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Miguel Najdorf

Miguel Najdorf: Der Mann, der zweimal geboren wurde

„Ich wurde zweimal geboren, ohne zu sterben – einmal wie alle, mit null Jahren, das zweite Mal mit 29“, sagte Miguel Najdorf. Jener zweite Geburtstag war der 21. August 1939. Der Tag, an dem er in Buenos Aires ankam, für eine Schacholympiade – und dann blieb.

Verhoeff, Bert / Anefo

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Der Anfang: Von Polen nach Argentinien

Najdorf wurde am 15. April 1910 in Grodzisk Mazowiecki geboren. In Polen entwickelte er sich unter der Anleitung von Savielly Tartakower zum Spitzenspieler. Als Kapitän der polnischen Nationalmannschaft nahm er 1939 an der Schacholympiade in Buenos Aires teil, verzichtete dort aber auf das erste Brett zugunsten seines Mentors. Eine Entscheidung mit Folgen. Denn als am 1. September 1939, während eines Matches gegen Deutschland, die Nachricht kam, dass die Nazis in Polen einmarschiert waren, war klar: Er würde nicht zurückkehren.

Najdorf blieb in Argentinien – und begann dort ein neues Leben. Ein Leben, das geprägt war von Schmerz, Verlust und glänzendem Schach.

Die große Tragödie

Seine Frau Genia und Tochter Lusha hatten die Reise nach Buenos Aires nicht mitgemacht. Genia war krank gewesen, blieb mit der kleinen Tochter in Warschau. Najdorf versuchte verzweifelt, sie nachzuholen. Er schrieb Briefe, sprach mit dem argentinischen Präsidenten Ortiz, wandte sich an den polnischen Botschafter. Vergebens.

Genia schickte ihm die Adresse eines Mannes in Rosario, der angeblich helfen konnte. Najdorf reiste dorthin, fand nur ein Bordell vor. Der angebliche Helfer war ein Menschenhändler. Die Hoffnung wurde zum Schock.

Später versuchte Najdorf, über die Rote Kreuz Hilfspakete zu schicken. Er sammelte Geld, obwohl er selbst mittellos war, schickte Lebensmittel, Hygieneartikel, Briefe. Genia antwortete, schrieb von Mangel und Angst. Und dann hörte er nichts mehr.

Najdorf sprach später selten darüber. Doch aus seinem Handeln sprach der Schmerz. „Ich habe viele simultane Blindpartien gegeben. Ich wollte, dass die Welt mich sieht, in der Hoffnung, dass meine Familie sieht, dass ich lebe.“

Die zweite Geburt: Najdorf in Argentinien

Er selbst bezeichnete es als seine „beste Partie“: in Argentinien zu bleiben. Schnell wurde er zur zentralen Figur des Schachs im Land. Er gewann Meisterschaften, tourte durch das Land, spielte unzählige Simultanveranstaltungen, auch für Wohltätigkeitszwecke.

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Seine Schachleidenschaft war ungebrochen. Er gewann in Mar del Plata, Rosario, Buenos Aires, La Plata – gegen Spieler wie Eliskases, Panno, Pilnik. Gleichzeitig wirkte er als Missionar des Spiels. Er schrieb eine Schachkolumne für die Zeitung Clarín, gründete Schachklubs, sprach bei Preisverleihungen, organisierte Turniere.

Und überall war er: mit Hut, Charme, Anekdoten und einer geradezu magnetischen Ausstrahlung. In Argentinien wurde er ein Volksheld.

Der Stil: Wie er spielte – und wie er war

Najdorfs Schach war wie sein Charakter: ungestüm, brillant, emotional. „Er spielte wie er sprach – laut, schnell, mit Leidenschaft“, sagte ein Zeitgenosse. Seine Partien sprühten vor Energie. Seine Eröffnungen waren kreativ. Die nach ihm benannte Najdorf-Variante der Sizilianischen Verteidigung ist bis heute eine der dynamischsten Waffen im Spitzenschach.

Er selbst sagte: „Ich spiele, um schöne Partien zu schaffen. Der Sieg interessiert mich – aber mehr interessiert mich die Schönheit.“

In einer seiner berühmtesten Partien (gegen Lilienthal 1950 in Budapest) opferte er Figuren, öffnete Linien, spielte voller Mut – und gewann. Auch sein Beitrag zur Theorie war bedeutend. Er erfand nicht nur Varianten, er verbreitete sie. Er lehrte die Spieler, dass Angriff eine Haltung ist.

Die Persönlichkeit: Schach und Theater

„Wenn Najdorf den Raum betrat, war er der Raum“, sagte Bruce Pandolfini. Najdorf war ein Entertainer. Er erzählte Geschichten, gab Interviews, war Mittelpunkt jeder Analysegruppe. Beim Match UdSSR gegen den Rest der Welt (Belgrad 1970) überraschte er Boris Spassky nach einer Analyse mit einem spontanen Kuss auf die Stirn. Spassky hatte eine Gewinnidee in Najdorfs Partie entdeckt. „Das war keine Analyse – das war eine Umarmung!“, sagte Najdorf später lachend.

