Peter Leko hielt es nicht auf seinem Kommentatorenstuhl. Als Fabiano Caruana das Finale gegen Vincent Keymer verloren gab, mussten Judit Polgar, Niclas Huschenbeth und Levon Aronian allein weiterkommentieren. Leko sprintete derweil aus dem Studio im ehemaligen Pferdestall von Schloss Weissenhaus zum 100 Meter entfernten Spielsaal in der Reetscheune, um seinem Schützling zum Turniersieg zu gratulieren.

Vincent Keymer ordnet seinen Triumph beim Auftaktturnier des „Freestyle Chess Grand Slam“ als „mit Sicherheit“ größten Erfolg seiner jungen Karriere ein, noch vor der Vizeweltmeisterschaft im Schnellschach Ende 2022. Das sagte er im Gespräch mit ChessBase India nach dem Gewinn des Elitewettbewerbs.

War der Sieg in Ostholstein sogar der größte Erfolg eines deutschen Großmeisters in einem klassischen Schachturnier seit einem Jahrhundert? „Historisch“ titelten einige Medien. Über diese Kategorie ließe sich streiten, aber aus der Luft gegriffen ist sie nicht.
Matthias Blübaums Europameisterschaft 2022? Ein Meilenstein, aber ein Sieg über ein Feld ohne Weltklassespieler. Arkadij Naiditschs Sieg in Dortmund 2005? Robert Hübner in Linares 1985? Wolfgang Uhlmann in Zagreb 1965? Stark, gewiss, aber keine Triumphe über die versammelte Elite, so schön die Reihe 1965-1985-2005-2025 auch wäre. 1985 in Linares etwa fehlten Kasparow und Karpow.
Wer nach deutschen Siegen über ein Elitefeld sucht, der muss weiter zurückgehen, nach Bad Kissingen 1928 etwa, wo Efim Bogoljubow unter anderem die Schachfreunde Capablanca, Euwe, Rubinstein hinter sich ließ. Oder, natürlich, nach New York 1924, wo der 55-jährige Exweltmeister Emanuel Lasker die Weltspitze distanzierte, auch den amtierenden Weltmeister Jose Raul Capablanca, der in New York 1924 die erste Niederlage nach acht Jahren erlitt (gegen Richard Reti).

Emanuel Lasker musste seinerzeit 20 Partien mit klassischer Bedenkzeit spielen, Vincent Keymer jetzt 6. Matchsiege über
- den jüngsten 2800er der Geschichte,
- die Nummer 1 der Welt seit 15 Jahren und
- die Nummer 3 der ewigen Weltrangliste
sind historisch gut, aber sechs Partien sind eine viel zu kleine Basis, um daraus Schlüsse zu ziehen – könnte man meinen. Die Mit- und Gegenspieler inklusive Magnus Carlsen haben in Weissenhaus trotzdem einen Schluss gezogen: „Vincent war klar der Beste“, hieß es allenthalben.
Klar der Beste in einer Variante, die den Spielern andere Qualitäten abverlangt als traditionelles Schach, in einer Variante, die Vincent Keymer mehr entgegenkommen könnte als anderen. Wenn es zu Beginn der Partie gilt, aus dem Durcheinander auf der Grundreihe harmonisches Zusammenspiel erwachsen zu lassen, könnte der große Stratege Keymer in seinem Element sein. „Vielleicht verstehe ich dieses Format tiefer als andere Spieler. Warum oder wie, weiß ich nicht“, sagte der 20-Jährige nach seinem Turniersieg gegenüber ChessBase India.
Keymer sieht noch einen anderen Erfolgsfaktor, sein Zeitmanagement. Zeitnot hat er in Weissenhaus weitgehend vermieden und es doch geschafft, immer dann tief reinzugucken, wenn es zählte – anders als etwa Weltmeister Gukesh, der mit seinem rechenintensiven Stil wahrscheinlich zu oft Irrelevantes kalkuliert hat und am Ende gar das Match um Platz 7 verlor. „Es ist sehr wichtig, sich in den richtigen Momenten Zeit zu nehmen“, erklärt Keymer. Im traditionellen Schach falle ihm das manchmal schwer, „aber hier hat es gut funktioniert“.
Stellungsgefühl und Zeitmanagement: In der letzten Partie, Schwarz gegen Caruana, kamen beide Stärken eindrücklich zusammen. Während am Brett nebenan Gukesh und Alireza Firouzja zügig Züge raushauten, hatte Keymer schon nach Caruanas 1.d4 den Moment identifiziert, in dem es gilt, tief reinzugucken. 21 Minuten vergingen, bis er 1…f5 zog. In den 21 Minuten davor hatte Keymer Caruanas Aufbau antizipiert – und ein Konzept entwickelt (4…Shg6 nebst 5…Sh4, gefolgt vom essenziellen Hebel …g5), um ihn zu neutralisieren.
Wenig später stand Keymer auf dem Brett besser und auf der Uhr nicht mehr schlechter. Die 21 Minuten für den ersten Zug entpuppten sich als entscheidende Investition, die ihm in letzter Konsequenz das Turnier gewann.
Exweltmeister Wassily Smyslow (1957/58), ausgebildeter Opernsänger, ist Teil einer langen Reihe von Schachmeistern und Musikern. Der spanische Journalist und Schachkenner Leontxo Garcia wies anlässlich des Turniersiegs des deutschen Musiker-Spross‘ darauf hin, dass Smyslow einst „Harmonie“ als Faktor benannt hat, der Schach und Musik verbindet. Diese Verbindung mag noch mehr beim Schach960 relevant sein, wo das Herstellen von Harmonie ein ähnlich elementares Konzept für die ersten Züge ist wie der Kampf ums Zentrum im traditionellen Schach.

