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Wolfgang Unzicker (1925-2006)

„Ein Vorbild auch im Leben“ – Helmut Pfleger würdigt Wolfgang Unzicker zum 100. Geburtstag

Quelle: Helmut Pfleger, DIE ZEIT, anlässlich des Gedenkens am 21. Mai 2025 bei der Deutschen Meisterschaft in München

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Unzicker (1925–2006) hat der Schachgroßmeister und Arzt Helmut Pfleger in der ZEIT eine sehr persönliche Würdigung veröffentlicht. Sie zeigt einen Menschen, der das Schachspiel auf höchstem Niveau beherrschte – und dennoch stets bewusst Amateur blieb.

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Die Gedenkveranstaltung bei der Deutschen Meisterschaft in München erinnerte auch an den Tag seiner Beisetzung auf dem Münchner Westfriedhof, als der Pfarrer mit Thomas Manns berühmten Worten anstimmte: „München leuchtet!“ Schon damals war klar, dass es sich um mehr als einen herausragenden Schachspieler handelte. Der Ort der Trauerfeier – die Allerheiligen-Hofkirche der Residenz – unterstrich die hohe gesellschaftliche Anerkennung, die Unzicker zeitlebens zuteil wurde.

Lothar Schmid, Freund, Verleger und ebenfalls Großmeister, blickte auf 60 Jahre gemeinsamen Weges zurück. Der frühere Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichts, Johann Wittmann, hob Unzicker als untadeligen Richter hervor – fair, geradlinig, bescheiden, ein „Paterfamilias, kein Patriarch“. In seinem Wesen und seinem Schachstil sei er eine Einheit gewesen, ganz im Sinne des Schriftstellers Julien Green.

Pfleger selbst beschreibt Unzicker als das Rückgrat des bundesdeutschen Schachs über fast drei Jahrzehnte. Trotz seiner zahlreichen internationalen Erfolge – darunter Siege über gleich vier Weltmeister: Botwinnik, Tal, Smyslow und Fischer – blieb Unzicker beruflich Richter. Vollprofi zu werden, kam für ihn nie in Frage, obwohl sein Talent es hergegeben hätte. Dass er dennoch die internationale Elite regelmäßig herausforderte und besiegte, sei heute kaum mehr vorstellbar.

Pfleger erinnert sich auch an die eigenen Erlebnisse mit Unzicker: 1963 und 1965 teilten sie sich den Titel des Deutschen Meisters – einmal mit, einmal gegen einander im Stichkampf. Besonders hervor hebt Pfleger Unzickers phänomenales Gedächtnis, das sich nicht nur auf Schacheröffnungen, sondern auch auf Gesetzestexte und historische Zusammenhänge (etwa Bismarck) erstreckte.

Zum Schluss stellt Pfleger eine fast melancholische Frage: „Wie weit hätte er es wohl gebracht, wenn er die Paragrafen zugunsten der Nimzo-Indischen Verteidigung etwas vernachlässigt hätte?“ Die Antwort gibt Unzicker selbst – indem er nie auch nur darüber nachdachte.


Die Monografie

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Unzickers wohl berühmteste (und hochinstruktive) Niederlage

Ein Leben für Schach und Rechtsstaat
Quelle: Zenón Franco Ocampos, „Wolfgang Unzicker“, ABC Color (8. Mai 2006)

Als Wolfgang Unzicker 1951 nach Ljubljana reiste, um für die Bundesrepublik am Spitzenbrett gegen Jugoslawien zu spielen, rief er beim örtlichen Schachclub an. Als er sich meldete und „U…“ buchstabieren wollte, unterbrach ihn der Mann am anderen Ende: „U wie Unzicker?“ – „Ja. Ich bin Unzicker!“ Diese Anekdote zeigt: Sein Name war bereits ein Begriff in der Schachwelt.

Unzicker war der bedeutendste deutsche Schachspieler der Nachkriegszeit. Siebenmal wurde er deutscher Meister, 386 Mannschaftspartien absolvierte er für die Nationalmannschaft, davon zehnmal am ersten Brett bei Schacholympiaden. In einer Zeit, in der viele Profis wurden, blieb Unzicker Amateur – aus Überzeugung. Anatoli Karpow nannte ihn deshalb den „Weltmeister der Amateure“. Beruflich arbeitete er als Verwaltungsrichter in München. Doch die Leidenschaft fürs Schach ließ ihn nie los: Bis ins hohe Alter spielte er für den Münchner Verein Tarrasch in der Bundesliga.