Aber Najdorf konnte auch streng sein. In Haifa 1976 bot der junge Werner Hug früh Remis an. Najdorf wütete: „Du wirst nie Großmeister, wenn du so spielst!“ Am Ende wurde es Remis – nach 88 Zügen. Hug wurde tatsächlich nie Großmeister.

Blindpartien und Rekorde

Najdorf war nicht nur Theoretiker und Showman – er war auch Rekordhalter. 1943 spielte er in Rosario gegen 40 Gegner gleichzeitig blind – und gewann 36 Partien. Später erweiterte er diesen Rekord noch.

Warum er das tat? „Ich wollte, dass man in Europa hört: Ich bin hier, ich lebe noch.“ Ein stiller, verzweifelter Ruf – über das Brett hinaus.

Leben für das Schach

Miguel Najdorf war nie nur Spieler. Er war Lehrer, Botschafter, Kolumnist, Vorbild. Viele große Spieler verehrten ihn. Bobby Fischer sagte einmal: „Najdorf war ein Schach-Feuerwerk.“ Garry Kasparov bezeichnete ihn als „einen der letzten romantischen Kämpfer.“

In seinen Kolumnen schrieb er über Politik, Philosophie, Menschen. Über sich selbst sagte er: „Ich habe keine Medaillen gebraucht. Ich habe Emotionen gebraucht. Wenn mir eine Partie keine Emotionen gibt, ist sie mir egal.“

Selbst im hohen Alter spielte er noch. 1982, im Alter von 72 Jahren, trat er beim stark besetzten Turnier in Bugojno an. Er verlor keine Partie.

Rückblick, Verlust und Würde

Najdorf verlor nie den Humor. Auch nicht die Trauer. Über seine Familie sprach er selten. Doch manchmal, bei Simultanveranstaltungen oder nach Turnieren, erwähnte er sie. „Sie waren mein erstes Leben“, sagte er einmal leise.

1997 starb er in Málaga, Spanien. In Argentinien trauerte die Schachgemeinschaft. In Polen wurde seiner gedacht. In der ganzen Welt erinnerten sich Spieler an ihn – nicht nur als Meister, sondern als Mensch.

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Nachklang

Richard Guerrero, der Autor der biografischen Quelle, auf der dieser Text beruht, schreibt über Najdorf mit Zuneigung, Staunen und Respekt. Er rekonstruiert sein Leben nicht nur anhand von Turnierdaten, sondern durch Geschichten, Zitate, Bilder – wie dieses:

„Najdorf, das war mehr als Schach. Das war ein Mensch, der in der dunkelsten Stunde seiner Geschichte das Licht suchte – und es fand. Am Brett.“


„La mejor jugada de toda mi vida.“ – Miguel Najdorf über seine Entscheidung, in Argentinien zu bleiben.
„Er war das Schach – lebendig, brillant, witzig, traurig, mutig.“ – Bruce Pandolfini„Ich habe meine Familie nie wieder gesehen. Aber ich habe ihnen jeden Tag Schach gewidmet.“ – Miguel Najdorf

Quelle:

https://www.tabladeflandes.com/pdf_global/CLASE_4_Miguel_Najdorf_por_Richard_Guerrero_21_marzo_2013.pdf

Amazon-Klappentext:

I was lucky enough to play against six world champions and several top players in my modest chess career, but the greatest player I feel privileged to have known, to have spent time with him, was Miguel Najdorf, “El Viejo”.

This is a chess book, with 275 commented games, it covers all his chess career, but it has also many stories. Najdorf was the most important Argentinean chess player, and he was an exceptional person. Oscar Panno said that Najdorf reminded him of Don Quixote, in the part of the book where he tells Sancho Panza, “Wherever I am, that is where the head of the table is going to be”. He successfully overcame the most terrible setbacks, as few are capable of doing. Writing about Miguel Najdorf is one of my greatest pleasures as a chess journalist and writer!

Zenon Franco Ocampos, April 2021.

Pressestimmen

In his book, the author has covered the entirety of Najdorf's career, carefully annotating no fewer than 275 games and game fragments, leaving us with an absolutely massive volume; 720 pages, which have been beautifully produced by Thinkers Publishing on quality shiny paper and nicely bound. For anyone interested in chess history, the book is a stunning accomplishment and an absolute pleasure to read, especially for those who enjoy biographies with great games and fascinating stories. Truly a must-buy. I will certainly return to it again and again. Highly recommended. FM Carsten Hansen - American Chess Magazine 25/2022

Über den Autor und weitere Mitwirkende

Zenon Franco Ocampos was born in Asuncion, Paraguay, May 12, 1956. From there he moved to Buenos Aires until 1990. Since 1990 he has lived in Spain. Zenon authored 28 chess books which have been published in six languages. In addition to his books, he has served as a chess columnist for the Paraguayan newspapers ‘Hoy’ and ‘ABC Color’ for 17 years. He has written a chess column for magazines from Argentina, Italy, and Spain. Zenon is most respected Grandmaster and FIDE Senior Trainer. He has participated in 11 chess Olympiads and will now captain the Paraguay team during the Moscow Olympiad 2021. His greatest achievements winning gold medals at the Olympiads of Luzern, 1982 and Novi Sad, 1990. His most successful students were GM F.Vallejo Pons and IM David Martinez Martin, Spanish editor of Chess24.com.

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