Es soll dies ausdrücklich KEIN Nachruf sein. Bei einem Nachruf wäre mir auch schon nicht unmittelbar klar, ob der Doktortitel zwingend dazu genannt werden müsste oder ob man ihn lieber wegließe? Robert Hübner war der Mensch. Doktor ein Titel. Mit dem oder durch den Titel verliert es an Menschlichkeit?
Nun kommt die zweite kleine Hürde, wenn ich über ihn schreibe: Im Zuge und Rahmen der beabsichtigten Menschlichkeit, welche ich gerne vermitteln würde, sollte ich ihn nun ab jetzt im Text als “Robert” bezeichnen? Oder dann lieber als Robert Hübner? Oder, ganz vollständig und absolut unstrittig und korrekt als “Dr. Robert Hübner”, was dann aber wieder eine maximale Distanz und somit die minimale Menschlichkeit vermittelt?
Also man sieht: Bereits eine Einleitung fällt hier schwer. Ich kannte Robert. So. Nun ist es raus. Aber wer kannte ihn nicht? Nein, ich meine nicht diese Art des “Kennens”. Ich kannte ihn PERSÖNLICH. Nun, selbst das dürfte noch für eine hohe Anzahl von deutschen Schachspielern gelten, und natürlich eine riesige Anzahl sonstiger Menschen, da Robert (ich bleibe dabei und habe ein schlechtes Gewissen ob der willkürlich von mir überbrückten Distanz; der Leser möge es mir nachsehen? Wir wollen ihn doch alle so menschlich wie möglich haben, erinnern, gekannt haben wollen? Er war es… und anmaßend von mir, es so auszusprechen…) keineswegs nur als Schachspieler verstanden werden wollte – falls er überhaupt Wert darauf legte, “irgendwie” verstanden werden zu wollen. Er war weit mehr als ein “Schachspieler”. Wobei er es ausgerechnet in diesem Spiel – und das alles andere als zufällig – zur höchsten Meisterschaft gebracht hat. Ein Grund: In diesem Spiel waren seine Leistungen und seine Fähigkeiten messbar zu machen. Hätte man in der Geschwindigkeit des Erlernens einer Fremdsprache ähnliche Vergleichbarkeit, so wäre er in dieser Disziplin sicherlich ebenfalls in der Weltrangliste weit vorne. Und hier nur eine mehr oder weniger zufällig ausgewählte andere Disziplin.
Ich habe ihn also tatsächlich persönlich kennenlernen dürfen. Ob das nun Zufall war oder nicht, sei mal dahingestellt. Aber es kam zu einigen Begegnungen und später zu ersten Gesprächen und später zu noch mehr davon. Und, um mich nun endgültig bei ihm “anzubiedern”: Ich bekam seine Telefonnummer und er hatte meine. Ich nutzte diese Kenntnis einmal, um ihn an seinem Geburtstag anzurufen. Natürlich war ein solcher Anlass für ihn “kein besonderer Tag”. Dennoch war er erfreut und zeigte sich gesprächsbereit, sagen wir ruhig sogar in “Plauderlaune”, vielleicht dann eben doch registrierend, dass ich daran gedacht hatte und mich als Mensch für ihn interessiert habe und nicht als “friend of the stars”, wovon er garantiert ziemlich “die Schnauze voll hatte” und im Grunde jedem, der sich mit seiner Bekanntschaft sonnen wollte, deutlich machte: “Nein, wir sind keine Freunde.” Je mehr es dann jemand nach außen hin verkörpern wollte, um so mehr zog er sich zurück. Er war den Menschen gegenüber, die sich zutraulich zeigten, skeptisch – und das nicht ohne Grund. Sie wollten doch alle nur sagen können: “Ich kenne Robert persönlich.” Und hier erneut das anbiedernde “Robert”. Nein, das wollte er nicht und lieber hätte er gesagt: “Bilde dir ein, du kennst mich, weil wir uns schon mal unterhalten haben. Du weißt nichts von mir und wirst auch nie etwas erfahren!”
