Grigory Levenfish
Zitat von Conrad Schormann am 19. März 2025, 9:43 UhrGrigory Levenfish – Der vergessene Großmeister der Sowjetunion
Grigory Levenfish war einer der stärksten Schachspieler seiner Zeit, doch er blieb zeitlebens ein Außenseiter, ein "Soviet Outcast". Trotz zweier sowjetischer Meistertitel und eines unentschiedenen Wettkampfs gegen den späteren Weltmeister Mikhail Botvinnik wurde er von der sowjetischen Schachführung systematisch ignoriert. Er war ein Mann, der gegen politische Widerstände ankämpfte und für seine Überzeugungen stand. Sein Vermächtnis ist nicht nur seine Turnierleistung, sondern auch seine bedeutende Arbeit als Schachtheoretiker.
Frühe Jahre: Ein aufstrebendes Talent
Grigory Yakovlevich Levenfish wurde am 19. März 1889 in Piotrków (heutiges Polen) geboren, damals Teil des Russischen Kaiserreichs. Er wuchs in Lublin auf und lernte Schach von seinem Vater. Begeistert wurde er vom Spiel, als der legendäre Mikhail Chigorin, einer der Begründer der russischen Schachschule, in Lublin Simultanveranstaltungen gab.
Nach dem Abitur zog Levenfish nach Sankt Petersburg, um Chemie zu studieren. Dort schloss er sich dem Schachzirkel des Technologischen Instituts an, wo auch der Vater von Vasily Smyslov spielte. Sein Talent zeigte sich schnell, und er gewann 1909 die Stadtmeisterschaft von St. Petersburg. Dies brachte ihm eine Einladung zum Carlsbad-Turnier 1911 ein, wo er sich mit der Weltelite maß. Er belegte einen Mittelfeldplatz, doch seine Leistung wurde als vielversprechend angesehen.
Doch es sollte sein einziger internationaler Auftritt bleiben – die politische Entwicklung in Russland und später in der Sowjetunion machte Reisen für ihn unmöglich.
Der Meisterspieler in der Sowjetunion
Nach der Oktoberrevolution 1917 geriet Levenfish in den Strudel der politischen Umwälzungen. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er als Chemiker in einer Fabrik für Schutzgasproduktion. In dieser Zeit erlitt er zwei persönliche Schicksalsschläge: Seine Frau und seine kleine Tochter starben. In seinen eigenen Worten: „Es war nicht möglich, in diesen Jahren an Schach zu denken.“
Trotz dieser tragischen Ereignisse kehrte er zum Schach zurück. In den 1920er Jahren gehörte er zur absoluten Spitze der Sowjetunion. Er gewann dreimal die Leningrader Meisterschaft (1922, 1924, 1925) und belegte mehrfach Podiumsplätze bei den UdSSR-Meisterschaften.
Die goldenen Jahre und das Drama um Botvinnik
Die 1930er Jahre waren die erfolgreichste Phase von Levenfishs Karriere. Er wurde zweimal sowjetischer Meister:
- 1934 (geteilt mit Ilya Rabinovich)
- 1937 (alleiniger Sieger in Tiflis)
Doch sein größter Kampf sollte erst kommen: der Wettkampf gegen Mikhail Botvinnik 1937. Da Botvinnik die UdSSR-Meisterschaften nicht mitspielte, forderte er Levenfish zu einem Titelmatch heraus. Es wurde auf sechs Siege angesetzt, Remisen wurden nicht gewertet.
Levenfish startete stark und führte 2:1, doch Botvinnik gewann drei Partien in Folge. Nach einer dramatischen Schlussphase endete das Match 6:6. Damit verteidigte Levenfish seinen Meistertitel und wurde offiziell als zweiter sowjetischer Großmeister anerkannt – nach Botvinnik.
