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Chess in the Third Reich, Taylor Kingston

Wie Schach gleichgeschaltet wurde – Matthew Sadler über „Chess in the Third Reich“

New-In-Chess-Rezensent Matthew Sadler vergibt fünf von fünf Sternen für Taylor Kingstons Buch Chess in the Third Reich – und das mit gutem Grund: Er beschreibt die Lektüre als „faszinierend, ernüchternd und beängstigend zugleich“. In seiner Kolumne in New in Chess (Ausgabe 2/2025) reflektiert Sadler eindrücklich über die nationalsozialistische Vereinnahmung des Schachs.

Er beginnt seine Rezension mit einem Gedankenspiel: In welches Zeitalter der Schachgeschichte würde er gern zurückreisen? Die Zwischenkriegszeit – mit Spielern wie Capablanca, Alekhine, Lasker, Spielmann – erscheint ihm ideal. Doch die Schatten des Dritten Reichs lassen sich aus dieser Zeit nicht ausblenden. Besonders erschütternd ist für Sadler die Erkenntnis, wie systematisch auch das Schach gleichgeschaltet wurde: Die nationalsozialistische Regierung zerschlug den Deutschen Schachbund (DSB) und ersetzte ihn durch den „Großdeutschen Schachbund“ (GSB) – bereits vorbereitet seit 1931, also noch vor der Machtergreifung.

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Klaus Junge (1924-1945)

Sadler war überrascht, dass das Regime dem Schach überhaupt Aufmerksamkeit schenkte. Doch wie das Buch zeigt, gehörte die Gleichschaltung aller Lebensbereiche – auch scheinbar irrelevanter wie das Schach – zur Strategie der totalitären Kontrolle. Ziel war es etwa, „rein deutsche“ Talente zu fördern. Spieler wie Efim Bogoljubow passten nicht ins ideologische Bild: ein eingebürgerter Ukrainer, der aus russischer Kriegsgefangenschaft stammte.

Besonders vor der Schacholympiade 1936 in Berlin habe sich dieser Druck zugespitzt. Ein dritter Platz – begünstigt durch das Fernbleiben starker Teams wie der USA und jüdischer Spieler – wurde als propagandistischer Erfolg gewertet. Ein bitteres Detail: Der Pole Moshe Mendel Najdorf, der eine Goldmedaille gewann, bekam sie von Hans Frank überreicht – jenem NS-Funktionär, der später als Generalgouverneur Polens für die Ermordung von Najdorfs Familie verantwortlich war.

Wijk aan Zee, 7th round, 19th January 1971. Miguel Najdorf v. Robert Hübner - a key game in the development of what would become known as the Hübner Variation in the Nimzo-Indian Defence.(📷: R. Croes / ANEFO, via nationaalarchief.nl.) #chess

Douglas Griffin (@dgriffinchess.bsky.social) 2025-01-05T15:30:37.996Z

Sadler hebt auch hervor, dass das NS-Regime nach der Annexion Österreichs und Polens versuchte, nichtjüdische Schachspieler zu integrieren und den GSB auf besetzte Gebiete auszuweiten. Hans Frank träumte gar von einer gesamteuropäischen Schachorganisation mit Zentrum in Krakau – noch 1944, als der Krieg längst verloren war, organisierte er Turniere. Sadler zeigt sich erschüttert darüber, wie selbst in diesen letzten Kriegsjahren Schach als Vehikel nationalsozialistischer Ideologie diente.

Am Ende seiner Rezension schreibt Sadler, dass er das Buch nicht genießen konnte – dafür sei der Stoff zu schwer –, aber dass es ihn tagelang nicht mehr losgelassen habe. Es mache deutlich, wie sehr autoritäre Systeme alle gesellschaftlichen Bereiche vereinnahmen, selbst ein vermeintlich harmloses Spiel wie Schach.

Quelle: Matthew Sadler, Kolumne in New In Chess 2025/2, online veröffentlicht am 22. Mai 2025.