Ist also der Superharmoniker Keymer wegen seines musikalischen Hintergrunds beim 960 so gut? Das wäre eine schöne Frage an den Pianisten und Schachprofimanager Christof Keymer. Vielleicht hat sie ihm Zeit-Reporter Ulrich Stock beim gemeinsamen Strandspaziergang an der Ostsee sogar gestellt. Deutlich wird das nicht aus den bizarren ersten vier Absätzen eines Beitrags (für Abonnenten), die zwar den Strandspaziergang mit Vater Keymer behandeln, in denen er aber nicht zu Wort kommt (bzw. kommen will).
Ulrich Stock, trotz kundiger Gesellschaft an seiner Seite, räsoniert am Ostseestrand allein über das sportliche Vorankommen des Jahrhunderttalents. Von „Schlingern“ ist die Rede und vom bangen Warten auf den „Durchbruch“. Harsche Worte über jemanden, der der beste Deutsche seit 50 Jahren ist und aktuell 12 Elo unter seinem bisherigen Karrierehoch von 2743 aus dem Januar 2024 liegt.
Aber berechtigt. Januar 2024 ist über ein Jahr her und Keymers Gabe so außergewöhnlich, dass der Blick weiter nach oben gehen muss, vielleicht sogar nach ganz oben. Doch nun sieht es nach einem nicht erfolglosen, aber durchwachsenen 2024 aus, als seien ihm die indischen Wunderknaben enteilt. Gukesh, Pragg, Erigaisi haben längst die Top 10 der Welt geentert, Keymer dümpelt auf 24. Zufrieden ist er damit selbst nicht. Mittelfristig will Keymer nicht der Top-20-Spieler sein, der er jetzt ist, sondern besser als das.
Noch hat er dafür genug Zeit auf der Uhr, aber sie tickt. Das jetzt angebrochene Jahr 2025 ist das erste seines Lebens, in dem der 20-Jährige nicht mehr als Jugendlicher oder Junior geführt wird. Und es soll das Jahr sein, in dem er den nächsten Schritt macht. Die Qualifikation fürs Kandidatenturnier 2026 ist ein großes Ziel, ein erfolgreicher Freestyle-Grand-Slam das andere. Sich auf beides zu konzentrieren, werde viel Arbeit, erwartet Keymer.
In Wijk an Zee hat das kritische Jahr 2025 gar nicht so schlecht begonnen, wie es viele gesehen haben. Keymer absolvierte den Wettbewerb erkennbar ambitioniert, suchte in jeder Partie Chancen und ohne Kompromisse einen Kampf auf Biegen und Brechen. Seine Partieanlage beim Tata Steel Chess spiegelte 13-mal das Selbstverständnis eines Weltklassespielers der modernen Ära, aber die Ergebnisse passten nicht dazu. Zu den Problemen mit dem Zeitmanagement kamen Rechenfehler bzw. taktische Übersehen, wie sie ihm schon oft noch bessere Ergebnisse verdorben haben. Gleichwohl schien deutlich durch, was Keymer sich vorgenommen hatte und 13 Runden lang durchzog – belohnt mit einem neuerlichen 1.e4-Abschlusssieg über Turniersieger Praggnanandhaa.
Die eindrücklichsten Keymer-Partien sind strategische Meisterwerke, in denen er starke Großmeister konzeptionell dominiert und auf der ganzen Breite des Brettes überspielt. In der jüngeren Vergangenheit fiel auf, dass ihm solche Demonstrationen immer seltener gelingen. Das hängt mit der steigenden Klasse der Gegenspieler zusammen, wahrscheinlich auch mit der Entwicklung des Spitzenschachs in den 2020ern.
Wer heute aus Grundstellung 518 heraus gegen das 2700+-Level Partien gewinnen will, der landet offenbar zwangsläufig in irrationalen, taktisch geprägten und konkreten Positionen, wie sie Keymer schon 2024 und auch jetzt in Wijk wieder und wieder auf dem Brett hatte. Konkretes, Rechenintensives spielt ihm nicht in seine größte Stärke, die strategisch-konzeptionelle Meisterschaft, das außergewöhnliche Gefühl fürs Schach.