Der Autor hier, ich selbst, bilde also keine Ausnahme, und wenn, die unrühmliche?
Ich hatte also an seinem Geburtstag mit ihm gesprochen. Ich wage zu behaupten, dass es der 6. November 1999 war. Falls mich die Erinnerung trügen sollte: Robert wüsste es sicher genau, weil er nämlich auch in der Disziplin “Gedächtnisleistung” in die Kategorie “Weltklasse” einzustufen wäre. Verblüfft war ich nun über die Maßen, als er sich am 27. Januar 2000 “revanchierte”. Es klingelte nicht zum ersten Mal an diesem Tage (ok, dann eben doch, aber es war jedenfalls mein Geburtstag) das Telefon. Ich nahm ab und staunte nicht schlecht: Robert Hübner am Telefon. “Hallo Robert, wie nett, dass du anrufst?” Ein paar nette, einleitende Worte, in denen aber nicht sichtbar wurde, dass er es “auf meinen Geburtstag abgesehen hatte”. Das hätte ich mir auch wirklich nicht vorstellen können. Dazu hätte es der Voraussetzung bedurft, dass wir es untereinander ausgetauscht hätten (für mich war es ein Leichtes, mir seines zu merken; aber nicht etwa aufgrund des ausgeprägten Gedächtnisses, sondern weil er eben der beste Deutsche Schachspieler war über eine so lange Zeit; da kann man so was schon mal wissen?). Davon war nicht auszugehen. Alternativ aber noch weniger: er hätte recherchiert, wann meiner wäre, nachdem ich an seinem angerufen hatte, um sich dann auf diese Art zu “revanchieren”? Nein, dazu wären Geburtstage sicher ein viel zu banaler Anlass, aus seiner Sicht.
Es war reiner Zufall, dass es an diesem Tag geschah. Es war ihm schon ein ganz klein wenig peinlich, das konnte man spüren. Aber mit einer Entschuldigung war das unmittelbar eingerenkt. Wie hätte ich es ihm verübeln können? Ausgeschlossen! Das Gespräch entwickelte sich dennoch. Und seine Absicht, die er ursprünglich verfolgte mit seinem Anruf, trat zutage: er wollte sich bei mir nach dem chinesischen Schach erkundigen. Ob ich damit Umgang oder Erfahrung hätte. Er dachte hier an mich, weil er wusste, dass ich mich mit etlichen Spielen jenseits des klassischen Schachspiels beschäftigt hatte, und suchte hier eine Verbindung, vielleicht gar einen Spielpartner? Es zeigt nur auch diese kleine Geschichte: Schach schon wichtig, aber es gibt auch viele andere interessante Dinge auf der Welt. Chinesisches Schach? Ich musste passen. Es blieb aber ein hoher Erinnerungswert: Robert ruft mich an, an meinem Geburtstag. Und er tut dies zwar zufällig, aber auch, weil er an mich eine Frage hat?! Sonst beantwortet er sich doch all seine Fragen selbst? Na, nennen wir es: gefühlt eine Art Ritterschlag.

Ja, also eine Chronologie bekomme ich hier nicht hinein, insofern erzähle ich einfach frei von der Leber weg.
Eine erste wichtige Begegnung fand statt, als er in etwa im Jahre 1981 einen Nachwuchslehrgang abhielt. Dieser fand in Hamburg statt. Der Deutsche Schachbund hatte also eine Reihe von Spielern ausgewählt, die er für förderungswürdig befand, und diese zu dem zweitägigen Lehrgang eingeladen. Eine Ehre für mich, hier zur “Elite” dazu zu gehören. Nun, immerhin hatte ich in demselben Jahre mit 12 aus 15 in der Bundesliga mit das beste Ergebnis erzielt?! Ein bisschen Selbstbeweihräucherung gehört einfach dazu? Also ausgewählt war ich, dabei sein durfte ich, es war ein Fehlgriff, aber egal.
