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Schach: Wahnsinn mit Methode

Capablanca wusste, dass er nichts wusste. Steinitz hielt sich für besser als Gott. "Es wäre interessant zu sehen, wohin ein gemeinsamer Abend von Capablanca und Steinitz führen könnte. Leider sind beide derzeit tot", schreibt der Autor Thomas Glavinic im Deutschlandfunk. "Wahnsinn mit Methode - Versuch über einen unfassbaren Sport" heißt sein Essay, in er dem zu ergründen versucht, was Schach ist. Sport? Kunst? Wissenschaft? Nichts von alledem, meint Glavinic:„Schach ist Schach. Es ist ein Organismus. Es ist das Einzige seiner Art.“

Wahnsinn mit Methode, ein unfassbarer Sport

Schach spielt in manchem Werk Glavinics eine Rolle, unter anderem in "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden", das den Leser das Match Lasker-Schlechter 1910 nacherleben lässt:

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Amazon-Buchtext von Marius Fränzel:

Es gibt in der Welt der Schachspieler die Gruppe der Ewigen Kronprinzen, jener Schachspieler, die wenigstens einmal die Chance gehabt haben, den Weltmeistertitel zu erringen, denen es aber nie gelungen ist. Viele von Ihnen galten und gelten als zumindest ebenso starke Spieler wie die Weltmeister, die sie herausgefordert haben. Einige von Ihnen haben mit ihrem Scheitern einen tragischen Ruhm erworben, der an Bedeutung sicher dem des jeweiligen Weltmeisters gleichkommt. Einer von diesen tragischen Kronprinzen, vielleicht der tragischste überhaupt war Karl Schlechter. Er war das größte Talent der sogenannten Wiener Schachschule und spielte im Jahr 1910 sein denkwürdiges Match um den Titel des Schachweltmeisters gegen Emanuel Lasker. Lasker war nach Wilhelm Steinitz, der sich seit einem Wettkampf gegen Adolph Anderssen 1866 offiziell und weitgehend unwidersprochen Schach-Weltmeister nannte, erst der zweite Träger dieses Titels, nachdem er Steinitz 1894 in einem Match besiegen konnte. Damals war der Weltmeistertitel beinahe so etwas wie ein Privatbesitz (ähnliche Verhältnisse gibt es heute auch wieder), das heißt, daß der Weltmeister entschied, gegen wen und unter welchen Bedingungen er den Titel verteidigte. Lasker galt dabei als ein Muster an Vorsicht: Ihm wurde oft vorgeworfen, seinen Titel in den meisten Fällen nur gegen eigentlich zweitklassige Spieler verteidigt zu haben. Jedenfalls behielt Lasker seinen Weltmeistertitel 27 Jahre lang, bis er ihn, im Alter von 53 Jahren, halb freiwillig an den jungen, aufstrebenden José Raoul Capablanca verlor. Er verteidigte den Titel in dieser Zeit in sechs Wettkämpfen, von denen ihn nur ein einziger, der gegen Karl Schlechter, an den Rand einer Niederlage brachte.

Lasker war 1910 immer noch auf der ganzen Höhe seiner Spielstärke: Er hatte noch im Jahr zuvor zusammen mit Rubinstein das starke St. Petersburger Turnier gewonnen. Schlechter andererseits war ohne jede Frage einer der stärksten Spieler seiner Zeit und würde im selben Jahr des Weltmeisterschaftkampfes noch das gut besetzte Hamburger Turnier gewinnen. Der Wettkampf zwischen Lasker und Schlechter war auf 10 Partien angesetzt; dem Weltmeister genügte damals wie heute ein Unentschieden im Gesamtergebnis, um seinen Titel behalten zu dürfen. Schlechter galt als überragender Verteidigungskünstler, der es seinem Gegner schwer machen würde, seinen Stil durchzusetzen. Und entsprechend war der Verlauf des Wettkampfes: Acht der zehn Partien endeten Remis; nur zwei Partei wurden entschieden. Schlechter gewann die fünfte, zugleich die letzte der in Wien gespielten Partien; Lasker die zehnte und letzte, in Berlin gespielte Partie des Wettkampfs und blieb so bei einem Endstand von 5 : 5 Weltmeister.

