„Gravierende Unregelmäßigkeiten und fehlende Transparenz im Auswahlverfahren“ – zu diesem Urteil kommt das französische Olympische Komitee (CNOSF) im Streit zwischen Étienne Bacrot und dem französischen Schachverband (Fédération Française des Échecs, FFE). Bacrot, mit Elo 2637 die Nummer drei Frankreichs, war im August überraschend nicht für die Team-Europameisterschaft nominiert worden. Daraufhin wandte er sich an das CNOSF.

Vetternwirtschaft und/oder Willkür stehen im Raum. Das Komitee gab dem achtfachen französischen Meister in zentralen Punkten Recht und rügte den Verband wegen eines intransparenten und formal fragwürdigen Auswahlprozesses. Die FFE habe keine sportlichen Auswahlkriterien veröffentlicht und ein Verfahren angewandt, das „ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Rolle des Nationaltrainers bei der Teamzusammenstellung“ aufwerfe.
Nach Einschätzung des Komitees wäre die Nominierung anfechtbar – was allerdings hinfällig ist. Die Europameisterschaft läuft längst. Nach vier Runden steht das französische Team mit 6:2 Punkten in der Spitzengruppe. Die an sechs gesetzte Mannschaft tritt in Georgien ohne ihre besten drei Spieler an. Auch Alireza Firouzja und Maxime Vachier-Lagrave fehlen.
FFE-Präsident Éloi Relange erklärte laut der französischen Zeitschrift Europe Échecs bei einer Informationsveranstalutng, die Nominierung liege beim Nationaltrainer Sébastien Mazé, der sie „in voller Unabhängigkeit“ treffe. Maßgeblich seien nicht nur die Elozahlen, sondern Teamgeist, Einsatzbereitschaft und langfristige Entwicklung. Mazé, zugleich Kapitän der Nationalmannschaft, habe sich für jene Spieler entschieden, „die sportlich überzeugen und gut miteinander funktionieren“.
Bacrot schildert den Vorgang anders. Nach seiner Darstellung habe Mazé ihm persönlich gesagt, er selbst hätte ihn ins Team berufen, die Entscheidung gegen ihn sei jedoch „von oben“ gekommen. Diese widersprüchlichen Aussagen stehen im Zentrum der CNOSF-Kritik. Das Komitee beanstandet, es sei nicht nachvollziehbar ist, wer tatsächlich über die Auswahl entschieden hat.
Europe Échecs ist dem Fall nachgegangen. Auf zweimalige Anfrage bekam sie nach eigener Darstellung keine Antwort. Jetzt erst, am 8. Oktober, hat die FFE auf ihrer Website erklärt, sie halte die Rüge für überzogen. Trotzdem kündigte der Verband an, künftig klare Kriterien schriftlich festzuhalten. Um sie besser nachvollziehbar zu machen, sollen diese Kriterien in den „Plan de Performance Fédéral“ aufgenommen werden, den Leistungsplan für Sportverbände, die vom Staat gefördert werden.
Scharf reagierte der Verband auf Äußerungen von Bacrots Anwalt Joël Gautier, der eine finanzielle Entschädigung in Höhe von rund 4500 Euro prüfen will. Solche Forderungen, so die FFE, „entsprechen weder dem Geist des Sports noch den Werten, die die Föderation zu fördern versucht“. Bacrot hält dagegen, er verteidige schlicht seine beruflichen Interessen. Für ihn sei das ausgefallene Honorar ein reales Einnahmedefizit. Gautier kündigte an, notfalls gerichtlich gegen den Verband vorzugehen, sollte keine Einigung erzielt werden.