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Alexander Aljechin (1892-1946)

Mannheim 1914: Aljechins Aufstieg, der Krieg und die Gefangenschaft

Der Schachkongress in Mannheim 1914 begann vielversprechend. Der damals 21-jährige Alexander Aljechin führte das Feld im Meisterturnier mit beeindruckender Leistung an und war auf dem Weg zum ersten Platz. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stoppte das Turnier jäh – und verwandelte es für Aljechin und zahlreiche andere russische Teilnehmer in ein dramatisches Kapitel ihrer Biografie.


Aljechin 1923

Turnierverlauf und erste Anzeichen der Krise

Der Kongress des Deutschen Schachbundes begann am 18. Juli 1914 im Ballhaus von Mannheim. Neben Aljechin spielten weitere bekannte Namen wie Efim Bogoljubow, Ilya Rabinovich, Peter Romanovsky, Fedor Bogatyrchuk, Boris Maljutin, Vladimir Seleschnew, Nikolai Rudnev, Samuil Weinstein und Pjotr Saburov in verschiedenen Gruppen. Aljechin war mit 9,6 von 11 möglichen Punkten klarer Spitzenreiter im Meisterturnier, als der Krieg ausbrach.

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Festbankett vor Turnierbeginn (via DSB)

Zunächst unterschätzten viele Teilnehmer die Gefahr. Nur wenige wie Sosnizky verließen Mannheim frühzeitig. Doch am 1. August wurde die Mobilmachung verkündet, und die Turnierleitung musste den Wettbewerb abbrechen. Die Preisgelder wurden am Montag, dem 3. August, ausgezahlt – soweit möglich.

Aljechins Verhaftung und Haft in Rastatt

Am Sonntag, dem 2. August, fuhr Aljechin nach Wiesbaden, um seine Mutter zu besuchen. Dort wurde er verhaftet, aber bald wieder freigelassen. Zurück in Mannheim, wurde er in der Nacht erneut abgeführt – diesmal ohne Möglichkeit, sich ordentlich anzuziehen – und mit anderen russischen Spielern auf der Polizeiwache festgesetzt.

Wegen eines Fotos, das ihn in Uniform des Kaiserlich-Russischen Rechtsanwalts-Instituts zeigte, wurde Aljechin verdächtigt, Offizier zu sein. Das erschwerte seine Lage erheblich. Nach kurzem Aufenthalt in einer Kaserne landete er in der Militärfestung Rastatt, wo er wochenlang unter primitiven Bedingungen mit anderen inhaftierten russischen Schachspielern festgehalten wurde.

Das Gefängnisleben und die Begegnung mit der Tochter des Wärters

In Rastatt begann für Aljechin und die anderen das Leben unter Bewachung. Bücher, Zeitungen oder Schachbretter gab es nicht. Um sich abzulenken, spielten sie blind Schach. Berühmt wurde ein Vorfall, bei dem Aljechin in Einzelhaft kam – offiziell, weil er bei der Gefangenen-Gruppenbewegung im Hof lächelte. In Wirklichkeit hatte er offenbar eine Affäre mit der Tochter des Gefängniswärters, was zu seiner Isolation führte.

Laut Fedor Bogatyrchuk hatte Aljechin „seine Aufmerksamkeit den Reizen“ der Wärtertochter gewidmet. Diese ließ sich auf einen Flirt ein, doch sie wurden ertappt. Das „nichts“ – wie Aljechin später ironisch über den Vorfall sagte – brachte ihm drei Tage Karzer ein.

Besserung in Baden-Baden und Aljechins Arbeitsdisziplin

Nach Wochen in Rastatt durften die russischen Schachspieler nach Baden-Baden umziehen – unter polizeilicher Aufsicht, aber mit deutlich besseren Bedingungen. Dort arbeitete Aljechin intensiv an seinem Buch über den Allrussischen Meisterschaftsturnier 1913/14. Gemeinsam mit Romanovsky analysierte er stundenlang Partien.