Von diesem Ereignis habe ich folgende zwei Geschichten in Erinnerung. Einmal zeigte Robert etwas am Demo-Brett. Eine Partie oder eine Stellung. Nun wollte er die eine Stellung als gewonnen bewerten und die Analyse abbrechen. Seine Worte dazu: “Das wird dann irgendwie Matt.” Ich erdreistete mich, seine Worte in Frage zu stellen und meldete mich zu Wort: “Das sehe ich nicht, dass das Matt wird. Ich spiele so, und dann, was soll da kommen?” Robert runzelte die Stirn – das tat er sehr gerne und es war für den gerade davon Adressierten kein gutes Zeichen – , schaute aufs Brett und wischte meine Bemerkung mit ein paar starken Zügen von Selbigem. Meine Verteidigung taugte nichts, er hatte recht, er sah es, er zeigte es mühelos, er war der Bessere. Das Matt war unvermeidlich.
Das war nicht nur an dieser Stelle zu spüren. Aber für mich eben ein entscheidendes und einschneidendes Erlebnis. Man denkt eben mit 21 Jahren doch noch, dass Bäume in den Himmel wachsen? Robert Hübner mag Deutschlands Nummer eins sein. Aktuell. Aber bald bin ich da? Nein, so geht es nicht. Es war kein Zufall. Er war eben so gut. Lernen kann man, versuchen, ein Stück näher zu rücken, aber herankommen? Vermutlich nicht. Finde dich damit ab!
Das andere Ereignis war dies: Am Abend nach dem ersten Veranstaltungstag gingen wir alle gemeinsam essen. In ein sehr ordentliches Restaurant. Ich nutzte die Chance, einen Platz neben Robert einzunehmen, durch pure, aber mir eh nicht abzusprechende Dreistigkeit. Es war sicher nicht “seine Wahl”? Nun hatte Robert – wie ich ihn damals sicher nicht gewagt hätte anzusprechen oder zu nennen: “Herr Doktor Hübner”; so viel war klar! –, wie immer, ein Buch dabei. Diese irdischen Freuden waren ihm fern. Feiern, Alkohol, sich amüsieren, auch noch mit ihm aufgedrängter Gesellschaft? Nein, das wäre “mondän”, nicht seine Welt. Das Büchlein war aber alles andere als ein Groschenroman oder Kitsch. Er hatte den Homer dabei, vermutlich im Original. Schließlich war er des Altgriechischen mächtig, war Archäologe oder Papyrologe und wenn ich ihm hier etwas, ohne jegliche Recherche, andichte, dann hatte er fraglos in all diesen Fächern ebenfalls seine Expertise. Homer im Original. Eine gewisse Herausforderung für so eine Art von Abendveranstaltung?
Seine Bestellungen waren ebenso bescheiden wie er selbst. Er trank einen Tee und wählte das kleinste und billigste Essen aus. Nun gelang es mir doch, dank des mitgebrachten Magnetschachs, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ich zeigte ein paar Stellungen oder ein paar Partien, na klar, von wem schon? Von mir selbst. Mein Ansinnen war für ihn leicht zu durchschauen: Ich wollte ihn beeindrucken. a) mit Gedächtnisleistung (weiß ich alles auswendig, da staunste, wa?), b) mit etlichen starken Zügen (klar hatte ich mich auf Siegpartien fokussiert?), c) mit Vorführkünsten und Variantenkenntnissen und d) mit einer tragischen Niederlage, die ich gegen einen Seinesgleichen zu zeigen hatte. Ich zeigte meine Gewinnstellung gegen Florin Gheorghiu (damals Elo 2605, sein Peak, in etwa wie er, Robert Hübner), die ich noch verdorben hatte.