Nach dem Trauerspiel des jahrelangen Scheiterns bei der Sponsorensuche und dem Aufbau der Marke „Vincent Keymer“, zu erklären nur durch fehlende Kompetenz im Umfeld, war es schon ein Glücksfall, dass dem größten Schatz des deutschen Schachs ein Buettner vom Himmel gefallen ist. Jetzt mag es sich als weiterer Glücksfall entpuppen, dass Jan Henric Buettner seine Freestyle-Unternehmung auf Magnus Carlsens Wunsch aufbaut, klassisches 960 zu spielen.
Diese Disziplin könnte für die deutsche Nummer eins wie maßgeschneidert sein. In Weissenhaus gelang Vincent Keymer gleich eine Reihe von Meisterwerken, in denen seine besondere Stärke zum Tragen kam.
- Wie er mit Schwarz Alireza Firouzja in der Eröffnung auflaufen ließ und den unbeirrt weiter attackierenden Franzosen auskonterte,
- wie er Magnus Carlsen in einer Partie gleich zweimal überspielte,
- wie er Fabiano Caruana aus der Eröffnung heraus einstampfte (und hinterher fand, das habe sich „von allein gespielt“),
das war nicht weniger als überragend. Weltspitze.
Es besteht Anlass zu hoffen, dass es bei der nächsten Tour-Station vom 8. bis 15. April in Paris so weitergeht. Aber erst einmal gilt es, am 8. und 9. April die Hürde „Vorrunde“ zu nehmen. Vincent Keymer, der Gegenentwurf eines Zockers, tat sich schon in Weissenhaus in der Rapid-Vorrunde schwer, bevor er im klassischen Teil des Turniers mit Leichtigkeit brillierte. In Paris werden zwölf Weltklassespieler zur Vorrunde antreten, acht kommen weiter. Unter diese acht zu kommen, muss das unmittelbare Ziel sein – kein Selbstläufer.
Vincent Keymers Turnierplan für das kritische Jahr 2025 steht in groben Zügen fest. Nach dem Auftaktturnier der Champions Chess Tour (17. bis 22. Februar) folgt das Schachfestival Prag (26. Februar bis 7. März), Freestyle in Paris (8. bis 15. April) sowie Grenke-Freestyle in Karlsruhe (17. bis 21. April). Um die Qualifikation fürs Kandidatenturnier wird es beim Grand Swiss (3. bis 16. September) sowie beim World Cup (31. Oktober bis 27. November) gehen.

Die Deutsche Meisterschaft (15. bis 23. Mai, München) könnte dazukommen. Keymer hat nach Informationen dieser Seite beim Deutschen Schachbund bis Mitte Februar Bedenkzeit für die Entscheidung erbeten, ob er teilnimmt oder nicht. Ob diese Entscheidung schon gefallen ist, ist nicht bekannt.
Enden könnte dieses wichtige Schachjahr mit der Rapid- und Blitz-WM (25. bis 31. Dezember), die Keymer allerdings 2024 ausgelassen hat. Es könnte auch mit dem Finale des „Freestyle Chess Grand Slam“ in Südafrika (5. bis 12. Dezember) enden, idealerweise mit einem Grand-Slam-Sieg.
Danach wären alle Zweifel ausgeräumt, wer der Beste der Welt im klassischen 960 ist. Als „Weltmeister“ wird sich der Toursieger allerdings nur fühlen dürfen, nicht so nennen. Die Spieler haben in Weissenhaus vereinbart, dass bei der Tour 2025 der „Freestyle Chess Champion“ ermittelt wird. Ob die Weltmeisterdebatte zum Grand Slam 2026 erneut auf den Tisch kommt, wollen sie Ende dieses Jahres entscheiden.

Also “klassisch” bedeutet “lange Bedenkzeit”? Ein klassisches Schachturnier war das jedenfalls nicht (wie oben behauptet); es war eine Schachvariante, die mit klassischen Turnieren und klassischem Schach im Wesentlichen nur die Bedenkzeit gemeinsam hat. Das ist vergleichbar mit anderen chess-960-Turnieren, aber nicht mit Turnieren von Hübner, Lasker & Co. Da muss man die Kirche schon mal im Dorf lassen. Chess-960 hier zu einem Klassiker zu erheben, das spricht für Büttners Marketingabteilung, misst aber die journalistisch notwendige kritische Distanz zum Event. Ein super Event war es jedenfalls. Mir hat es viel Spaß gemacht, zuzusehen; Polgar, Leko & Huschenbeth waren wirklich gut. –… Weiterlesen »