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In einer Anekdote schildert Romanovsky, wie Aljechin ihn nachts um vier Uhr aus dem Bett holte, weil ihm in einer analysierten Stellung ein entlastender Zug b7–b6 eingefallen war. Die beiden arbeiteten den gesamten nächsten Tag daran – ein Zeugnis von Aljechins obsessiver Genauigkeit.

Die Flucht aus Deutschland – Krankheit als Ausweg?

Wie Aljechin Deutschland schließlich verlassen konnte, blieb lange ein Rätsel. Er selbst sprach später in verschiedenen Versionen von „Zufall oder Glück“. Die offizielle Version war, dass er bei einer ärztlichen Untersuchung vorgab, schwer krank zu sein, unter anderem durch Nahrungsverzicht. Der Arzt ließ sich überzeugen, und Aljechin erhielt die Ausreisegenehmigung nach Schaffhausen in der Schweiz. Neben ihm kamen nur Saburov und Bogatyrchuk frei.

In späteren Erzählungen – etwa gegenüber britischen Journalisten – fabulierte Aljechin sogar von einer Flucht mit falschem Pass, was sich aber als Propaganda herausstellte. Die bittere Ironie: Nur wenige Jahre später sollte Aljechin wieder nach Deutschland zurückkehren – diesmal aus freien Stücken und dauerhaft.


Quelle: Sergej Voronkov, „Russkij Sfinx – Teil 6“, erschienen als Fortsetzung in russischer Sprache (auszugsweise übersetzt und zusammengefasst). Weitere Quellen: Zeitungsartikel aus Večernee Vremja (13./26. Oktober 1914), Erinnerungen von Fedor Bogatyrchuk, Pjotr Romanovsky, Boris Maljutin.

Die im Internet frei verfügbare Arbeit Voronkovs ist Teil seiner vierteiligen Buchprojekts über Alexander Aljechin. Band eins dieser Reihe ist gerade erschienen:

Amazon Klappentext:

Award-winning historian Sergey Voronkov has written a four-volume psychological biography of Alexander Alekhine, presenting the former world chess champion in a much more complicated, conflicted and tragic light than you have ever seen him before! This first volume traces his early development through to his departure from Soviet Russia in 1921, while also attempting to untangle the knot of his complex relationships with all his five wives.

Unpublished or long forgotten memoirs, as well as original newspaper and magazine articles from around the world, are drawn together in forensic research to paint the most extensive picture of Alekhine ever created. Key events in his life are reconsidered, including his release from internment in Germany during World War 1, his escape from execution in Odessa, his service under the Bolsheviks as a detective, his trip to the Urals as a Comintern translator, as well as just how he emigrated.

His character development is considered beginning with a detailed examination of his childhood, based on memoirs of his classmates. Voronkov then considers Alekhine’s transition from shy boy to dandy (and even the role played in that by his erstwhile friend José Capablanca), as well as how our protagonist gained the mental toughness of a world champion, and his chess philosophy. Some details make you admire him, others make you pity him, still others cast him in an unfavorable light...

Chess-wise, Voronkov presents over 50 games and fragments with original commentary by Alekhine and his opponents, most of which has not been published in books before. These include eleven completely unknown Alekhine games as well as ten game scores of other players with light commentary by Alekhine from the first Soviet Championship in 1920, found in Alexander Kotov’s archive.

In many cases, Alekhine’s earliest annotations are compared with his later ones to the same games, often leading to surprising conclusions. In particular, Voronkov highlights brilliant variations shown in Alekhine’s analysis that were supposedly found during play but which were actually discovered by the champion only years later when he republished his games. This led to Alekhine radically changing his assessments of positions in his writings as the years passed. We also see how Kotov had a habit of taking Alekhine’s commentary and presenting it as his own.

This book is illustrated by over 170 photos and other visuals, many published for the first time.

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