Schach als Business und Bühnenshow: Stefan Kastenmüller über die Europatour von GothamChess

Was haben Wrestling und die Sesamstraße gemeinsam? In den Augen von Stefan Kastenmüller eine ganze Menge – nämlich ein klares Geschäftsmodell. Überall geht es um Inhalte, Zielgruppen und die Frage, wie man Shows in ein funktionierendes Ökosystem einbettet. Genau damit kennt sich Kastenmüller aus: Er war unter anderem bei MTV, Disney und World Wrestling Entertainment – jetzt bringt er Schach auf Tour.

Unter anderem Ernie aus der Sesamstraße hat er schon die Bühne bereitet. Jetzt versucht sich Stefan Kastenmüller an Schach. | Foto: privat

Vom 8. bis 17. Mai organisiert seine neue Agentur Apollo Masters die erste Europa-Tour von Levy Rozman alias GothamChess. Die Stationen: Brüssel, London, Wien, Berlin, München und Warschau. Die Gäste: Anna Cramling, Judit Polgar, Danny Rensch, die Svane-Brüder und viele mehr. Die Idee: Live-Schach mit Show-Elementen – nah dran an den Sehgewohnheiten eines Publikums, das eigentlich von Clip zu Clip scrollt, anstatt sich auf die visuelle Langstrecke oder gar vor eine Theaterbühne zu begeben.

Im Gespräch erklärt Kastenmüller, was ihn an Rozman fasziniert, warum Schach perfekt zur digitalen Zeit passt – und warum man einen Supergroßmeister vielleicht bald auf Tour schicken sollte.

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Herr Kastenmüller, bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch fand ich Sie schwer zu greifen: MTV, Disney, Sesamstraße. Wrestling, Golf, dänischer Fußball. Nun Schach. Was verbindet all diese Felder, auf denen Sie tätig waren und sind? 

Wirtschaftliches Management rund um Entertainment und Sport – das ist die Klammer. Ein anderer roter Faden, der sich durch meinen Werdegang zieht, ist die Internationalität. Die spielte bei allen Stationen eine Rolle, ob bei MTV in London, wo ich Marketingleiter für MTV Europe war, oder später bei Disney und dann über viele Jahre bei World Wrestling Entertainment. Man könnte ja denken, dass Wrestling und die Sesamstraße nicht viel gemeinsam haben, aber sie folgen dem gleichen Geschäftsmodell: Man produziert eine Show – und baut darum ein Ökosystem auf. Merchandising, internationale Vermarktung, Medienpartnerschaften.

Diese Ökosysteme dürften heute ganz anders aussehen als vor 20, 30 Jahren.

Allerdings. Wenn Sie so wollen, ist die digitale Transformation ein weiteres Element, das mich durch alle Tätigkeiten begleitet hat. Seit Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre verändert sie alle Geschäftsmodelle in der Content-Produktion und im IP-Management (Intellectual Property Management, Anm. d. Red.).

Im Schach spüren wir den digitalen Umbruch deutlich, aber mit Geschäftsmodellen tun wir uns schwer.

Für mich passt Schach genau in mein Raster. Es ist Sport, es ist Unterhaltung, und es ist durch die Digitalisierung massiv im Umbruch. Schach ist im Gaming angekommen. Nehmen Sie Plattformen wie chess.com: In vier Jahren von 30 auf über 200 Millionen Nutzer. Dazu der Boom durch „The Queen’s Gambit“ auf Netflix, verstärkt durch die Pandemie. Levy Rozman, der größte Schach-Creator, ist eine zentrale Figur dieser Entwicklung. Seine Persönlichkeit und seine Marke fand ich schon sehr spannend, bevor ich ihn kennengelernt habe.

Wie und wann ist das passiert?

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Beim Sportkongress „Gameplan“ 2024 in Köln. Dort stand er auf der Teilnehmerliste. Als ich das meinem jüngeren Sohn erzählt habe, der war komplett im Schachfieber, war er begeistert: „Wow, den triffst du?“ Beim Kongress hatte ich das Glück, abends als einer von zehn Spielern an einem Simultan gegen ihn teilzunehmen. Hinterher habe ich ihn angesprochen. Ich sagte ihm, dass ich seine Marke stark finde. Falls er mal Interesse an einer Strategie für Europa habe, könnten wir gerne reden. Daraus wurde im Sommer 2024 ein Vertrag. Wir vertreten ihn exklusiv – vor allem in Europa, aber eigentlich weltweit.