Genau in diesem Moment aber ging es ihm zu weit. Er wandte sich ab vom Brett und wieder seinem Homer zu, für den Rest des Abends. Das war ihm albern, lächerlich, peinlich für mich, zum fremdschämen. Das hatte ich mir also verdorben… ich verstehe ihn (heute) nur zu gut…

1980 bis 1982 spielte ich für die SG Bochum 31 in der Bundesliga. Ich war in diesen Jahren der erfolgreichste Bundesligaspieler, mit einem Ergebnis von 23 aus 30. Ja, schon gut, klar, aber es war an Brett 6 und an Brett 4 erzielt. Robert spielte logischerweise an Brett 1. Und er erzielte eine ähnlich hohe Ausbeute, was somit natürlich deutlich höher zu werten war.
Darum geht es hier aber nicht – außer der unangebrachten Selbstbeweihräucherung erneut, zurückgehend auf ausgeprägte Eitelkeit (einer Eigenschaft, die man Robert nicht nachsagen konnte, es sei denn, man tat es bösartig). Eher ginge es darum: Er hat sicher meinen Namen dadurch zur Kenntnis genommen. “Wer ist das denn, der da vor mir steht?”
Nun geschah dies beinahe parallel zu dem vorher geschilderten Ereignis. Sagen wir so: Robert wusste eventuell doch, wer ich war? Nun hatte man also durch dieses und jenes Ereignis bereits eine gewisse Beziehung zueinander.
Wie das nun genau weiterging, ist mir nicht völlig klar erinnerlich. Es muss so gewesen sein, dass wir mindestens in zwei aufeinanderfolgenden Jahren Reisepartner waren. Aber erst nach oder ab 1984. Als Reisepartner trifft man sich etwas häufiger, da man alle Kämpfe gemeinsam bestreitet. Ich spielte zwar mittlerweile für meinen Heimatverein Lasker-Steglitz und er für Solingen, aber für Berlin fand sich wohl kein Reisepartner?
Ohne “unnötige und übertriebene Recherche” nehmen wir es einfach mal so hin? Wir trafen uns regelmäßig. Und es ergab sich, dass wir eine neu gewonnene Leidenschaft miteinander teilten. Backgammon! Diese Matches mit ihm habe ich wirklich in toller Erinnerung. Nicht nur, dass er sich darauf einließ und überhaupt dieses Spiel spielte. Nein, er war regelrecht euphorisch bei der Ausübung. Es war irgendwie eine Riesenerleichterung, dass er ein so doch hochstrategisches und hoch komplexes Spiel spielen konnte – was ihm definitiv lag und die expertenhafte Ausübung in den Schoß fiel –, bei welchem nicht ultimativ die eigene Befähigung über einzelne Spielausgänge entschied. Man konnte diesen, bei jedem einzelnen Verlust, schlichterhand den Würfeln anlasten. Davon machte er reichlich Gebrauch, was dann aber auch der Heiterkeit erheblichen Aufschwung gab. Es waren lustige Runden, und genau so sollen sie auch in Erinnerung bleiben. Sicher ist jedoch, da waren wir uns einig, dass wir “um Geld” spielen würden, selbst wenn keine hohen Einsätze. Sonst, so die übereinstimmende Auffassung, mache das Spiel – ähnlich wie Pokern um Streichhölzer (bei Anziehsachen sieht es anders aus?) – keinen Sinn. Wer sich da über eine längere Distanz als “erfolgreicher” oder gar “besserer” Spieler erwiesen hat und den größeren Reichtum davongetragen hat, davon wird die Nachwelt, auch aufgrund von Unwissen, nicht in Kenntnis gesetzt werden können – und es ist an dieser Stelle auch vollkommen überflüssig.