Doch der wirkliche Bruch kam ein Jahr später: Die sowjetische Führung entschied, Botvinnik statt Levenfish zum AVRO-Turnier 1938 zu schicken – dem wichtigsten Turnier des Jahrzehnts mit allen Weltklasse-Spielern. Dies war für Levenfish ein „moralischer Knockout“, wie er später schrieb. Er wurde faktisch aus dem internationalen Schach ausgeschlossen.
Das langsame Verschwinden aus dem Spitzenschach
Nach diesem Rückschlag spielte Levenfish seltener. 1940 gewann er einen Wettkampf gegen Vladimir Alatortsev (5:2), doch in den UdSSR-Meisterschaften 1939 und 1940 konnte er nicht mehr an seine alten Erfolge anknüpfen.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde er erneut als Chemieingenieur eingesetzt. Während der Evakuierung sowjetischer Fabriken nach Kuibyschew überlebte er eine 18 km lange Wanderung bei -30 Grad, eine Strapaze, von der er sich nie ganz erholte.
Nach dem Krieg arbeitete er als Schachtrainer in Leningrad. Seine bekanntesten Schüler waren Boris Spassky und Viktor Kortschnoi. 1949, im Alter von 60 Jahren, nahm er noch einmal an der UdSSR-Meisterschaft teil – und besiegte den späteren Weltmeister Vasily Smyslov.
Doch der politische Druck blieb bestehen: Er erhielt keine Unterstützung mehr als Großmeister und lebte in Armut.
Das literarische Erbe und die Endspiel-Theorie
Levenfish war nicht nur ein starker Turnierspieler, sondern auch ein hervorragender Schachtheoretiker. Seine wichtigste Hinterlassenschaft ist das Standardwerk über Turmendspiele, das er mit Vasily Smyslov verfasste. Das Buch wurde 1957 auf Russisch veröffentlicht und später unter dem Titel „Rook Endings“ in Englisch herausgegeben – es gilt bis heute als eines der besten Werke zu diesem Thema.
Er veröffentlichte auch ein Buch über die Capablanca-Alekhine-WM 1927, sowie ein Werk über moderne Eröffnungen, das als Vorläufer der sowjetischen Eröffnungs-Enzyklopädie gilt.
Eine besondere Anekdote umgibt seine Autobiografie, die erst 1967, sechs Jahre nach seinem Tod, erschien. Er selbst beklagte, dass große Teile des Manuskripts zensiert wurden. Der Titel sagt viel über sein Schicksal aus: „Soviet Outcast“ (Der sowjetische Außenseiter).
Der vergessene Großmeister
Am 9. Februar 1961 starb Grigory Levenfish in Moskau. Sein Tod blieb weitgehend unbeachtet. Die sowjetische Schachführung hatte ihn aus ihrer Geschichte gestrichen.
Und doch sprechen seine Leistungen für sich:
- Zweifacher UdSSR-Meister (1934, 1937)
- Match-Unentschieden gegen Botvinnik (1937)
- Siege gegen Weltmeister wie Alekhine, Lasker, Smyslov und Euwe
- Pionier der Eröffnungstheorie (Levenfish-Angriff in der Drachenvariante der Sizilianischen Verteidigung)
- Klassiker der Schachliteratur („Rook Endings“)
- Schachtrainer großer Talente wie Kortschnoi und Spassky
Seine Karriere war ein Opfer der politischen Realität in der Sowjetunion. Während Botvinnik als „Schachingenieur des Sozialismus“ gefeiert wurde, wurde Levenfish ignoriert, kaltgestellt und schließlich vergessen.
Heute erinnern sich Schachhistoriker an ihn als das, was er wirklich war: Einer der größten Schachspieler der Sowjetunion, ein brillanter Endspieltheoretiker und ein Mann, der sich nicht dem politischen Druck beugte.