Seine Erfolge konnten sich sehen lassen: Goldmedaille als bester Spieler am Spitzenbrett bei der Olympiade 1950 in Dubrovnik (9 Siege, 4 Remis, 1 Niederlage, punktgleich mit Miguel Najdorf), Turniersieg gemeinsam mit Spasski 1965 in Sotschi – eine Rarität für Nicht-Sowjets –, Siege über große Namen wie Fischer, Botwinnik, Tal, Smyslow, Keres, Korchnoi oder Reshevsky. Seine Stärke war die taktische Schlagkraft: „Ich bin mehr Kämpfer als Stratege“, sagte er selbst.

Sein Lebensweg begann 1925 in Pirmasens. Schach lernte er mit zehn Jahren vom Vater, einem Gymnasiallehrer. Ein Schlüsselmoment: die Olympiade 1936 in München, wo ihn eine Kombination von Kurt Richter fesselte. Fortan galt das Buch „Die Kombination im Schach“ als seine Bibel.

Auch sprachlich war Unzicker brillant. Er sprach fließend Russisch mit baltischem Akzent, lebte sogar einige Monate in Moskau. Bei einem Historikerkongress rezitierte er ein Gedicht von Lermontow, diskutierte über Musik, Geschichte und Sprachnuancen mit dem russischen Historiker Dmitry Gorodin – zwei Jahre später setzte er genau dieses Gespräch fort.

Alexander Baburin, irisch-russischer Großmeister, schilderte, wie Unzicker ihn in der Bundesliga ansprach – auf Russisch, freundlich, interessiert. „Ich war beeindruckt, wie zugewandt er war.“

Auch Gregor Piatigorsky, der berühmte Cellist, schrieb über ihn im Turnierbuch von Santa Monica 1966: „Er war die Quintessenz von Ordnung – gut aussehend, glatt rasiert, tadellos gekleidet. Doch hinter der Disziplin lag Wärme und Geist. Ich hätte mir gewünscht, dass jeder ihn hören könnte.“

Unzicker starb 2006 im Urlaub in Portugal – als anerkannter Großmeister, Richter, Sprachkenner, Taktiker, Gentleman. Und als einer der letzten großen Amateure im Spitzenschach.

Der Bauer, der nicht hätte ziehen müssen
Quelle: André Schulz, ChessBase, 26.06.2025

Es war der 7. Juli 1960 in Buenos Aires, als Wolfgang Unzicker dem jungen Bobby Fischer gegenübersaß. Im 12. Zug griff Fischer zu seinem h-Bauern – dann hielt er inne. Der Weltstar in spe zögerte nicht lange: Er zog den Bauern trotzdem, obwohl es ein Fehler war – und verlor die Partie. Unzicker erinnerte sich später: „Ich hätte niemals protestiert, wenn er eine andere Figur gezogen hätte. Aber er bestand auf den Regeln. Dieser Punkt hat mir nie Freude bereitet.“

Diese Szene steht sinnbildlich für beide: Für Fischers kompromisslose Fairness – und für Unzickers feinen Blick für das Menschliche, sein Empfinden für Anstand und Ehre, auch jenseits des Brettes.

Wolfgang Unzicker, geboren am 26. Juni 1925 in Pirmasens, war das größte deutsche Schachtalent seiner Generation. Sein Vater, ein Gymnasiallehrer in München, brachte ihm früh das Schachspiel bei. Mit 14 fiel Unzicker erstmals auf – bei einem Förderlehrgang neben späteren Größen wie Klaus Junge und Edith Keller-Herrmann. Dann kam der Krieg, sein Bruder Gerhard fiel 1945, Unzicker selbst blieb verschont.

Nach 1945 war er sofort wieder da: Stadtmeister in München, Turniersieger in Augsburg, Fünfter bei der ersten deutschen Meisterschaft. 1948 wurde er Deutscher Meister und gewann sein erstes Auslandsturnier in Luzern. Als 25-Jähriger erzielte er bei der Schacholympiade 1950 das beste Ergebnis am Spitzenbrett – gleichauf mit Najdorf.

Er qualifizierte sich für Interzonenturniere, schlug Botwinnik bei der Europameisterschaft 1961, gehörte zur Weltklasse – und blieb dennoch Amateur. Unzicker entschied sich für einen Beruf als Jurist, wurde Richter und spielte nebenbei weiter Schach. 1968, als die FIDE die Elo-Zahlen einführte, stand er auf Rang zehn der Welt. Noch 1979 brillierte er in Johannesburg mit einer Turnierleistung von 2724.