1991 verschlug es mich durch einen völligen Zufall nach München. Aber keineswegs etwa anlässlich des Schachturniers, welches dort gerade ausgetragen wurde. Ich war auf der Durchreise von Österreich nach Berlin und hatte am Olympiastadion bei einem Spiel des FC Bayern (ja, Fußball!) Halt gemacht. Danach entschied ich, noch eine Kleinigkeit essen zu gehen, in einer nahegelegenen Pizzeria. Die Tür öffnete sich, bevor ich es tun konnte. Vor mir stand Vishy Anand. Ja, wir waren uns schon einmal begegnet und er erkannte mich, so meine Erinnerung. Unfassbar! Er ging wieder mit mir hinein und wir unterhielten uns. In dem Restaurant dann die weitere Überraschung: jede Menge Großmeister.

Anlass: das GM-Turnier fand gerade statt, eines der Großereignisse zu damaliger Zeit. Nun hatte ich eine Menge Spaß und etliche Gespräche mit Bekannten (Eric Lobron zum Beispiel). Aber das gehört hier nicht her. Ich blieb die Nacht und schaute am nächsten Tag beim Turnier zu. Ich war also im Spielerhotel einquartiert.
Nun ging ich Richtung Turniersaal, aber nicht etwa zu Beginn, sondern nach ein oder zwei Stunden. Robert Hübner kam mir entgegen, der gerade “seine Hände gewaschen hatte” (an einem gewissen Örtchen…). Jedenfalls erkannte er mich, ich wollte ihn begrüßen – aber er winkte quasi ab. Vermutlich, da er ahnte, dass ich nun eine Wiedersehenszeremonie abhalten wollte. Er schüttelte den Kopf, wirkte hoch konzentriert, eher schon etwas überspannt. Ich denke, er war in der Partie gegen Gerry Hertneck schon in Schwierigkeiten geraten und verlor die Partie später auch? “Jetzt nicht, ich muss ans Brett, eine schwierige Partie”, bekam ich nur kurz meine Abfuhr.
Ein Satz, den er mal zu mir sagte, lautete so:
“Du hast Schach nie so ernst genommen..”. Er hatte wohl recht. Und zugleich würde ich damit eine gewisse Wertschätzung von ihm erhalten haben? Hättest du mal – da wäre mehr drin gewesen? Na, sagt man halt mal so, aus Nettigkeit? Obwohl das nun nicht wirklich zu ihm gepasst hätte.
Ich nahm an der Deutschen Meisterschaft in Altenkirchen im Jahre 1999 teil. Robert gewann das Turnier. Es wurde kein Backgammon mehr gespielt und wir hatten auch sonst wenig Kontakt während des Turniers. Das erschien mir unter den Umständen “normal”. Ich war im Grunde längst raus aus dem Schach und habe mich mehr mit meinen sportlichen Aktivitäten beschäftigt.
Allerdings kannten wir uns ja noch immer und im Verlaufe eines Turniers rückt man sich oftmals näher. Das gilt für alle Teilnehmer. Wir waren im gleichen Hotel untergebracht, insofern saßen wir auch häufig genug im Essensraum zusammen, zu jeder Mahlzeit.
Als das Turnier zu Ende war, sprachen wir über die Heimfahrt. Ich meinte zu Robert, dass ich ihn mitnehmen könnte, zumindest bis nach Solingen, weil es kein großer Umweg wäre. Nun hatte ich wohl das erste und einzige Mal (außer telefonisch) mit Robert (nun darf ich aber…) Gelegenheit, nur unter uns zu sprechen. Wenn es einem nun gelingt, mit einer gewissen Menschlichkeit und Einfühlsamkeit (mir zwar nicht gegeben; ich sag ja nur “wenn”) ausgestattet ist, dann erhält man wirklich faszinierende Einblicke. Man könnte sagen “er taute auf” und war bereit, viele persönliche Empfindungen und Gedanken zu teilen. Das kam vielleicht sogar etwas unerwartet, aber, nach einer Weile des Zuhörens, konnte sich selbst diese Überraschung legen. Niemals würde man auf den Gedanken kommen, zu sagen, “ja, ein ganz normaler Mensch eben”, weil er so nicht war. Dennoch ist die Betonung hier auf “Mensch” zu legen. Ein Mensch, so menschlich wie andere Menschen auch. Und deshalb lange nicht “normal”, was ja dann sogar ansatzweise in die Richtung “durchschnittlich” ginge? Nee, alles andere als das. Und selbst ein “überdurchschnittlich” wäre ein deutlich zu “mildes” Urteil.
