Die Feinheiten des Reglements festzulegen, oblag den Spielern. Und so begann der Freestyle Grand Slam in Weissenhaus mit einer ganzen Reihe von Abstimmungen. Unter anderem legten die Spieler fest, dass die ersten Vier der Vorrunde ihren Gegner fürs Viertelfinale aus den vier Letztplatzierten wählen. Als Sieger der Vorrunde wählte Alireza Firouzja zuerst. Er entschied sich für Vincent Keymer. In einem Mini-Match über zwei klassische Partien (und ggf. Playoff) wollte die französische Nummer eins gegen die deutsche Nummer eins den Einzug ins Halbfinale schaffen.

Keine gute Wahl. Keymer hat sich durchgesetzt. Nach einem souveränen Schwarzsieg zum Auftakt rettete der Lokalmatador erfindungsreich die zwischenzeitlich kritische zweite Partie. Nun erwartet ihn ein Match gegen Magnus Carlsen um den Einzug ins Finale des mit 750.000 Dollar dotierten Wettbewerbs. Parallel kämpfen am Dienstag und Mittwoch im anderen Halbfinale Fabiano Caruana und Turnierüberraschung Javokhir Sindarov ums Weiterkommen. Sindarov, nach Viswanathan Anands Absage in letzter Minute ins Feld gerutscht, war in der Vorrunde Zweiter geworden, wählte zur Überraschung der Konkurrenz Hikaru Nakamura als Gegner – und gewann ein dramatisches Match im Tiebreak.

Die Halbfinals sowie die beiden weiteren Matches um Platzierung, Preisgeld und Grand-Slam-Punkte kommentiert ab 13 Uhr einmal mehr Niclas Huschenbeth zusammen mit Judit Polgar und Peter Leko. An der Seite der beiden einstigen WM-Kandidaten ist Huschenbeth der Mann an der Engine, der die Einschätzungen der Silizium-Instanz einfließen lässt und einordnet – und der selbst zur Instanz geworden ist. Vor dem Turnier hat Huschenbeth einen Freestyle-Kurs mit fast neun Stunden Videospielzeit und einer Datenbank mit instruktiven Stellungen/Partien entwickelt. Dadurch habe er selbst eine Menge gelernt.
Ein Interview mit Niclas Huschenbeth:
Niclas, du hast eine Masterclass für Freestyle entwickelt. Pionierarbeit?
Ja, das war eine spannende Herausforderung. Ein systematischer Kurs, der erklärt, wie man mit einer beliebigen Anfangsstellung umgeht, der Faustregeln und Richtlinien aufzeigt, der Strategien und Prinzipien erklärt – so etwas fehlte bislang.
Müssten es nicht 960 Kurse sein?
Das fände ich nicht sinnvoll, das war auch nicht mein Ansatz. Natürlich wird sich für jede einzelne Stellung konkrete Theorie entwickeln, je mehr Freestyle gespielt wird. Aber mir ging es erst einmal darum, universelle Prinzipien zu zeigen, die Spielerinnen und Spieler anwenden können, um sich in unbekannten Stellungen zu orientieren: Muster erkennen, die Entwicklung planen, Stellungsmerkmale identifizieren und sich daran orientieren.
An wen richtet sich der Kurs?
Es ist ein Grundlagenwerk für Anfänger und Fortgeschrittene gleichermaßen. Allen, die Freestyle spielen, will ich helfen, sich schneller zurechtzufinden. Mein Kurs soll Orientierung bieten, indem er zeigt, wie man eine Stellung richtig einschätzt, welche Pläne sinnvoll sind und wie man strukturiert denkt. Ich bin gespannt, wie er aufgenommen wird! Freestyle-Schach steckt ja noch in den Kinderschuhen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich das Wissen und die Strategien in den nächsten Jahren entwickeln.

Im traditionellen Schach arbeiten die Figuren von Beginn an zusammen. Beim Freestyle tun sie das oft nicht.
Ein wichtiger Unterschied. Im Freestyle gelten in der Eröffnung zwar dieselben Prinzipien – Entwicklung, Königssicherheit, Zentrumskontrolle – aber es kommt der Aspekt der Koordination dazu. Die ersten Züge dienen im Freestyle oft auch dem Ziel, erst einmal eine harmonische Stellung herzustellen, möglichst jede Figur zu aktivieren, ohne dass sie einander behindern. Die Läufer müssen offene Diagonalen finden oder ein Springer droht in der Ecke zu versauern, ein Turm mag Schwierigkeiten haben, in die Partie zu kommen. Beim Freestyle müssen wir vom ersten Zug an eine Vorstellung entwickeln, welche Figuren wohin gehören und wie wir dieses Ziel erreichen.