Rozman geht mit seiner Bühnenshow vom Digitalen zurück ins Analoge.

Viele Creator versuchen den Schritt von Online zu Live – nicht nur im Schach. Food-Creator, Fußball-Creator und so weiter. Manche scheitern, wenigen gelingt es. Bei Levy Rozman bin ich optimistisch. Er hat Lust darauf, er hat das Talent und die Persönlichkeit. Seine Show bleibt digital geprägt. Wir bauen fortlaufend Online-Bezüge ein. Es gibt Talks, Gäste, Blitzpartien. In Berlin zum Beispiel mit Judit Polgar, was großartig wird – eine beeindruckende Persönlichkeit. In London haben wir Danny Rensch von chess.com dabei. Es wird live Schach gespielt. Und wir binden sein digitales Format „Guess the Elo“ ein. Zuschauer schicken Partien ein, wir wählen einige aus, die live analysiert werden. Rozman schätzt dann den Elo-Wert – oft sehr treffsicher, aber manchmal liegt er komplett daneben. In Hamburg haben wir das getestet, ein Riesenspaß für alle Beteiligten.

“Guess the Elo”, ein von Rozman kreiertes, beim Publikum beliebtes Format, das er jetzt auf die Bühne bringt.

Trotzdem ist es Rozmans Publikum gewohnt, ihn gratis auf YouTube zu sehen. Jetzt sollen die Leute Theatertickets kaufen. Glauben Sie wirklich, dass Ihr Ansatz als Geschäftsmodell funktioniert?

Das wissen wir längst. Seit Weihnachten läuft der Vorverkauf. Je nach Stadt sind wir bei 60 bis 70 Prozent Auslastung. Das reicht uns schon, um die Gewinnschwelle zu erreichen. Ich will aber gar nicht sagen, dass die Live-Tour der Heilige Gral ist. Sie ist eine von mehreren Komponenten.

Wie sehen Sie die Vermarktung von Schach im Vergleich zu etablierten Zuschauersportarten, sei es Wrestling, Fußball oder Basketball?

Da sehe ich einige Unterschiede. Das fängt damit an, dass andere Sportarten einen erheblichen Vorsprung haben. Im Schach fehlt es noch an professionellen Strukturen, etwa bei der Vermarktung von Rechten. Dazu kommt: Schach ist kein klassischer Publikumssport. 5.000 Zuschauer um ein Schachbrett versammeln – schwierig. Aber ohne Publikum vor Ort wirkt ein Event kleiner, selbst wenn Millionen online zuschauen. Drittens: Es fehlt an Format-Innovation. Aber hier greift die Digitalisierung schon. Schauen Sie sich an, was chess.com macht: hervorragende Events, die Reichweite und Engagement generieren. Beim Finale der Speed Chess Championship in Paris habe ich es live erlebt: etwa 250 Zuschauer vor Ort, darunter VIPs, die Magnus Carlsen, Hikaru Nakamura, Hans Niemann treffen wollten. Die haben gezahlt – und fanden es großartig. Oder schauen Sie sich Jan Henric Buettners Freestyle Chess an – ein neues Format, das wächst. Selbst die FIDE-WM wird besser. Google war Hauptsponsor. Das zeigt: Auch traditionelle Events gehen neue Wege. Aus meiner Sicht sind die Digitalisierung und eine Multiplattform-Strategie der Schlüssel für neue Chancen im Schach. Generell funktioniert Vermarktung heute ganz anders als früher, als es noch reichte, ein Logo aufs Trikot zu drucken. Heute gibt es KI-gesteuerte Modelle zur Messung der Werbewirkung. Die Sponsoren wollen genau wissen: Wie effizient ist mein Engagement? Was bekomme ich zurück? Das verändert alles – in allen Sportarten.

Als beim Speed-Chess in Paris Magnus Carlsen auf Hans Niemann traf, pulverisierte der Livestream bisherige Zuschauerrekorde.

Sie suchen im Schach neue Chancen, neue Formate, aber das Umfeld ist behäbig, von Mäzenatentum und Tradition geprägt.