Diese Stunden mit ihm habe ich wirklich nicht nur genossen, sondern bis heute stets wie ein kleines Schatzkästchen in meiner Erinnerung gewahrt. Wenn ich mal darüber sprach, dann nur in der Form: “Doch, tatsächlich habe ich Robert Hübner privat ein wenig kennengelernt, darf ich von mir behaupten. Nichts, was er mir anvertraut hätte, was jemals nach außen zu tragen wäre, auch jetzt und an dieser Stelle nicht. Nur, dass es unwidersprochen bleiben wird, dass ich es behaupte.
Wir fuhren immer weiter in seine Richtung und, angesichts der angeregten Unterhaltung, gerieten alle meine sonstigen Vorhaben weit in den Hintergrund. Ich brachte ihn schließlich – man sollte nicht sagen “gegen seinen Willen”, aber einen Wunsch hätte er auch nicht gewagt, gegenteilig auszusprechen – bis vor seine Haustür. Und, einmal dort angekommen, bat er mich hinein. Man höre und staune oder zweifle an.
Nun haben wir die nächsten zwei Stunden sicher auch noch bei ihm zu Hause verbracht. Wir haben sogar eine Analyse der Norwegischen Eröffnung durchgeführt, bei welcher ich mich genau an die von ihm vorgeschlagene Variante erinnere (hier sicher nicht der Platz, die Zugfolgen einzublenden?). Ich weiß sie noch und ich erinnere mich auch, als ich ihm die schwarzen Gegenmöglichkeiten zeigte, dass er beinahe ein bisschen angestrengt sagte: “Das muss man sich nochmal genau anschauen.” Ändert nichts an meiner Bewunderung und auch hier gezeigten überragenden Herangehensweise und sein hohes Schachverständnis. Aber wer wäre ich, das nun besonders hervorheben zu können, zu dürfen oder zu müssen. Da gibt es nicht nur viele andere (mit besseren Beurteilungsmöglichkeiten), sondern auch die ausreichende Anzahl an Beweisen, wie zum Beispiel einen besten Weltranglistenplatz 3, wohl, wie ich vernahm, genau zum Zeitpunkt, da er den Jugendnachwuchslehrgang leitete (1981).
Er hatte diese vierzig finnischen Kurzgeschichten übersetzt. Er sprach die Sprache tatsächlich, und wir sprachen über seine Reisen nach Finnland. Da erzählte ich von einem meiner Lieblingsfilme “Zugvögel – einmal nach Inari”. Er erzählte, dass er am Inari-See war. Er schenkte mir das Büchlein “Olli”, wie es heißt, als wir darüber sprachen, aber als ich es zu Hause in mein Bücherregal einsortieren wollte, stellte ich fest: Ausgerechnet dieses habe ich schon einmal dort? Richtig: Er hatte es mir einige Jahre zuvor schon einmal geschenkt.
Nur um dies sicherzustellen: ich habe es gelesen, und ich habe versucht, mich hineinzuversetzen, welchen Aufwand er dafür betrieben haben musste. Nicht, dass die Geschichten etwa schlecht oder langweilig waren. Aber es ging aus meiner Sicht ganz klar darum, dass er sein Finnisch bei der Übersetzung weiter verbessern wollte. Oder es gar während einer solchen Übersetzung erlernt hat? Finnisch. Ja, es passte aber auf jeden Fall zu ihm. Mancher hätte ihn “skurril” genannt.
