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1935: Aljechin-Euwe

Das Wunder von Amsterdam: Wie Max Euwe 1935 Weltmeister wurde
Quelle: Chess.com Blog – „Alekhine vs. Euwe | World Chess Championship 1935“, FM ddtru (Andrey Terekhov)

Im Herbst 1935 stand die Schachwelt Kopf. Niemand glaubte ernsthaft, dass Max Euwe, ein Mathematiklehrer aus Amsterdam, dem überragenden Weltmeister Alexander Aljechin den Titel entreißen könnte. Doch am Ende eines zweimonatigen Marathons, gespielt in fünfzehn niederländischen Städten, wurde aus dem Außenseiter der fünfte Schachweltmeister der Geschichte – in einem Duell, das ebenso von geistiger Schärfe wie von menschlicher Schwäche erzählte.

Ein Herausforderer wider Willen

In den 1930er-Jahren bestimmte allein der Weltmeister, gegen wen er spielte. Aljechin, der seit 1927 den Titel hielt, mied Capablanca, ignorierte Flohr und Bogoljubow, und wählte schließlich den scheinbar harmlosen Euwe – solide, höflich, korrekt, aber ohne jede Aura eines Kämpfers. Ein „angenehmer junger Mann“, wie José Raúl Capablanca sagte, „mit klarem, geradlinigem Stil, aber ohne das Genie seines Gegners“.

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Euwe, der sich seit Jahren zwischen Mathematikvorlesungen und Turnieren aufrieb, galt als Modell des „Amateurs“: diszipliniert, sachlich, ohne Exzesse. Seine Resultate waren konstant, nie spektakulär. Doch die Vorbereitung auf das Match betrieb er mit einer bis dahin unbekannten Systematik – nicht nur am Brett, sondern auch körperlich: tägliches Training, Sport, Diät. Er wusste: Nur mit Ausdauer konnte er gegen Aljechin bestehen.

Der Weltmeister als fahrender Zirkus

Das Match begann am 3. Oktober 1935 in Amsterdam, führte durch zwölf weitere Städte – von Rotterdam über Den Haag bis Zandvoort – und dauerte mehr als zwei Monate. Der Grund war banal: Die Organisatoren mussten Geld auftreiben. Jede Stadt, die eine Partie austragen durfte, steuerte einen Teil zur Börse bei. Aljechin hatte eine stattliche Gage verlangt, Euwe spielte nur um die Ehre.

Der Weltmeister begann standesgemäß. Er gewann die Auftaktpartie in scharfem Stil, führte bald 5:2 und schien unantastbar. Euwes Wahl der Französischen Verteidigung gegen 1.e4 erwies sich als Fehler – viermal kam sie aufs Brett, 3½ Punkte holte Aljechin. Doch dann begann die Wende.

Die Rückkehr des Amateurs

Euwe analysierte gründlich, änderte seine Eröffnungen, stellte um auf den Offenen Spanier und spielte gegen 1.d4 das Slawische System. Er begann, mit Weiß in Serie zu gewinnen. Zwischen der 8. und 14. Partie glich er aus – 7:7. Plötzlich war das Match offen, und die Niederländer jubelten ihrem unscheinbaren Doktor der Mathematik zu, der dem genialen Russen Paroli bot.

Aljechin reagierte nervös, wechselte permanent die Eröffnungen, suchte Komplikationen und verlor den Überblick. Das Reisetempo, der Mangel an Ruhetagen und die aufreibende Atmosphäre setzten beiden zu. Fehler häuften sich, spektakuläre ebenso wie groteske. Capablanca kommentierte später bissig: „Das war kein Kampf um Perfektion, sondern ein Kampf um Kondition.“

Von Zandvoort bis zur Krönung

Die 20. Partie markierte die endgültige Wende. Euwe überstand Aljechins Angriff, konterte präzise – ein Musterbeispiel seines nüchternen Stils. Seine 26. Partie, „Die Perle von Zandvoort“, gilt bis heute als sein Meisterstück: positionelles Verständnis, taktische Genauigkeit, psychologische Kontrolle. Nach 26 Partien führte Euwe mit 14:12.

Aljechin bäumte sich noch einmal auf, gewann die 27. Partie, kämpfte bis zuletzt – doch Euwe ließ nichts mehr anbrennen. Vor der 30. Partie bot er ein Remis an, Aljechin lehnte erst ab, erkannte aber bald die Aussichtslosigkeit seiner Stellung. Nach dem 42. Zug erhob er sich, reichte Euwe die Hand – die Niederlande hatten ihren ersten und einzigen Schachweltmeister.

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Schatten und Vermächtnis

Kaum war der Jubel verklungen, begannen Gerüchte zu kreisen. Aljechin, so hieß es, habe getrunken. Zeitgenossen berichteten von „Indispositionen“, von einem verschobenen Spieltag wegen „Unpässlichkeit“. Doch Euwe selbst sagte später: „Er trank nicht mehr als sonst. Viele hielten ihn wegen seines unsicheren Gangs für betrunken – in Wahrheit sah er schlecht und weigerte sich, eine Brille zu tragen.“

1937 kam das Revanchematch, diesmal gewann Aljechin klar. Für viele war das der Beweis, dass Euwes Triumph Zufall gewesen sei. Doch spätere Weltmeister widersprachen: Smyslow, Kasparow und Kramnik betonten, dass nur ein Spieler „von höchster Klasse“ Aljechin besiegen konnte – und Euwe 1935 schlicht der bessere Mann war.

Der stille Reformer

Nach dem Krieg wurde Euwe zum Wegbereiter des modernen Schachs: als Autor von Lehrbüchern, die Generationen prägten, und als FIDE-Präsident (1970–1978), der in der turbulenten Ära zwischen Spassky–Fischer und dem nie zustande gekommenen Karpow–Fischer-Match versuchte, die Weltorganisation auf Kurs zu halten.

Max Euwe starb 1981. Er hatte gegen Lasker, Capablanca, Aljechin, Botwinnik und Fischer gespielt – und blieb doch der bescheidene Lehrer, der das Unmögliche schaffte: den Weltmeister zu stürzen, weil er verstand, dass ein Schachmatch nicht nur eine Frage des Genies, sondern auch der Disziplin ist.

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