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Carlos Torre (1904-1978)

Carlos Torre – Genie ohne Gier

Ein Leben zwischen Kunst, Nervenzusammenbruch und zwei Schachturnieren für die Ewigkeit

Kindheit, New Orleans und Aufstieg in Amerika

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Carlos Torre Repetto wurde am 23. November 1904 in Mérida, Yucatán geboren, als sechstes von sieben Kindern. Bereits mit sechs Jahren lernte er die Regeln des Spiels, indem er den Partien seiner Brüder zusah. Bald spielte er selbst – zunächst gegen Vater und Geschwister. Noch war nichts Außergewöhnliches zu erkennen, aber 1915 übersiedelte die Familie in die USA, nach New Orleans, wo sich der mexikanische Junge bald als Naturtalent entpuppte.

New Orleans war nicht nur die Stadt von Paul Morphy. Es war auch eine Stadt mit aktiver Schachszene. Hier lernte Carlos schnell Englisch und begann, regelmäßig Schachclubs zu besuchen. Als er 13 war, fiel er Edward Ziegler Adams auf, einem lokalen Organisator. Adams wurde zu Torres Mentor und Förderer. Er beschrieb seinen Schützling später als höflich, ernsthaft und von künstlerischem Anspruch durchdrungen. Und er sollte Recht behalten: Carlos Torre spielte Schach nicht zum Siegen, sondern aus ästhetischem Bedürfnis.

Ein weiter Teil der Informationen in diesem Text entstammt dem wunderbaren, 2023 neu aufgelegten "The Life and Games of Carlos Torre"

In Simultanvorstellungen gewann der Teenager bald gegen die Besten der Stadt. Die Lokalzeitung schrieb ehrfürchtig von einem „neuen Morphy“. 1920, mit 15 Jahren, besiegte Torre bei einem Simultan die Elite von New Orleans, darunter Leon Labatt und Percy Moise. Spätestens jetzt war klar: Hier war ein kommender Meister am Werk.

Im selben Jahr zirkulierte ein Spiel, das angeblich gegen seinen Mentor Adams entstanden war – eine der brillantesten Kombinationen der Schachgeschichte. Heute weiß man: Die Partie war ein Kunstprodukt. Entweder eine Analyse oder eine Post-Mortem-Erfindung, vielleicht sogar ein Kompliment an den Lehrer Adams, der darin als Sieger firmierte. Dass Torre selbst das Spiel später an Hermann Helms schickte und mit Kommentaren versah, zeigt: Für ihn war der ästhetische Wert entscheidend, nicht der Ausgang.

Das Titelfoto des chess.com-Blogeintrags zeigt Torre 1925 in Moskau, eine Szene aus dem Film "Schachfieber".

Die Zeit in New York: Torre wird Champion

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1924 verließ der 19-jährige Torre New Orleans, um sich in New York mit den Besten zu messen. Er trat dem Marshall Chess Club bei und gewann dort Blitzturniere am laufenden Band. Gegen etablierte Größen wie Schapiro und Kupchik hielt er mehr als mit, gegen Reshevsky setzte er sich durch. Besonders beeindruckend: Sein Sieg beim Western Championship 1924 in Detroit. Torre gewann ungeschlagen mit 12 Siegen und 4 Remis.

In New York wurden Stimmen laut, die ihn mit Capablanca verglichen. Hermann Helms schwärmte: „Carlos Torre’s games are interesting, his style is promising, his combinations are chessy.“ Der junge Mann aus Mérida wurde nun endgültig zur Hoffnung eines Kontinents – und rückte ins Blickfeld Europas.

New York 1924: In einer Simultanvorstellung verpasst Torre einen fantastischen Gewinnzug - und gibt stattdessen auf

Baden-Baden 1925: Premierenfieber im Kurhaus

Im Frühjahr 1925 wurde das größte Turnier nach dem Ersten Weltkrieg angekündigt: Baden-Baden. Organisiert von Tarrasch, mit Alekhine, Rubinstein, Nimzowitsch, Marshall, Spielmann, Grünfeld. Capablanca hatte abgesagt, also sollte entweder Kupchik oder Torre den zweiten Platz für die USA erhalten. Ein Qualifikationsmatch zwischen beiden wurde angesetzt, doch nach vier Remis und einem Sieg für jeden entschied ein Telegramm aus Deutschland: Torre und Marshall wurden beide eingeladen.