Natürlich gibt es Traditionalisten – ob bei der FIDE oder nationalen Verbänden. Die werden sagen: „Schach ist kein E-Game.“ Und das ist auch okay. Es braucht beides. Und es lässt sich ja auch beides miteinander verbinden, wie wir gerade in Karlsruhe beim grenke-Freestyle-Festival mit 3.000 Teilnehmern gesehen haben. Der Markt bewegt sich. Ich glaube an Konkurrenz, aber auch an ein Mit- und Nebeneinander. Neue Player stärken das System.

“Ein Mit- und Nebeneinander”: Grenke, Freestyle, Schach mit 3.000 Spielerinnen und Spielern in Karlsruhe. | Foto: Dariusz Gorzinski/grenke Chess

Wo sehen Sie sich in diesem System?

Für meine neue Agentur Apollo Masters repräsentiert GothamChess den Anfang. Unser Fokus liegt auf Sportarten, deren Ökosystem sich durch die digitale Transformation stark verändert. Schach ist dafür das beste Beispiel. Nächstes Jahr planen wir eine neue Tour, allerdings nicht wieder mit Gotham Chess. Solche Touren laufen meist alle zwei Jahre. Es könnte 2026 zum Beispiel eine „Four Grandmasters and the Rookie“-Tour werden.

Also nicht nur Touren mit Influencern, auch mit bekannten Spielern?

Stellen Sie sich vor: Ein Supergroßmeister geht auf Tour. Und jeder kann sich bewerben, um gegen ihn zu spielen. Das ist eine Idee, mit der ich mich beschäftige. Wir denken auch über ein Turnier mit schachspielenden Online-Persönlichkeiten nach. Auf sportlich hohem Niveau, aber mit starkem Unterhaltungswert. Und wir müssen auch gar nicht jedes Rad neu erfinden. Es gibt viele Vorbilder – etwa den Ryder Cup im Golf: zwei Nationen, ihre besten Spieler. Wir sind gerade mitten in der Planung. Sicher werden wir dieses Jahr noch einiges ankündigen.

Indien gegen den Rest der Welt?

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Warum nicht? Indien ist riesig im Schach – was die Klasse und die Masse angeht. Wirtschaftlich ist der indische Markt herausfordernd, das kenne ich aus meiner Zeit bei der WWE. Aber die Spielstärke ist enorm, spannend. China entwickelt sich auch rasant. Da lässt sich einiges machen.

Klasse riesig, Masse riesig, wirtschaftlich herausfordernd: Weltmeister Gukesh wird daheim in Chennai empfangen. | Foto via ChessBase India

Verstehen Sie sich als Einzelakteur? Suchen Sie Kooperationen mit etwa chess.com oder Freestyle Chess?

Kooperationen sind ganz wichtig. Vieles lässt sich nicht allein stemmen. Dann gilt es, die besten Partner zu finden und gemeinsam visionäre Konzepte zu entwickeln.

In welchen Sportarten wollen Sie noch tätig werden?

Für den Anfang sehe ich Golf als zweites Feld. Auch da verändert die digitale Transformation gerade die klassische Wertschöpfung. Die traditionellen Turniere wie das Masters oder die US Open werden mit Millionen gesponsert, aber die Reichweiten schrumpfen. Junge Leute schauen keine stundenlangen Übertragungen mehr. Wenn stattdessen ein Golf-Influencer wie Bryson DeChambeau oder Phil Mickelson mit gutem Equipment eine einfache 18-Loch-Runde filmt, erzielt das ein Vielfaches an Reichweite. Das verändert das Sponsoring grundlegend.

Fußball?

Auch da sehen wir spannende Entwicklungen. Die Baller League in Deutschland, die Icon League von Toni Kroos, die große Kings League, mitfinanziert von Kosmos in Spanien und Bertelsmann in Deutschland. Nicht alle Formate werden überleben. Aber ein oder zwei davon setzen sich sicher durch – genau wie im Schach.

Auch im Schach werden neue Formate den veränderten Sehgewohnheiten des Publikums Rechnung tragen müssen.