An ein Gespräch, welches wir jedoch nicht genau in diesem Rahmen hielten, kann ich mich sehr gut erinnern, wo wir unsere Meinungen nicht unmittelbar in Einklang bringen konnten. Wobei ich sehr wohl einräume, dass ich hier kein endgültiges Urteil habe, eher eine Idee, wie man das herausfinden könnte. Der Punkt also, der diese gewisse Abdrift einleitete, war der: Ich fragte ihn mal, ob er nun glaubte, dass er es als Favorit gegen ständig deutlich schwächere Spieler schwerer hätte, gute Ergebnisse zu erzielen, oder ob es leichter ginge?
Das Problem ist aus seiner Sicht sicher anders als aus meiner. Und es ist auch müßig, dies nun ausgerechnet an dieser Stelle in epischer Breite zu besprechen. Aber seine Argumentation ging dahin, dass alle gegen ihn sowohl bestens vorbereitet als auch voll motiviert in die Partie gingen. Dies kann bei Duellen gegen gleich gute oder sogar schwächere schon mal anders sein. Ok. Ich verstehe. Ich hielt dagegen, dass er aber, wenn es mal nicht so rund liefe, einfach ein Remis anbieten könnte und der Gegner würde ihm quasi um den Hals fallen für das vermeintliche Geschenk. Zudem meinte ich, dass sich ein Gegner, der einen Gewinnvorteil hätte, eventuell bei der Verwertung “in die Hosen machen würde” und es einfach nicht sauber zu Ende bringen würde, stattdessen der gelegentliche Patzer ihm, Robert oder dem sonstigen Favoriten “in the heat of the battle” doch noch mal hier oder da eine glückliche Wendung versprechen. Nun gut. Übereinkunft wird man schon allein wegen mangelnder Datengrundlagen nicht erzielen können.
War das nun schon “episch”?
Eine kleine Episode muss ich nun doch noch unterbringen, die aber nicht so sehr “für ihn” spricht. Wenn man so wollte, würde sie eher “für mich” sprechen? Wir spielten in München, mit der SG Lasker Steglitz. Gegen den vielfachen Deutschen Meister FC Bayern München. Robert Hübner damals an Brett 1. Bei uns war es Lucas Brunner. Ich hatte jahrelang mit Lucas trainiert, so etwa seit er mit 10 Jahren erstmals bei uns im Schachclub auftauchte, erkennbar natürlich hoch talentiert. Ich habe Lucas auf dem Weg zum Großmeister begleitet. Den Titel hat er allerdings erst 1994 erhalten. Er war zu dem Zeitpunkt der Partie also “erst” Internationaler Meister. In der Hoffnung, hier nicht Geschichtsfälschung zu betreiben, erinnere ich das so, das Internet gibt mir hier nicht ultimativ Auskunft. Wir waren genau an dem Wochenende für den Kampf in München eingeteilt, als die Mauer fiel. Wir fuhren am Freitag, dem 10 November 1989, los und brauchten drei Mal so lange. Die Geschichte hierzu an anderer Stelle.
Wir waren erst am frühen Morgen in München und aus irgendeinem Grund (ja, der Verspätungsgrund eben?) kamen wir nicht rechtzeitig zum Turniersaal im/am Olympiastadion. Lucas Brunner war allerdings schon dort, da er aus der Schweiz angereist war. Nach meiner Erinnerung war es so, dass wir kamen, als Lucas bereits glatt auf Gewinn stand gegen Robert Hübner! Das war sensationell und Lucas war eben großartig vorbereitet in einem angenommenen Damengambit. Sollte ich nun behaupten (wollen), dass wir das gemeinsam analysiert hatten? Nicht exakt diese Variante, aber Lucas meinte immer: “Das angenommene Damengambit ist gut spielbar.” Ich war gezwungen, mich seiner Auffassung anzuschließen, da er eben immer eine Antwort wusste oder fand, auch in den Analysen.