Auf der Überfahrt mit dem Dampfer „Antonia“ spielte Torre zahllose Blitzpartien gegen Frank James Marshall – darunter erstmals mit seiner neuen Waffe: dem „Two Knights Tango“, auch „Mexikanische Verteidigung“ genannt (1.d4 Nf6 2.c4 Nc6!?). Marshall versuchte in einer der Partien, die Variante zu widerlegen – und verlor in neun Zügen.

Das Turnier begann am 16. April 1925 im Kurhaus von Baden-Baden. Gespielt wurde im prachtvollen Salon. Die Konkurrenz war furchteinflößend. Und Torre? Spielte solide, vorsichtig – beinahe zu vorsichtig. Schon nach wenigen Runden machten die Zeitungen seine Nervosität zum Thema. Die Badische Presse schrieb am 28. April: „Torre spielt zu ängstlich. Selbst in vorteilhaften Stellungen bietet er remis. Es fehlt ihm an Selbstvertrauen.“

Dennoch: Seine Vorstellung war beachtlich. Torre besiegte Grünfeld in einer mustergültigen Positionspartie und schlug Friedrich Sämisch mit einem fast surrealen Bauernopfer. In dieser Partie, nur 21 Züge lang, zeigte Torre die Essenz seines Spiels: reine Figurenkoordination ohne jegliche Materialgier. Lasker kommentierte: „Seine Kombinationen sind vornehm. Sein Stil ist ein Versprechen.“

Mit 10 von 20 möglichen Punkten belegte Torre den 10. Platz – ein achtbares Ergebnis in einem Feld mit Weltklassespielern. Vier Niederlagen standen vier Siegen und zwölf Remis gegenüber. Der Versuch, mit Sicherheitsdenken durchzukommen, war gescheitert. Doch das Publikum hatte ihn ins Herz geschlossen.

Marienbad und das Glanzlicht Moskau – Torres kurze Blüte

Nach Baden-Baden 1925 wollte Carlos Torre zeigen, dass mehr in ihm steckte als vorsichtige Remisen. Er reiste weiter nach Marienbad, wo im Sommer ein weiteres stark besetztes Turnier stattfand. Nimzowitsch, Réti, Rubinstein und Tartakower waren dabei, auch Spielmann, Tarrasch und Grünfeld. Die Konkurrenz war kaum schwächer als in Baden-Baden.

Marienbad 1925: Angriff statt Absichern

Torre spielte mutiger als im Frühjahr. Seine Partien wirkten frischer, zielgerichteter. Besonders auffällig war sein Spiel gegen Hans Kmoch. In einer geschlossenen Stellung opferte Torre einen Bauern, öffnete die Stellung mit f4 und riss die Initiative an sich – ein strategischer Angriff, kein taktischer Zufall. Kmoch war chancenlos. Der Sieg brachte Torre früh in Führung.

Doch die Partie gegen Ernst Grünfeld wurde zur eigentlichen Glanznummer. Torre spielte mit Schwarz die „Mexikanische Verteidigung“, sein Markenzeichen. Nach 1.d4 Nf6 2.c4 Nc6 3.Nf3 e6 4.Nc3 d5 5.Bg5 h6 6.Bxf6 Qxf6 7.cxd5 exd5 8.Nxd5 war klar: Er hatte die Vorbereitung seiner Gegner übertroffen. Torre gewann in 25 Zügen mit einem kühlen Konterangriff. Grünfeld wirkte konsterniert.

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Am Ende landete Torre in Marienbad auf Platz 3–4, punktgleich mit Tartakower hinter Nimzowitsch und Rubinstein. 10 von 15 möglichen Punkten, sieben Siege, nur zwei Niederlagen. Die Neue Wiener Schachzeitung schrieb: „Torre hat sich gewandelt: aus dem vorsichtigen Remisspieler wurde ein ernstzunehmender Angreifer.“

Dann kam Moskau.