Amazon-Klappentext zu "Chess in the Third Reich":

The USSR is famous as the first totalitarian state to promote chess. Less well known is that Nazi Germany was the second. The Third Reich gave chess a tremendous financial and propaganda boost in hopes of making Germany a dominant chess power. Yet this aspect of the Nazi era has received scant attention in later German literature, and even less in English. This book fills that gap.

Using a multitude of German sources, the author has crafted a narrative showing how the Nazis completely remade German chess into a monolithic structure to showcase the supposed cultural and intellectual superiority of the "master race." Many games by German masters are presented--Bogoljubow, Richter, Samisch, Rellstab, Kieninger, Junge, and more--and by others who came under Nazi rule: Alekhine, Keres, Eliskases, et al. Important political figures are featured: Otto Zander, Erhardt Post, Hans Schemm, Josef Goebbels, and especially Hans Frank. Politics affecting chess are detailed, both external (e.g., the annexations of Austria and Czechoslovakia) and internal (rivalry between the Grossdeutscher Schachbund and Kraft durch Freude), as of course are the effects of the war and persecution of Jews.

 

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Tim-Jake Gluckman über "Chess and the Nazis"
Quelle: Kingpinchess.net, Blogbeitrag „Chess and the Nazis“ von Tim-Jake Gluckman

Taylor Kingston untersucht in Chess in the Third Reich die Beziehung zwischen Schach und dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland von 1933 bis 1945. Im Zentrum steht laut Gluckman die These, dass die nationalsozialistischen Bemühungen, das Schach ideologisch zu vereinnahmen und jüdische Spieler zu verdrängen, weitgehend gescheitert sind. Trotz massiver staatlicher Förderung blieb der erhoffte internationale Durchbruch aus. Im Gegensatz zur Sowjetunion, die systematisch Schachtalente aufbaute, brachte Nazi-Deutschland – von Klaus Junge abgesehen – kaum neue Spitzenspieler hervor.

Gluckman lobt Kingstons tiefgehende Recherche und das „Eintauchen“ in die Lebenswelt des Schachs unter Diktaturbedingungen. Der Autor verzichte auf idealisierende Rückschauen und schildere nüchtern die Realität eines „zersplitterten, ineffizienten Apparats“, in dem konkurrierende Machtzentren wie das Auswärtige Amt, die KdF-Bewegung und der GSB um Einfluss rangen.

Hervorgehoben werden:

  • 135 analysierte Partien (darunter viele mit Kommentaren von Kingston und zeitgenössischen Quellen),

  • zahlreiche Turniertabellen und Fotos,

  • und eine detaillierte Darstellung der politischen Instrumentalisierung von Schach – etwa durch die 1936er "Olympiade" in München oder den Versuch, mit dem „Europaschachbund“ politische Führungsansprüche zu untermauern.

Ein besonderes Augenmerk legt Kingston auf Alexander Aljechin und dessen widersprüchliche Beziehung zum Nazi-Funktionär Hans Frank: Noch 1939 protestierte Aljechin gemeinsam mit Tartakower gegen Deutschland – später schrieb er antijüdische Artikel über den angeblich „arischen Schachstil“. Kingston stützt sich dabei auf Forschungen von Christian Rohrer.

Als Schwächen nennt Gluckman:

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  • fehlende Berücksichtigung informeller Schachkultur (z. B. Berliner Café-Szene),

  • keine Auseinandersetzung mit Konzepten wie „innere Emigration“ (etwa bei Friedrich Sämisch),

  • und vernachlässigte wirtschaftlich-politische Kontexte der Zwischenkriegszeit.

Trotzdem sei das Buch ein „wegweisendes Werk“: Kingston zeige, wie ein totalitäres Regime Schach zu einem Werkzeug der ideologischen Durchdringung und Machtdemonstration umfunktionieren wollte – und dabei scheiterte.

Fazit: Gluckman würdigt Chess in the Third Reich als präzise, quellengestützte und nüchtern erzählte Studie, die dem Thema gerecht wird, ohne in Faszination oder Verharmlosung abzurutschen.

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