Quellen:
https://www.chess.com/blog/simaginfan/grigory-levenfish-the-amateur-who-beat-world-champions?ref_id=43524416
https://en.wikipedia.org/wiki/Grigory_Levenfish
https://en.chessbase.com/post/grigory-levenfish-27-march-1889-9-february-1961-the-outsider-of-the-soviet-chess-champions
https://dgriffinchess.wordpress.com/2017/01/19/grigory-levenfish/
https://ruchess.ru/en/persons_of_day/grigory_levenfish/
Grigory Levenfish – Der vergessene Großmeister der Sowjetunion
Grigory Levenfish war einer der stärksten Schachspieler seiner Zeit, doch er blieb zeitlebens ein Außenseiter, ein "Soviet Outcast". Trotz zweier sowjetischer Meistertitel und eines unentschiedenen Wettkampfs gegen den späteren Weltmeister Mikhail Botvinnik wurde er von der sowjetischen Schachführung systematisch ignoriert. Er war ein Mann, der gegen politische Widerstände ankämpfte und für seine Überzeugungen stand. Sein Vermächtnis ist nicht nur seine Turnierleistung, sondern auch seine bedeutende Arbeit als Schachtheoretiker.
Frühe Jahre: Ein aufstrebendes Talent
Grigory Yakovlevich Levenfish wurde am 19. März 1889 in Piotrków (heutiges Polen) geboren, damals Teil des Russischen Kaiserreichs. Er wuchs in Lublin auf und lernte Schach von seinem Vater. Begeistert wurde er vom Spiel, als der legendäre Mikhail Chigorin, einer der Begründer der russischen Schachschule, in Lublin Simultanveranstaltungen gab.
Nach dem Abitur zog Levenfish nach Sankt Petersburg, um Chemie zu studieren. Dort schloss er sich dem Schachzirkel des Technologischen Instituts an, wo auch der Vater von Vasily Smyslov spielte. Sein Talent zeigte sich schnell, und er gewann 1909 die Stadtmeisterschaft von St. Petersburg. Dies brachte ihm eine Einladung zum Carlsbad-Turnier 1911 ein, wo er sich mit der Weltelite maß. Er belegte einen Mittelfeldplatz, doch seine Leistung wurde als vielversprechend angesehen.
Doch es sollte sein einziger internationaler Auftritt bleiben – die politische Entwicklung in Russland und später in der Sowjetunion machte Reisen für ihn unmöglich.
Der Meisterspieler in der Sowjetunion
Nach der Oktoberrevolution 1917 geriet Levenfish in den Strudel der politischen Umwälzungen. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er als Chemiker in einer Fabrik für Schutzgasproduktion. In dieser Zeit erlitt er zwei persönliche Schicksalsschläge: Seine Frau und seine kleine Tochter starben. In seinen eigenen Worten: „Es war nicht möglich, in diesen Jahren an Schach zu denken.“
Trotz dieser tragischen Ereignisse kehrte er zum Schach zurück. In den 1920er Jahren gehörte er zur absoluten Spitze der Sowjetunion. Er gewann dreimal die Leningrader Meisterschaft (1922, 1924, 1925) und belegte mehrfach Podiumsplätze bei den UdSSR-Meisterschaften.
Die goldenen Jahre und das Drama um Botvinnik
Die 1930er Jahre waren die erfolgreichste Phase von Levenfishs Karriere. Er wurde zweimal sowjetischer Meister:
- 1934 (geteilt mit Ilya Rabinovich)
- 1937 (alleiniger Sieger in Tiflis)
Doch sein größter Kampf sollte erst kommen: der Wettkampf gegen Mikhail Botvinnik 1937. Da Botvinnik die UdSSR-Meisterschaften nicht mitspielte, forderte er Levenfish zu einem Titelmatch heraus. Es wurde auf sechs Siege angesetzt, Remisen wurden nicht gewertet.
Levenfish startete stark und führte 2:1, doch Botvinnik gewann drei Partien in Folge. Nach einer dramatischen Schlussphase endete das Match 6:6. Damit verteidigte Levenfish seinen Meistertitel und wurde offiziell als zweiter sowjetischer Großmeister anerkannt – nach Botvinnik.