Moskau 1925: Das Turnier seines Lebens

Im Herbst 1925 lud die Sowjetunion zu einem gigantischen Schachturnier ein – dem ersten dieser Art seit der Revolution. Ziel war, den Fortschritt des sowjetischen Schachs mit einem Treffen Ost und West zu fördern. Internationale Größen wie Lasker, Capablanca, Marshall, Reti, Bogoljubow, Torre, Spielmann, Tartakower und Yates trafen auf starke sowjetische Spieler wie Romanovsky, Rabinovich, Iljin-Shenevsky oder Bohatirchuk.

Das Turnier begann am 10. November 1925 im Moskauer Polytechnischen Museum. Gespielt wurde unter großem Publikumsandrang. Täglich strömten Hunderte in den Saal. In einem offiziellen Bericht heißt es: „Die Zuschauer saßen dicht gedrängt, sie verfolgten die Partien stundenlang in andächtiger Stille.“

Für Torre war es die erste Begegnung mit Capablanca. Er verlor die Partie – eine Positionsniederlage, ohne groben Fehler, aber auch ohne Chance. Capablanca kommentierte kühl: „Er spielt gut, aber zu langsam. Er muss lernen, schneller zu denken.“ Doch Torre ließ sich nicht entmutigen.

Der Sieg gegen Lasker

In Runde 12 kam es zur Begegnung mit Emanuel Lasker. Der 56-Jährige war nach wie vor eine Respektsperson, wenn auch nicht mehr amtierender Weltmeister. Torre eröffnete mit Weiß und spielte seinen Torre-Aufbau – solide, aber flexibel.

Lasker griff im Mittelspiel an, unterschätzte jedoch Torres strategisches Gegenspiel. Der Mexikaner tauschte die Damen, drang auf der g-Linie ein und gewann in einem Endspiel mit Springer und Läufer. Der Sieg war makellos. Lasker wirkte erstaunt. Im Bulletin des Turniers wurde vermerkt: „Torre spielte wie ein Lehrbuch. Lasker wurde in seiner eigenen Sprache besiegt – durch Kontrolle.“

Es war Torres berühmteste Partie, die mit der "Zwickmühle", die in zahllosen Taktikbüchern zu finden ist. 

(via Wikipedia)

Die unsterbliche Zwickmühle

Edward Lasker sagte später: „Ich wusste, dass ich gegen einen Künstler gespielt hatte. Es war mir fast nicht peinlich, so besiegt zu werden.“

Torres Endstand in Moskau

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Mit 12 Punkten aus 20 Partien landete Torre auf Platz 5 – vor so starken Spielern wie Tartakower, Reti, Yates, Marshall und Romanovsky. Ein sensationelles Ergebnis. Nur Bogoljubow, Lasker, Capablanca und Spielmann lagen vor ihm. Und nur Capablanca hatte weniger Niederlagen als er.

Torres Stil war nun gereift. Er war kein vorsichtiger Abwarter mehr, sondern ein Spieler mit eigenem Profil: harmonisch, trickreich, dynamisch, aber niemals forciert. David Bronstein sagte Jahrzehnte später: „Torre spielte wie jemand, der das Schach liebte, aber nicht die Eitelkeit.“

Teil 3: Zusammenbruch, Klinik, Rückzug – und der lange Schatten des Talents

Carlos Torre kam aus Moskau als einer der Shootingstars der Schachwelt zurück. Noch war er keine 22 Jahre alt. In drei aufeinanderfolgenden Spitzenturnieren hatte er sich unter den besten Spielern der Welt behauptet. Viele sahen ihn als kommenden Weltklassespieler. Doch was dann folgte, war kein Aufstieg, sondern ein jäher Abbruch.

Eine Reise, die nie endete

Nach Moskau kehrte Torre nicht sofort nach Mexiko zurück. Zunächst besuchte er Freunde in Deutschland, dann seine Schwester in New Orleans. Auf dieser Reise begann sich etwas zu verändern. Briefe blieben unbeantwortet. Er verpasste Verabredungen. Beim Western Open 1926 in Chicago trat er nicht an, obwohl er angekündigt war. In Schachkreisen machte sich Unruhe breit.

Marshall erinnerte sich später: „Er war still geworden. Nachdenklich. Irgendetwas war passiert.“

Der Tag, an dem alles kippte

Im Frühjahr 1926 reiste Torre nach New York, um dort erneut zu spielen. Doch statt im Turniersaal fand man ihn am nächsten Tag auf der Straße, verwirrt, mit wirren Zetteln in der Tasche. Er sprach nicht mehr über Schach. Er sprach kaum noch. Freunde brachten ihn ins Bellevue Hospital.

