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Paul Werner Wagners DDR-Gespräche

„Nie werde ich den Heiligabend 1967 vergessen.“ Da sitzt der 19-jährige Paul Werner Wagner in einer fensterlosen Zelle des Hallenser Stasi-Gefängnisses „Roter Ochse“. Ein Schachbrett – irgendwann doch ausgehändigt – wird seine Rettung: Er spielt erst gegen einen Mitgefangenen, später gegen sich selbst. Sechs Jahrzehnte später, bei einer Lesung im Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, beschreibt Wagner, wie das Spiel ihn festhielt, als die DDR ihn festsetzte.

Wagner ist Mitgründer der Lasker-Gesellschaft. Seit 20 Jahren schreibt er für die Berliner Zeitung seine Schachkolumne. Dieser Abend dient der Vorstellung seines Buchs Vom Morgenrot zum Abendlicht. Darin versammelt der Literaturwissenschaftler dreizehn Gespräche mit Zeitzeugen, die einst Hoffnungen in den jungen Arbeiter- und Bauernstaat setzten – und später dessen Brüche erlebten. Zu Wort kommen unter anderem Wolfgang Leonhard, der den Herbst 1945 als „Frühling von Berlin“ schildert, der Kommunismus-Forscher Hermann Weber, der die frühe SED-Parteischule fast als intellektuellen Freiraum anlegt, und der Journalist Gustav Just, 1957 im Harich-Janka-Prozess aus dem Zeugenstand verhaftet.

Wagners Präsentation ist Programmatik: Er sitzt allein auf der Bühne, liest nur wenig, erzählt kaum – und gibt einer komplexen Vergangenheit Raum. Sein politisches Anliegen: Erinnerung ohne Verklärung, aber auch ohne das finale Verdikt „Unrechtsstaat“. In der Diskussion fällt der Satz von der „Suche nach dem verlorenen Land DDR“. Warum suchen, fragt Wagner, wenn zwei Etiketten – „zweite Diktatur“ und „Unrechtsstaat“ – doch vermeintlich alles entschieden haben? Seine Antwort: Politisches Erinnern dürfe nicht im schnellen Schachmatt enden. Die DDR sei keine Gleichung, die man mit einem einzigen Zug löse; sie bleibe ein Geflecht aus Hoffnungen, Fehlentscheidungen und biografischen Brüchen.

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Diese Haltung wurzelt in Wagners eigener Biografie. Sein Vater, einst erfolgreicher Bauunternehmer in Wolfen, wurde gezwungen, seinen Betrieb in eine sozialistische Produktionsgenossenschaft zu überführen. Die Familie plante die Flucht, kam zu spät, Wagner selbst scheiterte 1967 an der slowakisch-österreichischen Grenze, wurde ausgeliefert, kam in Einzelhaft. Trotzdem, sagt er, sei er „nie zum DDR-Hasser geworden“. Hass bedeute, die Logik des Gegners zu übernehmen.

Nach der Haft durfte Wagner nicht studieren, arbeitete in der Filmfabrik Wolfen, wurde später Kulturmanager, Moderator und schließlich Schachkolumnist der Berliner Zeitung. Mehr als 2000 öffentliche Gespräche hat er geführt: mit Dissidenten, Künstlern, Politikern. Er nennt das „kulturelles Gedächtnis Ost“ – ein Gegengewicht zur offiziellen Geschichtspolitik, deren Ton oft Urteil sei, nicht Frage.

Politisch hat seine Arbeit ihren Ort bewusst im Karl-Liebknecht-Haus, der Bundeszentrale der Linkspartei. Doch Wagner ist kein Nostalgiker. Er zitiert Wolfgang Harich, den sperrigsten Dissidenten der DDR, ebenso wie Parteifunktionäre. Sein Kriterium ist die Ambivalenz: Morgenrot und Abendlicht. Er wolle zeigen, sagt Wagner, „dass Aufbruch und Scheitern, Ideal und Kontrolle, Freiheitswille und Gefängnismauer manchmal nur wenige Jahre auseinander­lagen“.

Die Reaktion des Publikums macht klar, wie groß das Bedürfnis nach differenzierter Erinnerung geblieben ist: „Sie gehören ins Guinness-Buch der Rekorde!“, ruft eine Zuhörerin – nicht für die Zahl der geführten Interviews, sondern dafür, dass Wagner so vielen Biografien Raum gebe, ohne selbst im Rampenlicht zu stehen.

Sein Buch ist damit auch eine politische Intervention: gegen die Verengung der DDR-Geschichte auf zwei Schlagworte, für eine Erzählung, die Brüche zulässt. Schach half ihm einst, in Einzelhaft die eigenen Züge zu finden. Heute nutzt er dieselbe Geduld, um Gesprächsräume zu öffnen – mit dem Ziel, dass ein gesellschaftlicher Dialog nicht im ersten Zug entschieden ist.

Quelle: Berliner Zeitung, 15. 06. 2025, Reportage von Kerstin Decker.


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Paul Werner Wagner hat seit den neunziger Jahren viele Künstler und Kulturschaffen der DDR zumeist im Literaturforum im Berliner Brecht-Haus interviewt. Viele der von ihm intensiv Befragten sind inzwischen nicht mehr. Aber nicht nur deshalb handelt es sich um einzigartige Zeitzeugnisse. Die unwiederholbaren Ausführungen zeigen das Innenleben eines untergegangenen Landes und seiner Kultur und erklären den Nachgeborenen jenseits der heute verbreiteten Narrative, wie man zugleich Kritiker und Sympathisant einer Gesellschaft sein konnte. Im Kontext der andauernden Ost-West-Diskussion liefert dieser Sammelband, dessen Erscheinen von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen-Anhalt unterstützt wurde, erhellende Einsichten. Wagner sprach mit Dagebliebenen und mit Weggegangenen: Hans Bentzien, Benno Besson, Jürgen Böttcher (alias Strawalde). Frank Hörnigk, Gustav Just, Manfred Karge, Wolfgang Leonhard, Peter Ruben, Kurt Sanderling, Wieland Förster, Kurt Schwaen, Hermann Weber und Gerhard Wolf.

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