Insgesamt trat Unzicker 386 Mal für die deutsche Nationalmannschaft an – ein bis heute ungebrochener Rekord. In der Bundesliga spielte er bis 1999. Seine Karriere war lang, erfolgreich – und geprägt von Haltung. Unzicker war kein Schacharbeiter. Er war ein Gentleman.

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Auch abseits des Brettes blieb er präsent: Als aktives Mitglied der Lasker-Gesellschaft, als Gast bei Turnieren, als kluger, witziger Gesprächspartner. Zu seinem 80. Geburtstag ehrten ihn die Chesstigers mit einem Gala-Turnier gegen Karpow, Kortschnoi und Spassky. Ein Jahr später starb er bei einer Reise nach Portugal.

Wolfgang Unzicker besiegt Weltmeister Botwinnik – Oberhausen 1961
Quelle: ChessBase – „Außenseitersiege: W. Unzicker vs M. Botvinnik, Oberhausen 1961“, Johannes Fischer

Johannes Fischer erinnert an Wolfgang Unzickers historischen Sieg über Mikhail Botvinnik bei der Mannschaftseuropameisterschaft 1961 in Oberhausen – den ersten deutschen Erfolg gegen einen amtierenden Weltmeister nach dem Zweiten Weltkrieg.

Unzicker (1925–2006), Jurist und leidenschaftlicher Amateur, galt in den 1950er- und 60er-Jahren als klare Nummer eins der Bundesrepublik und zählte zu den besten 20 Spielern der Welt. In Oberhausen traf er auf Botvinnik, der kurz zuvor seinen WM-Titel gegen Tal zurückgewonnen hatte. Trotzdem gelang Unzicker ein strategisch überzeugender Sieg aus der Eröffnung heraus – ein Meilenstein des westdeutschen Schachs.

Der oft zitierte Mythos, Botvinnik habe nach dieser Partie die Französische Verteidigung aufgegeben, wird von Fischer widerlegt: Schon wenige Monate später spielte der Weltmeister sie erneut erfolgreich in Hastings.

Für die Gesamtwertung änderte der Überraschungserfolg wenig: Die Sowjetunion gewann souverän mit 74,5 Brettpunkten, während Deutschland nur den neunten Platz belegte. Unzicker holte an Brett 1 dennoch 6 aus 9 und war damit zweitbester Spieler hinter Botvinnik selbst.

Von ihren sechs Begegnungen gewann Botvinnik zwei, drei endeten remis – und nur eine, in Oberhausen 1961, gewann Unzicker. Sie blieb sein berühmtester Triumph.

Wolfgang Unzicker: Amateur an der Weltspitze, Richter auf Lebenszeit

Der KARL-Text zeichnet Wolfgang Unzicker als „Wandler zwischen den Welten“: einen Juristen, der nie Profi wurde und doch ein Vierteljahrhundert Führungsspieler und Aushängeschild des westdeutschen Schachs war. Mit eiserner Disziplin verband er Beruf, Familie und Leistungssport; noch mit 80 lieferte der „Grandseigneur“ bei den Mainzer Chess Classic 2005 gegen Karpow eine starke Schnellpartie ab (Remis aus besserer Stellung) – sein letztes großes öffentliches Auftreten neben Spasski und Kortschnoi.

Biografisch spannt das Porträt den Bogen von Pirmasens (1925) über die Kindheit in München-Obermenzing und einen strengen Lehrer-Vater (Eugen) bis zur Schach-Entdeckung 1935. Schach wird Unzickers Freiraum gegen Autorität: Er saugt Meisterpartien und Tarraschs Lehre auf, gewinnt rasch an Stärke (Wettkämpfe mit Bruder Gerhard), zeigt phänomenales Gedächtnis und schlägt 1939 beim Sichtungsturnier in Fürstenwalde den großen Klaus Junge in der ersten Runde (bei vorgeschriebener Spanisch-Eröffnung). 1941 verliert der 16-Jährige ein Turmendspiel im Simultan gegen Aljechin – frühe Berührung mit der Weltelite.

Die Kriegsjahre bremsen die Karriere. Der sozialdemokratisch geprägte Vater verabscheut den NS; Wolfgang erleidet eine Herzschwäche, wird 1944 ausgemustert und lebt fortan asketisch (kein Rauchen, kaum Alkohol, viel Bewegung). 1945 fällt Bruder Gerhard – ein lebenslanger Schmerz. Nach 1945 baut Unzicker die Brücke von der Ära Tarrasch/Aljechin in die von Computern geprägte Moderne: Ein Amateur, der Weltklasse erreicht, und eine Identifikationsfigur, die zeigt, dass Schach für ihn mehr war als Sport – ein Raum der Autonomie, Bildung und Charakterbildung.

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