Es ist viel um diese letzte Partie des Wettkampfes gerätselt worden. Schlechter hatte eine bessere Position erreicht, die ohne jede Frage zum Remis, vielleicht sogar zu einem zweiten Sieg hätte reichen müssen. Aber ganz entgegen seiner sonstigen, sehr vorsichtigen Spielweise, beginnt Schlechter plötzlich riskant zu spielen und die Partie zu öffnen. Man muß Lasker zugestehen, daß er diese einzige Chance, die ihm Schlechter während des Wettkampfs geboten hat, augenblicklich genutzt hat, um die Partie zu seinen Gunsten zu entscheiden.

All dies ist der Stoff, aus dem Thomas Glavinic, selbst ein starker Schachspieler, seinen Roman gearbeitet hat. Er beschreibt die Umstände des Wettkampfes sehr detailliert und weitgehend historisch exakt und stellt dabei in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit seine Romanfigur Carl Haffner, die er mit den historischen Personen umgibt. Carl Haffner ist einerseits mit der Biographie Karl Schlechters ausgestattet, aber er ist andererseits eine erfundene Figur, die der Roman mit all ihren Gedanken, Ängstlichkeiten und Marotten erst erfindet, um sie jene Stelle des historischen Karl Schlechter vollständig ausfüllen zu lassen. Glavinic ist sich durchaus darüber im klaren, das er hier einen Drahtseilakt versucht, und es ist kein Wunder, daß die Schach-Fachpresse es nicht hat unterlassen können, die Erfindung der Figur Carl Haffner am historischen Gegenstück zu messen und das eine oder andere auszusetzen.

Das scheint mir recht unangemessen zu sein: Wenn ein Autor schon absichtlich in ein sonst bemüht exakt gezeichnetes historisches Bild eine erfundene Figur hineinstellt, so sollte man ihm dann schon das Zugeständnis machen, diese erfundene Figur mit den Wesenszügen, Charaktermerkmalen und -schwächen auszustatten, die der Autor für seine Geschichte benötigt. Der Roman ist schlicht keine Biographie und will keine sein.

Das Buch ist gut und lesbar geschrieben. Es konzentriert sich sehr auf die Empfindungen, Befürchtungen und Hoffnungen seines Titelhelden. Glavinic versteht es, auch dem nicht Schach spielenden Leser die Monomanie verständlich zu machen, die in nicht wenigen Fällen mit der absoluten Konzentration der großen Spieler auf ihr Spiel verbunden ist. Er zeigt die Vereinzelung seines Protagonisten, seine Hilflosigkeit im Alltag und den Wesenswandel, der mit ihm vorgeht, wenn er sich in sein Spiel vertieft. Er zeigt die Besessenheit Haffners, der schon als Jugendlicher Schule und Beruf vernachlässigt, einzig um seiner wirklichen Leidenschaft und seinem wahren Talent nachzugehen: dem Schachspiel. Er begleitet den Aufstieg des jungen Mannes zum größten Talent und zur Hoffnung der Wiener Schachschule, der deutschen Übermacht im Schach etwas entgegenstellen zu können. All dies erzählt Glavinic wie nebenbei, während im Zentrum des Romans jene Tage der zehn Weltmeisterschaftspartien stehen. Und Glavinic hat den nötigen Abstand zu der Sache, die er beschreibt: Mit Hilfe der Figur der jungen Journalistin Anna Feiertanz -- bei der ich neugierig wäre, ob es für sie ein historisches Vorbild im Umfeld Schlechters gegeben hat -- karikiert Glavinic das "äußerst bedeutende" Treiben der Schachmeister und ihres Anhangs. Sie behält den Blick von Außen auf das Geschehen und begleitet es hier und da mit ihren ironischen und spöttischen Kommentaren.

Auch Thomas Glavinic löst letztendlich das Rätsel um die zehnte Partie nicht, denn schließlich ist es bei ihm Carl Haffner, der diesen Wettkampf spielt und verliert. Aber Glavinic macht klar, welche Spannungen und Widersprüche dabei vielleicht im Spiel gewesen sein könnten. Ein gelungenes und gut lesbares psychologisches Gedankenexperiment, das nicht nur für Schachspieler von Interesse sein dürfte. --Marius Fränzel