Dort diagnostizierte man eine „akute psychotische Episode“. Später wurde von einer „nervösen Erschöpfung“ gesprochen, manche vermuteten paranoide Schübe, andere eine manisch-depressive Erkrankung. Eine eindeutige Diagnose gibt es bis heute nicht. Fakt ist: Torre wurde dauerhaft krank.

Er blieb im System – jahrzehntelang

Die nächsten Jahrzehnte verbrachte Torre zum Großteil in Pflegeeinrichtungen. Zunächst in New York, später in Mexiko-Stadt. Manchmal tauchte er auf – bei kleinen Turnieren, als Zuschauer oder als stiller Berater jüngerer Spieler. Dann wieder verschwand er für Jahre. Er schrieb Gedichte, begann eine Biografie, die nie fertig wurde. Freunde besuchten ihn. Aber Schach spielte er nicht mehr ernsthaft.

Die Legende wächst

Während Torre selbst verschwand, wuchs sein Mythos. Die Partie gegen Edward Lasker wurde in zahllose Lehrbücher aufgenommen. Kommentatoren staunten über seinen intuitiven Stil. In Mexiko wurde er zur tragischen Heldenfigur – der erste große Schachmeister des Landes, dessen Karriere durch äußere Umstände gestoppt wurde.

José Raúl Capablanca sagte über ihn: „Er hätte einer der Besten sein können. Vielleicht sogar Weltmeister.“

Alexander Alekhine schrieb: „Torre war ein Spieler mit seltenem Gefühl für Harmonie. Seine Partien erinnern mich an Rubinstein – aber mit mehr Feuer.“

Mexiko ehrt seinen Meister

1975, fast 50 Jahre nach seinem Rückzug, wurde in Mexiko ein neues Turnier ins Leben gerufen: das Torneo Internacional Carlos Torre Repetto in Memoriam. Es sollte das Erbe des ersten mexikanischen Großmeisters ehren – obwohl Torre den Titel nie offiziell trug, weil es ihn zu seiner aktiven Zeit noch nicht gab.

Der erste Sieger des Turniers: ein junger Kubaner namens Guillermo García. Später traten Spieler wie Nigel Short, Yuri Balashov, Walter Browne und Leinier Domínguez an. Heute ist das Turnier in Mérida eines der wichtigsten in Lateinamerika.

Torre lebte bis 1978.

Er starb im Alter von 72 Jahren, fast vergessen von der Weltöffentlichkeit, aber verehrt in seiner Heimat. In Mérida trägt eine Schule seinen Namen. Auf seinem Grabstein steht: Carlos Torre Repetto – Ajedrecista Universal.

Der späte Carlos Torre

Nachhall in der Schachkultur

Torres Leben wurde mehrfach literarisch verarbeitet. Der mexikanische Schriftsteller Ignacio Solares widmete ihm eine Erzählung. Der Filmemacher Alejandro Springall arbeitete lange an einem Drehbuch über Torre – das Projekt wurde nie realisiert.

Für Schachspieler aber lebt Torre in seinen Partien weiter. In der Windmühle gegen Lasker. In den harmonischen Siegen von Moskau. In seinen strategischen Ideen, die heute in der „Torre-Angriff“ genannten Eröffnung weiterleben.

Der Torre-Angriff: ein Erbe mit System

1.d4 Nf6 2.Nf3 e6 3.Bg5 – diese einfache Eröffnungsidee, mit frühem Läuferzug nach g5, trug schon zu Torres Zeiten seinen Namen. Heute wird der Torre-Angriff auf allen Ebenen gespielt – von Clubspielern bis zu Meistern.

Anish Giri, Vladimir Kramnik und Wesley So haben den Aufbau in ihren Repertoires. Magnus Carlsen wählte ihn mehrfach in Blitzpartien. Der Grund: einfache Pläne, schnelle Entwicklung, viele Übergänge in solide Mittelspiele. Torre hätte das gefallen.

Weitere Quellen:

https://www.chesshistory.com/winter/extra/torre.html
https://www.chesshistory.com/winter/extra/adamstorre.html

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