: Beginnend mit Zug 101 stellte Klek einen perfekten Zug nach dem anderen aufs Brett. Die 26-Jährige steuerte geradewegs einem Matt in 12 Zügen entgegen…
…und durfte ihr Spiel doch nicht krönen: Einen Zug vor dem Matt reklamierte die Ungarin ein Remis nach 50-Züge-Regel, zu Recht, wie der Schiedsrichter bestätigte.
Am Frühstückstisch der Nationalmannschaften Mäuschen zu spielen, wäre generell eine aufschlussreiche Angelegenheit. Nach der sechsten Runde offenbarten Matthias Blübaum und Elisabeth Pähtz, dass eine solche Mäuschenrolle für Caro-Kann-Spieler umso aufschlussreicher wäre. Blübaum etwa erklärte beim Frühstück im Zwiegespräch mit Rasmus Svane, dass gegen die “Fantasy”-Variante 3.f3 abseits der beiden bekannten Schemen dem Schwarzen gleich eine Reihe vielversprechender Aufstellungen zur Verfügung stünden.
Wenig später sah sich Svane mit eben dieser Variante konfrontiert. Und was er dagegen tat, ob nun von Blübaum ausgekocht oder von ihm selbst, da sah tatsächlich vielversprechend aus:
Elisabeth Pähtz wiederum sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, gegen Caro-Kann zu spielen. Beim Frühstück kann das nicht zur Debatte gestanden haben, denn die Wahl ihrer Gegnerin traf sie überraschend:
Das war aber gar nicht schlimm, sondern eine Gelegenheit zurückzuüberraschen: mit Alireza Firouzjas Geheimwaffe 7.Ld3 nämlich, die zu gutem Spiel für Weiß führt, wenn Schwarz dagegen schematisch fortsetzt. Und so geschah es:
Bericht zum Verlauf der sechsten Runde beim Schachbund
(Titelfoto: Deutscher Schachbund)
Die Frage ist halt, wie viel Zeit man denn bekommen soll, um mit Läufer und Springer matt zu setzen, wenn man es nicht beherrscht. Oder wie lange man Turm und Läufer gegen Turm kneten kann.
Beides gängiger als dieses Endspiel, in dem Klek durchaus ihre Chance hatte/bekam: Vom 61. bis zum 86. Zug war es laut Tablebase remis. Dann war es bis zum 94. Zug gewonnen – auch wenn Weiß nicht den schnellsten Weg fand. Dann war es wieder Remis, und ab dem 100. Zug erneut gewonnen.
Diese stumpfsinnig strikte Auslegung der 50-Züge-Regel gehört zum Absurdesten, das das Schach je hervorgebracht hat.
Der Sinn dieser Regelung ist es doch, Spieler daran zu hindern, eine Partie, in der sie offensichtlich keine Fortschritte erzielen können, endlos in die Länge zu ziehen. Aber von fehlendem Fortschritt kann hier nun beim besten Willen keine Rede sein.
Bei sowas scheitert doch der gesunde Menschenverstand an blinder Regelhörigkeit. Wenn ein Schiedrichter in einer solchen Situation nicht sagen kann, “So ein Blödsinn, den einen Zug spielst du noch!”, wozu gibt es ihn dann überhaupt?