Früher war es selbstverständlich, dass man sich 90 Minuten ein Fußballspiel ansieht. Heute erreichen Sie damit keinen 18- oder 20-Jährigen mehr. Die sagen Ihnen: Highlights ja, aber nicht das ganze Spiel. Der zweite Punkt ist die massive Durchdringung der jungen Zielgruppe mit digitalen Medien, sozialen Netzwerken und Gadgets. Daraus ergibt sich ein neues Prinzip, das wir „Gamification“ nennen. Sport muss heute spielerisch angereichert werden, damit er funktioniert. Ein Beispiel ist die Kings League im Fußball oder auch die Baller League: Dort wird am Ende ein Würfel geworfen, und plötzlich spielen vier gegen einen – das geht viral, wird kommentiert, funktioniert. Freestyle Chess ist ebenfalls ein Beispiel für Gamification. Die Figuren hinter der Bauernreihe stehen dort nicht wie gewohnt, sondern werden per Zufall bestimmt. Das Zufallsprinzip wird gezielt genutzt – es sorgt für Spannung und neue Impulse.

Gamification: Jan Henric Buettner zieht in Karlsruhe die Startposition. | Foto: Stev Bonhage/Freestyle Chess

Was kann Schach von anderen Sportarten lernen? Gibt es Aspekte, bei denen Schach gegenüber anderen Sportarten im Vorteil ist?

Die Zielgruppe! Im Schach ist sie extrem attraktiv – männlich, gebildet, technikaffin, konsumfreudig. Und jung! Das sieht man, wenn man bei einem Gotham-Event im Saal sitzt: Da kommen 15- bis 35-Jährige. Nicht die klassischen Senioren, die man früher mit Schach verbunden hat. Ansonsten sehe ich aus Vermarktungssicht im Schach klare Parallelen zu anderen Sportarten. Gamification ist ein Thema, neue Sehgewohnheiten sind ein Thema. Die Gotham-Tour begleiten wir sehr aktiv mit Social Media – vor der Tour, während der Tour, nach der Tour werden wir Inhalte kreieren. Auch für all jene, die kein Ticket gekauft haben.

Dass im Schach kaum jemand mit dem Pfund einer fantastischen Zielgruppe wuchert, wundert mich seit Jahren.

Wenn das wirklich so ist, würde mich das auch wundern. Beruflich beschäftige ich mich erst seit einem Jahr intensiv mit Schach. Allein die schiere Zahl schachaffiner Menschen ist beeindruckend: Weltweit spielen rund 700 Millionen Menschen, 300 Millionen davon regelmäßig. Das sind Größenordnungen, da kommt Tennis nicht mit – und selbst Fußball ist nur leicht voraus.

Das OMR-Festival ist eine der größten Konferenzen Europas für digitales Marketing, Medien, Tech und Business. Die 2025er-Auflage bringt am 6. und 7. Mai 2025 in der Messe Hamburg zehntausende Besucher aus der Digitalwirtschaft zusammen. Unter anderem geht es um Schach.
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Mensch
Mensch
18 Tage zuvor

Interessanter Artikel! Man kann viel daraus lesen, was den Zustand unsere heutige Gesellschaft betrifft. Persönlich halte ich von dieser Entwicklung absolut nichts, es zeigt nur schonungslos die egoistische, hässliche, gierige Seite der Menschen und die völlig verfehlte Entwicklung auf. Geldgier first, Geldgier second und Geldgier for ever. Schach ist nur das Vehikel, das benutzt, ausgelutscht und danach weggeworfen wird. Darauf kann ich gerne verzichten.

Fred
Fred
17 Tage zuvor

Ein interessanter Artikel, sehr interessantes Interview, aus dem man einiges mitnehmen kann. Warum zur Hölle erinnern mich diese Protagonisten und die Art und Weise wer und wie sich selbige plötzlich um das Schachspiel herum einfinden und tummeln nur so extrem intensiv an Schmalzfliegen? Man glaubt es förmlich riechen zu können …

David
David
18 Tage zuvor

Das sind mir zu viel Allgemeinplätze und Marketingsprech.

Früher war es selbstverständlich, dass man sich 90 Minuten ein Fußballspiel ansieht.Heute erreichen Sie damit keinen 18- oder 20-Jährigen mehr.

Kompletter Schwachsinn!

Die Gotham-Tour begleiten wir sehr aktiv mit Social Media

Ach nee, ernsthaft, mit Social Media? Das scheint ja ein ganz neuer Trend zu sein. 😉

Walter rädler
Walter rädler
18 Tage zuvor

Danke für ein hochinteressantes Interview! Diesen Satz fand ich super!
“Die Zielgruppe! Im Schach ist sie extrem attraktiv – männlich, gebildet, technikaffin, konsumfreudig. Und jung!”

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