Robert verlor tatsächlich in der Saison genau eine Partie. Ob es diese war und die komplette Erinnerung so aufging? Dann hätte die Partie ja sogar exakt am 11.11.1989 stattgefunden? Findet das jemand heraus? Es wären schon ein paar Zufälle (zu viel?).
Kampf ging an den FC Bayern, mit 6:2, Meister wurde der FC Bayern, die SG Lasker Steglitz stieg ab.

Gerade in allerjüngster Zeit hatte ich noch einmal indirekt Kontakt zu Robert. In unserem Schachklub, dem aus Zehlendorf, ist seit einiger Zeit ein neues Mitglied regelmäßig Besucher. Sein Name: Jens Petersen. Er kommt mit seinem Sohn, der nun auch sehr schachinteressiert ist – Clemens – und ich treffe und unterhalte mich mit beiden sehr gerne und sehr regelmäßig und wir tauschen uns auch per SMS aus (altmodisch, aber das passt schon). Jens ist hoch gebildet und Jurist und in hohen Ehren stehend und natürlich sehr sympathisch und insbesondere schachhistorisch sehr interessiert. Nun geht es aber nicht um ihn, sondern um Robert Hübner. Eines Tages also erzählte mir Jens, dass er regelmäßig mit Robert telefonieren würde, mindestens einmal wöchentlich. Und dass sich die Gespräche sehr lange hinziehen würden. Heißt also: Er hatte hier vielleicht wirklich einen echten Freund gefunden? Ich erinnere mich nicht genau, wie Jens diese Bekanntschaft aufgebaut hat, aber wundern tut mich kein bisschen, dass Robert zu ihm Vertrauen geschöpft hat.
So erzählte mir aber Jens, dass sie einige Male auch über mich gesprochen hätten und ich meine, wir hätten uns auch mindestens einmal gegenseitige Grüße und Respektsbekundungen übermittelt, eben indirekt über Jens. Da wurden sogar quasi zu dritt bestimmte Themen diskutiert. Natürlich kannte ich Robert nicht nur als meinungsstark, sondern auch als meinungssicher. Er wusste, was er sagte und wenn er was sagte, dann war es “zu Ende gedacht”. Falls man eine abweichende Auffassung hatte: möglich, dass der kleine Makel in der eigenen lag?
So hatte ich zumindest im letzten Jahr (2024) sogar fast bis zum Jahresende hin noch “Kontakt” oder von ihm gehört. Von einer “schweren Krankheit” war mir nichts bekannt. Aber, so wie ich Robert kannte, als reinen Asketen nämlich, hätte ich eigentlich gedacht, dass er 100 Jahre alt wird. Und das dachte ich wirklich genau so.

Die Einleitung fällt nicht schwer, sie ist Unsinn, sorry. Der Bezug zwischen Menschlichkeit und akademischem Titel funktioniert einfach nicht. Ein Titel bringt einen offiziellen Charakter mit sich und schafft dadurch Distanz.
Sonst kann ich keine Kommentare zu dem Artikel abliefern. Er ist so voller persönlicher Eindrücke, dass er offensichtlich in erster Linie für die Freunde von Dirk Paulsen geschrieben wurde, zu denen ich mich bedauerlicherweise nicht zählen kann …
Lg Joschi (übrigens auch Dr. phil.)
Falls ich mal gebeten werde aufzuzeigen, warum “gut gemeint” was ganz anderes ist als “gut gemacht”, und oft genug das Gegenteil, dann werde ich auf diesen Text verweisen.
Wenn ich den Text richtig verstehe, dann also: Herzlichen Glüchwunsch, lieber Dirk!
Ich würde ja vermuten, dass Robert Hübner nicht mit Solingen, sondern mit dem Hamburger SK (bei dem er zwei Jahre gespielt hat) Reisepartner von Lasker Steglitz war…