Doch der wirkliche Bruch kam ein Jahr später: Die sowjetische Führung entschied, Botvinnik statt Levenfish zum AVRO-Turnier 1938 zu schicken – dem wichtigsten Turnier des Jahrzehnts mit allen Weltklasse-Spielern. Dies war für Levenfish ein „moralischer Knockout“, wie er später schrieb. Er wurde faktisch aus dem internationalen Schach ausgeschlossen.
Das langsame Verschwinden aus dem Spitzenschach
Nach diesem Rückschlag spielte Levenfish seltener. 1940 gewann er einen Wettkampf gegen Vladimir Alatortsev (5:2), doch in den UdSSR-Meisterschaften 1939 und 1940 konnte er nicht mehr an seine alten Erfolge anknüpfen.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde er erneut als Chemieingenieur eingesetzt. Während der Evakuierung sowjetischer Fabriken nach Kuibyschew überlebte er eine 18 km lange Wanderung bei -30 Grad, eine Strapaze, von der er sich nie ganz erholte.
Nach dem Krieg arbeitete er als Schachtrainer in Leningrad. Seine bekanntesten Schüler waren Boris Spassky und Viktor Kortschnoi. 1949, im Alter von 60 Jahren, nahm er noch einmal an der UdSSR-Meisterschaft teil – und besiegte den späteren Weltmeister Vasily Smyslov.
Doch der politische Druck blieb bestehen: Er erhielt keine Unterstützung mehr als Großmeister und lebte in Armut.
Das literarische Erbe und die Endspiel-Theorie
Levenfish war nicht nur ein starker Turnierspieler, sondern auch ein hervorragender Schachtheoretiker. Seine wichtigste Hinterlassenschaft ist das Standardwerk über Turmendspiele, das er mit Vasily Smyslov verfasste. Das Buch wurde 1957 auf Russisch veröffentlicht und später unter dem Titel „Rook Endings“ in Englisch herausgegeben – es gilt bis heute als eines der besten Werke zu diesem Thema.
Er veröffentlichte auch ein Buch über die Capablanca-Alekhine-WM 1927, sowie ein Werk über moderne Eröffnungen, das als Vorläufer der sowjetischen Eröffnungs-Enzyklopädie gilt.
Eine besondere Anekdote umgibt seine Autobiografie, die erst 1967, sechs Jahre nach seinem Tod, erschien. Er selbst beklagte, dass große Teile des Manuskripts zensiert wurden. Der Titel sagt viel über sein Schicksal aus: „Soviet Outcast“ (Der sowjetische Außenseiter).
Der vergessene Großmeister
Am 9. Februar 1961 starb Grigory Levenfish in Moskau. Sein Tod blieb weitgehend unbeachtet. Die sowjetische Schachführung hatte ihn aus ihrer Geschichte gestrichen.
Und doch sprechen seine Leistungen für sich:
- Zweifacher UdSSR-Meister (1934, 1937)
- Match-Unentschieden gegen Botvinnik (1937)
- Siege gegen Weltmeister wie Alekhine, Lasker, Smyslov und Euwe
- Pionier der Eröffnungstheorie (Levenfish-Angriff in der Drachenvariante der Sizilianischen Verteidigung)
- Klassiker der Schachliteratur („Rook Endings“)
- Schachtrainer großer Talente wie Kortschnoi und Spassky
Seine Karriere war ein Opfer der politischen Realität in der Sowjetunion. Während Botvinnik als „Schachingenieur des Sozialismus“ gefeiert wurde, wurde Levenfish ignoriert, kaltgestellt und schließlich vergessen.
Heute erinnern sich Schachhistoriker an ihn als das, was er wirklich war: Einer der größten Schachspieler der Sowjetunion, ein brillanter Endspieltheoretiker und ein Mann, der sich nicht dem politischen Druck beugte.
Quellen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Grigory_Levenfish