Bitte oder Registrieren, um Beiträge und Themen zu erstellen.

Auf dem Marktplatz von Oerlikon

Straßenschach in Oerlikon: Medizin gegen Einsamkeit

Quelle: NZZ Folio – „Auf dem Marktplatz in Oerlikon treffen sich Männer aus dem Balkan zum Schach“, Leonie Charlotte Wagner (Text), Annick Ramp (Bilder), 31. Oktober 2025 (für Abonnenten)

Auf dem Marktplatz von Zürich-Oerlikon bilden sechs fest installierte Bretter den Treffpunkt einer eingespielten Community: pensionierte Männer, viele aus dem Balkan, die seit Jahrzehnten täglich kommen – bei Sonne, Wind und Schnee. Sie spielen gegen Langeweile, Heimweh und das Altwerden. Edvin, 72, ist ihr Herz: Er begrüßt Neulinge, lädt zum Kaffee, stellt Partien nach – „Mir ist egal, ob ich gewinne oder verliereWenn ich Schach spiele, vergesse ich alles. Sogar meine Schmerzen.“ Um die Bretter herum entsteht ein eigener Kosmos aus Ritualen: Kiebitze („Schnurrer“) geben lautstarke Ratschläge, Türme dienen kopfüber als Hocker, Figuren werden mit schwarzem Tape geflickt.

Der Ort hat Geschichte: Zürich gilt als Schachstadt (Schachgesellschaft Zürich seit 1809). Oerlikons Platz, in den 1970ern wie ein riesiges Schachbrett gepflastert und 2007–2017 erneuert, erhielt doppelt so viele Felder. Hier gilt eine andere Zeitrechnung als im geplanten Zürich: Man kommt und geht ohne Kalender, „Freunde? … nein, das sind Kollegen von der Strasse“. Es wird gestritten, gelacht, geschwiegen – und wenn Politik das Spiel verdrängt, heißt es: „Wollen wir Schach spielen oder Politik machen?

Werbung

Für viele ist das Strassenschach ein soziale Anker. Wer allein lebt, wer Verlust erlebt hat, findet hier Halt und Routine. Selbst im Winter verlagert sich die Runde nur kurz in Beizen oder ins Hallenbad – mit Reisebrett am Beckenrand. Schach wird so zur stillen Therapie gegen die Leere des angebrochenen Tages: Konzentration, kleine Triumphe, geteilte Rituale. Edvin fasst es vor: spielen, atmen, weitermachen.

Werbung