Wohin gehört die mächtigste Figur, die Dame?
Die Dame ist ein heikles Thema beim Freestyle. Jeder Schach-Anfänger lernt die Faustregel, die Dame nicht zu früh ins Spiel zu bringen, damit sie nicht zum Ziel für die gegnerischen Leichtfiguren wird. Im Freestyle kommt der Aspekt dazu, dass die Dame nicht zu lange passiv bleiben darf. Sie ist unsere stärkste Figur, sie muss früher oder später Wirkung entfalten. Selbst wenn wir sie nicht sofort ins Spiel bringen, müssen wir doch darauf achten, ihr Wege in die Partie zu öffnen. Eine zur Passivität verurteilte Dame sollten wir vermeiden. Ein gutes Beispiel ist eine Partie zwischen Levon Aronian und Vincent Keymer aus der Freestyle Chess G.O.A.T Challenge 2024. Ein Weltklassespieler wie Vincent weiß natürlich, dass seine stärkste Figur mitspielen muss, aber er hat es die gesamte Partie über trotzdem nicht geschafft, dass seine Dame ins Geschehen eingreift. Am Ende hat er deswegen verloren.
Wenn du vor einer Freestyle-Stellung sitzt, worauf achtest du zuerst?
Ich schaue auf meine Figuren. Welche stehen gut, welche schlecht? Ein Läufer in der Ecke zum Beispiel ist gut. Es bedarf nur eines Bauernzuges, schon strahlt der Läufer quer übers Brett. Ein Springer in der Ecke ist nicht so gut, weit weg vom Geschehen. Eine zentrale Frage ist, ob Bauern ungeschützt sind, was in 600 der 960 möglichen Stellungen der Fall ist. Manchmal kannst du schon mit dem ersten Zug einen gegnerischen Bauern angreifen. In solchen Konstellationen müssen beide Seiten von Beginn an wachsam sein.

Manchmal sind in der Grundstellung mehrere Bauern ungedeckt.
Zwei und in ganz seltenen Fällen sogar drei. Das sind häufig taktische Positionen, in denen mit dem ersten Zug Drohungen gegen die ungedeckten Bauern eine Rolle spielen. Solche Partien werden sofort scharf und dynamisch, was wir vom traditionellen Schach so nicht kennen.

Im traditionellen Schach kommen wir selten ohne Rochade aus. Der König muss schließlich sicher stehen. Beim Freestyle steht er manchmal von Beginn an sicher in der Nähe eines Eckfelds.
In vielen Freestyle-Stellungen ist tatsächlich die Rochade nicht zwingend notwendig. Wenn der König schon sicher steht, geht es stattdessen darum, ohne Rochade die Türme zu aktivieren. Ein interessanter Ansatz ist häufig, früh mit einem Randbauern zu ziehen, um auf diese Weise einen Turm schnell ins Spiel zu bringen. Das widerspricht klassischen Eröffnungskonzepten, kann aber im Freestyle vorteilhaft sein. In meinem Kurs erkläre ich unter anderem genau, wann eine Rochade sinnvoll ist und wann sich Alternativen anbieten.
Wer die Partien der Grand-Slam-Qualifikation oder der ersten Freestyle Fridays anschaut, sieht reihenweise Eröffnungskatastrophen bzw. schnelle Siege.
Das wird sich nach und nach ändern, je erfahrener die Spielerinnen und Spieler werden. Ich habe in meinem Kurs einige typische Eröffnungskatastrophen analysiert, um zu zeigen, wie sich Schiffbruch in der Eröffnung vermeiden lässt. Sogar starke Großmeister schaffen es selten, die ersten Züge ohne Ungenauigkeit oder gar gravierende Fehler zu absolvieren. Besonders gefährlich ist es, wenn man sich zu sehr auf klassische Muster verlässt und nicht realisiert, dass die konkrete Startposition völlig andere Anforderungen stellt.
Symmetrie ist ein Konzept, um mit Schwarz in die Partie zu kommen, das Spiegeln der gegnerischen Züge. Ist das generell empfehlenswert?
Das Spiegeln ist eines der wichtigsten Konzepte im Freestyle, besonders für Schwarz. In den ersten Zügen kann es oft eine solide Strategie sein, einfach die Züge von Weiß zu kopieren. Dadurch verhindert man, dass man früh in eine schlechtere Stellung gerät oder sich ungewollt Schwächen schafft. Aber ewig geht das nicht. Schwarz muss sich irgendwann vom Spiegeln lösen, und Weiß wird nach Wegen suchen, die Symmetrie zu brechen. Das gelingt häufig, indem Weiß einen Hebel ansetzt oder eine taktische Drohung aufstellt, die der Gegner parieren muss. Den richtigen Zeitpunkt zu finden, um die Symmetrie zu brechen, ist oft kritisch. Im Kurs erkläre ich detailliert, wann Spiegeln eine gute Strategie ist und wann man davon abweichen sollte.

Du wirst als Kommentator beim Freestyle-Turnier in Weissenhaus tätig sein. Wird es dieses Jahr einfacher für dich als bei der Premiere 2024?
2024 war das Kommentieren eine Herausforderung, weil Freestyle so viele unbekannte Elemente enthält. Es war – trotz und manchmal auch wegen der Engine-Bewertungen – schwierig, Stellungen einzuschätzen und auf Anhieb zu zeigen, worum es geht und worauf es für beide Seiten ankommt. Ich musste Muster und Prinzipien erkennen, ohne auf etabliertes Wissen zurückgreifen zu können. Durch die Arbeit am Kurs habe ich jetzt ein viel tieferes Verständnis für Freestyle entwickelt. Mir als Kommentator wird das enorm helfen. Ich hoffe, dass die Zuschauer dadurch noch mehr vom Turnier mitnehmen können.

Der Mann kauft sehr gute Leute ein, das gefällt mir! Mit Huschenbeth, Schormann und Siebrecht zeigt Büttner gute Menschenkenntnis, die drei kannst du alle blind in ihrem Bereich nehmen. Bitte keine Geld-Neid-Debatte, Büttner nimmt keine Mittelklasse, er will die besten in Deutschland und die bekommen auch was für ihre Arbeit, so muss es sein!
Ich bin gespannt, wie das Experiment Freestyle-chess endet.
Die Möglichkeiten sind:Freestylse chess verschwindet wieder, es bleibt weiterhin ein Nieschenprodukt oder es walzt Schach in ferner Zukunft weg oder irgendwas dazwischen.
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